Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Brüder der Unsterblichkeit
Die Brüder der Unsterblichkeit
Die Brüder der Unsterblichkeit
eBook467 Seiten6 Stunden

Die Brüder der Unsterblichkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Als die beiden jungen Männer sich erstmals gegenüberstehen, glaubt ihnen niemand, dass sie keine Zwillingsbrüder sind. Richard Müller, Rheinländer und Bergmann, Khalid Prasad, Inder ebenfalls Bergmann, sind am selben Tag geboren. Außer ihrem Geburtsdatum und dem gleichen Aussehen gibt es keine weiteren Gemeinsamkeiten. Erst als sie von ihren Déjà-vus berichten, bemerken sie, dass es in vielen Fällen dieselben Situationen sind. Aber aus anderen Blickwinkeln. Ein Freund der beiden Männer bietet sich an, nach Gemeinsamkeiten in der Vergangenheit zu suchen. Sitzt er nur einem gut ausgedachten Scherz auf? Kann er die Wahrheit ans Licht bringen? Er findet schließlich den Vater der beiden. Wird der Vater die Parallelen in den Déjà-vus erklären können? Oder wird er sogar ein altes Familiengeheimnis lüften?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Mai 2021
ISBN9783347320116
Die Brüder der Unsterblichkeit

Ähnlich wie Die Brüder der Unsterblichkeit

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Brüder der Unsterblichkeit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Brüder der Unsterblichkeit - Ulrich R. Grabow

    I. Kapitel Eltern, Familie und Jugend

    Richards Eltern und sein Elternhaus.

    Richards Eltern Josef und Anne waren beide bei Richards Geburt fünfundzwanzig Jahre alt. Beide sind während des Dritten Reiches unter der Herrschaft der Nationalsozialisten geboren worden. Sie waren in ihrer Erziehung beeinflusst von den herrschenden politischen Gegebenheiten. Josef wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bergheim an der Erft geboren. Als erstes und einziges Kind seiner Eltern Max und Traudel Müller geborene Ratz. Anne wurde in einem Vorort von Berlin als drittes Kind ihrer Eltern Franz und Edeltraut Kaminski, geborene Strauch, geboren. Anne sollte noch weitere Brüder und Schwestern bekommen, sodass sie am Ende des Zweiten Weltkrieges insgesamt neun Geschwister hatte.

    Richards Vater wuchs wohlbehütet in dem kleinen Dorf auf, wo er geboren wurde, in einem für damalige Verhältnisse mittelgroßen Haus. Bereits Richards Großvater war Ingenieur in einem großen Bergbau Unternehmen. Für Richards Vater war ein ebensolcher Beruf vorbestimmt worden. Also wurde Richards Vater bereits in der Schule mehr gefordert und gefördert, als es den Gleichaltrigen geboten wurde. Richards Vater ging seit Kindertagen im Betrieb seines Vaters ein und aus. Er kannte den Leiter des Unternehmens, wurde im Tagebau auf den Lokomotiven mitgenommen. Auf den ersten Braunkohlebaggern saß er an den Schalthebeln. Er hatte den Bergbau und den Abbau von Braunkohle bereits mit der Muttermilch aufgesogen. Und wenn Richards Vater nach so einem Tag im Tagebau nach Haus kam, schmunzelte seine Mutter. Sie meinte, er sei von den richtigen Bergleuten nicht zu unterscheiden, wenn da nicht der Größenunterschied wäre.

    Während des Krieges war es für Richards Vater nicht mehr so einfach, sich frei im Tagebau zu bewegen oder sich bei den Ingenieuren aufzuhalten. Da der Betrieb als kriegswichtig eingestuft worden war, galten sehr strenge Zutrittsregelungen und dies wurde auch von bewaffneten Sicherheitskräften penibel überwacht. Dazu kam die latente Gefahr, bei einem Angriff der alliierten Luftstreitkräfte auf das Elektrizitätswerk oder den Tagebau verletzt oder gar getötet zu werden. Richards Vater verbrachte zum Ende des Krieges hin, fast jede Nacht im Luftschutzraum, der im Keller seines Elternhauses eingerichtet worden war. Er hörte das Motorendröhnen der tausend Bomber, die Köln in Schutt und Asche legten. Bei dem Tagesangriff auf Düren schaute er den abdrehenden Bombern hinterher. Mehrfach erlebte er die Tiefflieger, die im Tagebau auf alles schossen, was ihnen lohnend und wichtig erschien.

    Er erlebte die Befreiung vom Nationalsozialismus für sich ebenfalls als Erlösung, die strengen Zutrittsregelungen wurden aufgehoben. Die amerikanischen Soldaten, die zur Bewachung abgestellt wurden, waren allesamt sehr freundlich den Kindern gegenüber und nicht so griesgrämig wie die vorherigen. Richards Vater begann nach Abschluss der Schule eine Lehre als Elektriker. Im selben Betrieb, in dem sein Vater bereits vor dem Krieg gearbeitet hatte. Als Richards Großvater aus der Kriegsgefangenschaft in den Vereinigten Staaten nach Hause kam, stand Richards Vater kurz vor der Gesellenprüfung. Diese bestand er wenige Wochen später mit Bravour. Er arbeitete tagsüber im Tagebau oder im Kraftwerk, je nachdem, wo ein guter Elektriker gerade gebraucht wurde. Die Arbeiten im Tagebau waren ihm lieber als die im Kraftwerk. Im Tagebau war er nicht der Elektriker, sondern der Bergmann. Und es interessierte ihn sehr, wie sich die verschiedenen Erdschichten zusammensetzten und wie sie entstanden waren. Sein Lehrmeister erkannte sein Potential und meinte, er sei zu mehr fähig als nur zum einfachen Elektriker. Also regte sein Meister bei der Geschäftsführung an, Richards Vater auf eine Schule für Bergbau zu schicken, um seine Fähigkeiten in Richtung Bergbau und Geologie weiterzuentwickeln.

    Er wurde an die Bergakademie in der damaligen sowjetischen Besatzungszone nach Freiberg in Sachsen geschickt. Von dort sollte er als Diplom Ingenieur für Bergbau und Geologie zurück in den heimischen Tagebau kommen. Im Alter von nur dreiundzwanzig Jahren kam Richards Vater tatsächlich als Diplom Ingenieur aus Sachsen zurück. Dies musste ausgiebig gefeiert werden, und wo lässt sich solch ein Erfolg im Rheinland besser feiern als zum Start der Karnevalssession in Köln.

    Richards Mutter lebte die ersten Lebensjahre in einem kleinen Haus im Berliner Speckgürtel. Sie hatte in der Nachbarschaft genügend Spielkameraden und Langeweile kam bei ihr nie auf. Die Kolonie, in der sie lebte, war von der herrschenden Partei als Siedlung für parteitreue verdiente Mitglieder der Partei errichtet worden, die zum Aufbau des Dritten Reiches tatkräftig mitgeholfen hatten. Hier wohnten viele kinderreiche Familien. Einige Mütter hatten es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kinder für den Führer zu gebären. Richards Großmutter hatte sich ebenfalls dieser Aufgabe verschrieben und so wuchs die Familie jährlich um ein Mitglied.

    Richards Großvater war ein glühender Bewunderer des Führers. Der Führer hatte ihn nach langer Arbeitslosigkeit Ende der Zwanzigerjahre zurück in Lohn und Brot geholt. Er arbeitete zunächst im Straßenbau. Dort machte er sich rasch einen Namen als Vorarbeiter und guter Parteigenosse. Zusätzlich zu seiner Beförderung im Beruf machte er innerparteilich schnell Karriere.

    Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war Richards Großvater von der ersten Stunde an mit glühendem Eifer dabei. Er gehörte einer Einheit an, die für sogenannte „Säuberungsaktionen" hinter der Front zuständig waren. Durch die jahrelange Indoktrination mit der nationalsozialistischen Rassenlehre und der Lehre vom deutschen Herrenmenschen, beging er skrupellos Morde, er plünderte und brandschatzte, alles in Treu und Glauben, dies alles einzig und allein für Volk und Führer zu machen. Ein Unrechtsbewusstsein für diese Kriegsverbrechen war nicht nur ihm in den Jahren vor dem Krieg aberzogen worden. Als sich das Blatt wendete und die deutschen Truppen den Rückzug antreten mussten, war er auch an Erschießungen von gefangen genommenen Deserteuren beteiligt. In den Monaten vor Ende des Krieges hat er seiner Frau und den Kindern den Befehl erteilt, Berlin in Richtung Westdeutschland zu verlassen. So verlies Richards Mutter sowie die ganze Familie Berlin im Spätsommer 1944 in Richtung Westen. Die erste Station war ein großer Bauernhof in der Nähe von Beckum in Westfalen. Hier kam die Familie bei einem entfernten Verwandten unter. Sie mussten zunächst in einer Scheune übernachten, konnten aber einige Tage später in die Wohnung eines ehemaligen Knechtes umziehen. Als sich die Ostfront im Winter 1944 der deutschen Ostgrenze näherte, kam erneut ein Befehl an Richards Familie, sich noch weiter nach Westen, am besten bis auf die linke Seite des Rheins, abzusetzen. Die Familie gehorchte, packte ihre Habseligkeiten zusammen und zog fast komplett weiter gen Westen. Annes ältester Bruder blieb bei dem Bauern auf dem Hof. Nach einer Woche traf die Familie, zusammengekauert auf der Ladefläche eines alten Lasters, in Xanten am Niederrhein ein. Hier wurde die Großmutter direkt beim hiesigen Parteifunktionär vorstellig und forderte nachdrücklich eine Unterkunft und Verpflegung für die Familie. Ein Hinweis auf die Verdienste ihres Mannes für die Partei als auch ein Telefonat mit einer Dienststelle in Berlin halfen dem örtlichen Parteifunktionär auf die Sprünge. Innerhalb von zwei Stunden war ein Haus für die Familie organisiert worden.

    Doch in Xanten fehlte Richards Großmutter das Flair der großen Stadt, Landleben war nichts für diese weltgewandte Frau. So ging die Reise weiter ins zerstörte Köln. Auch hier war die Familie schnell untergebracht, dank eines Telefonates mit der Dienststelle in Berlin. Das Haus, das bis 1942 einer jüdischen Familie gehörte, war groß genug, um allen Kindern ein eigenes Zimmer zuteilwerden zu lassen. Der große Garten mit altem Baumbestand war in gutem Zustand und insgesamt hielten sich die Schäden durch die Bombardierungen in Grenzen. Richards Großmutter war in den nächsten Tagen viel in der Stadt unterwegs und hatte diverse Anweisungen ihres Mannes umzusetzen. Er hatte die Lage richtig eingeschätzt und bereits Pläne für die Zeit nach dem Krieg gemacht. Innerhalb eines Tages wurde die Familie zum Eigentümer dieses Hauses in Köln-Sülz. Richards Großvater konnte nicht mehr sehen, wohin es seine Familie verschlagen hatte. Er wurde im April 1945 von sowjetischen Soldaten in einem Keller in Berlin gefangen genommen. Seitdem fehlt von Richards Großvater jede Spur.

    In den Jahren nach dem Krieg wurde es allmählich leerer in dem Haus. Annes Geschwister zogen nach und nach aus, weil sie Arbeit in einer anderen Stadt gefunden hatten oder weil sie eine eigene Familie gegründet hatten. Die Familie hatte sich einen guten Namen gemacht in der neuen Heimat. Auch hier waren Telefonate nach Berlin weiterhin sehr hilfreich. Die alten Beziehungen halfen selbst nach dem Krieg noch weiter. Richards Großmutter und seine Mutter bewohnten allein das große Haus, Die Zimmer standen leer, jedenfalls die meisten. Die Schäden, die der Krieg verursacht hatte, waren längst repariert. Niemand fragte nach den Umständen, wie die Familie zu diesem Haus gekommen war.

    Richards Mutter war viel außer Haus in der großen Stadt, meist am Wochenende. Amerikanische Soldaten fernab der Heimat auf der Suche nach Abwechslung und Vergnügen, waren auch zahlreich unterwegs. Und wo lässt sich im Rheinland besser feiern als in der Kölner Altstadt.

    An einem dieser Wochenenden fuhr Richards Mutter Anne in die Kölner Innenstadt, um sich mit ihrer Freundin Maria am Hauptbahnhof zu treffen. Sie gingen vom Bahnhof in die Altstadt in eine Cocktailbar. Dort waren auch sehr viele amerikanische Soldaten anwesend, die in der Nähe von Köln stationiert waren. Unter ihnen viele Piloten. Aus der Musikbox erklangen Lieder von Elvis Presley. Einige Paare tanzten Rock n. Roll zu diesen Klängen aus der Musikbox und einige Soldaten mischten sich dazu auf die Tanzfläche. Sie spielten auf Luftgitarren und bewegten sich wie Elvis Presley. Im Laufe des Abends traute sich Richards Mutter auf die Tanzfläche und probierte zum ersten Mal Rock n. Roll zu tanzen. Da sie allerdings ungeübt war, sah es für die Umstehenden etwas befremdlich aus. Sie ließ sich jedoch nicht entmutigen und mit Unterstützung eines amerikanischen Piloten gelang ihr nach wenigen Minuten ein fast perfekter Tanz. Da es ihr so gut gefallen hatte, tanzte sie weiter mit diesem amerikanischen Piloten. Nach dem Tanz gingen die beiden an die Bar und er bestellte für beide jeweils einen Cocktail.

    Der junge Mann entschuldigte sich bei Anne, weil er sich nicht vorgestellt hatte. Er trat einen Schritt zurück, deutete eine Verbeugung an, reichte ihr die Hand und stellte sich als Ronald Mc Darwin, kurz Ronny, aus Tampa in Florida vor. Sie tanzten noch eine Weile und Anne vergaß auf die Uhr zu schauen, verpasste deshalb die letzte Straßenbahn. Eine Fahrt mit einem Taxi war zu teuer. Zu Fuß durch die Stadt, vorbei an den immer noch zahlreichen Trümmergrundstücken, zu weit und zu gefährlich für die beiden jungen Frauen. Anne fragte nach, ob Ronny, der amerikanische Pilot, sie und ihre Freundin nach Hause fahren könne. Er sagte sofort zu und fragte, wo sie denn wohne. Sie sagte ihm, dass sie in einem Kölner Vorort wohne und die Fahrt dauere höchstens zehn Minuten. Das sei absolut kein Problem, denn ein Freund von ihm sei auch mit dem Jeep hier, entgegnete Ronny. Er und sein Freund werden Anne und ihre Freundin sicher nach Hause bringen. Nachdem diese Frage geklärt war, bestellten sie einen letzten Longdrink für diesen Abend. Die Fahrt durch das nächtliche Köln im offenen Jeep, vorbei an den teils noch zerstörten Häusern, war der jungen Frau sehr unangenehm. Für die Jahreszeit war es ungewöhnlich kalt. Als der junge Amerikaner dies bemerkte, hielt er sofort an und reichte ihr eine dicke Jacke. Richards Mutter dirigierte den Fahrer zu dem Haus, indem sie wohnte.

    Da im Schlafzimmer ihrer Mutter noch Licht brannte, wollte sie ihre Mutter nicht wissen lassen, dass sie mit einem Amerikaner, einem der Feinde des letzten Krieges, zusammen unterwegs war. Ihre Mutter war immer noch den Anschauungen und der Ideologie des Dritten Reiches verhaftet. Anne bat ihn, nicht unmittelbar vor dem Haus zu halten, sondern ein paar Meter weiterzufahren. Der junge Amerikaner war etwas verwundert, dass er nicht direkt vor ihrem Haus halten sollte. Höflich half er der jungen Dame aus dem Auto. Sie bedankte sich gut gelaunt, lächelte ihn an und er fragte, ob sie nächsten Samstag wieder in dieser Bar sei. Sie beantwortete diese Frage nur mit einem freundlichen Lächeln. Dann gab sie ihm die Jacke zurück und verschwand hinter der Hecke, die vor ihrem Haus stand.

    Sie war in der folgenden Woche aufgeregt und sehr nervös, denn sie wollte diesen jungen Amerikaner am nächsten Samstag auf jeden Fall wiedersehen. Zusammen mit ihrer Freundin fuhr sie erwartungsvoll zu dieser Cocktailbar. Vor der Tür standen bereits einige grüne Jeeps. Als die beiden jungen Frauen die Cocktailbar betraten, wurden sie lautstark von allen Anwesenden begrüßt. Ronny, mit dem sie letzte Woche getanzt hatte, kam ihr entgegen, um ihr aus der Jacke zu helfen. Zur Begrüßung spendierte er den ersten Longdrink des Abends. Als aus der Musikbox die ersten Töne der neuen Elvis-Presley-Schallplatte ertönten, gab es für die jungen Leute kein Halten mehr. Die folgenden Stunden vergingen wie im Flug, sie verpassten an diesem Abend ebenfalls die letzte Straßenbahn. Kurz nach Mitternacht wurden die beiden jungen Frauen in den grünen Jeeps nach Hause gefahren.

    Nachdem Anne ausgestiegen war, fragte Ronny, ob er sie Sonntagnachmittag einladen dürfe, zu einer Spazierfahrt. Es würden auch noch andere Kameraden mitfahren. Ohne nachzudenken, sagte sie zu. Gegen 14 Uhr am nächsten Tag stand Ronny mit dem offenen Jeep vor ihrem Haus. Er stieg aus, um seine Begleiterin direkt an der Haustüre abzuholen. Da sie bereits hinter der Haustür auf ihn gewartet hatte, erschrak er, als die Tür sofort geöffnet wurde. In einer Kolonne von zehn Fahrzeugen fuhren sie in ein kleines gemütliches Café im Bergischen Land. Hier gab es köstliche Bergische Waffeln mit heißen Kirschen und viel Schlagsahne oben auf. Auf der Rückfahrt durch Köln wurde an der Cocktailbar ein Zwischenstopp eingelegt. Die jungen Amerikaner sprangen aus ihren Fahrzeugen und besorgten für ihre Fahrgäste und auch für sich etwas zu trinken. Aus den Radios ertönten die neuesten Rock’n’Roll Hits. Da zu dieser Zeit kaum Verkehr auf der Straße herrschte, wurde die Straße kurzerhand zur Tanzfläche.

    Anne hatte sich vorgenommen, den jungen Soldaten am nächsten Sonntag ihrer Mutter vorzustellen. Sie informierte ihn, dass es vielleicht für ihn schwierig werden könnte, denn ihre Mutter habe eine alte politische Meinung. Er brachte sie, wie in den letzten Wochen auch, nach Hause. Er hielt diesmal direkt vor dem Haus. Zum Abschied gab sie ihm einen Kuss auf die Wangen. Sie konnte es kaum abwarten, Ronny ihrer Mutter vorzustellen. Wie verabredet, stand er am folgenden Sonntag pünktlich um 15 Uhr, mit einem großen Blumenstrauß und einer großen Schachtel original belgischer Pralinen, vor der Haustür. Anne, die junge Dame des Hauses, öffnete, bat ihn hinein und führte Ronny durch den großen Flur ins Wohnzimmer.

    Die Hausherrin, der er heute vorgestellt werden sollte, lag vorgeblich mit Migräne in ihrem Bett. Dies war den beiden jungen Leuten, die noch nie allein zusammen waren, sehr recht. Sie tranken Kaffee und genossen den selbst gebackenen Kuchen, erzählten viel von sich und ihren Familien. Anne führte den Gast durch das Haus und zeigte ihm auch ihr eigenes Zimmer, das einzige Zimmer im Dachgeschoss. Es hatte ein Fenster in jede Himmelsrichtung. Wenn man durch das nach Osten gerichtete Fenster schaute, konnte man sogar den Kölner Dom sehen. Das Bett hatte sie bereits aufgeschlagen, sie schloss hinter sich die Zimmertür und zog den jungen Mann auf das Bett. Es wurde ein langer Nachmittag und eine kurze Nacht.

    Diese Besuche fanden von nun an jeden Sonntag statt, zuerst Kaffee und Kuchen, danach die Aussicht auf Köln vom Dachgeschoss. Die Hausherrin hatte jeden Sonntag neue Ausreden, um einem Treffen mit dem jungen Mann auszuweichen. Sie hatte somit nie offiziell erfahren, dass ihre Tochter einen Amerikaner als Freund hatte. Oder sie wollte es nicht erfahren. Nach einigen Wochen stellte Anne fest, dass sie schwanger war. Am folgenden Sonntag wollte sie Ronny mit dieser Nachricht überraschen. Doch diese Überraschung misslang, weil an diesem Sonntag ihre Mutter gesund und vergnügt im Haus umherlief. Als der junge Amerikaner in seiner smarten blauen Uniform wie immer pünktlich um 15 Uhr vor ihrem Haus auftauchte, rannte sie zur Haustür, um ihn abzufangen. Sie erklärte ihm, dass sie sich nicht weiter treffen könnten, weil ihre Mutter schwer erkrankt sei. Sie könne deswegen das Haus nicht mehr verlassen. Sie müsse sich von nun an vierundzwanzig Stunden am Tag um ihre Mutter kümmern. Dies war nicht das, was sie ihm an diesem Nachmittag hatte sagen wollen. Denn einen Amerikaner, einer derjenigen, der das von ihrer Mutter so geliebte Deutschland in Schutt und Asche gelegt hatte, würde ihre Mutter niemals als Vater ihrer Enkel akzeptieren. Aus diesem Grunde verschwieg Anne ihrem Freund, als auch ihrer Mutter gegenüber, die Schwangerschaft. In die Cocktailbar in der Kölner Altstadt ging sie von nun an nicht mehr. Der junge Mann war am Boden zerstört, denn er konnte sich nicht erklären, was er gerade erfahren hatte.

    Die Erklärung für die Schwangerschaft und den verantwortlichen Erzeuger fand sich während der Eröffnung des Kölner Karnevals in einer Sitzung im Gürzenich. Hier lernte Anne einen jungen deutschen Mann kennen, der in das Idealbild ihrer Mutter von einem deutschen Mann passte. Blond, blauäugig und muskulös. Es wurde viel getrunken, gefeiert, getanzt und gelacht. Vorgestellt hatte er sich Anne gegenüber nicht, seine Freunde nannten ihn Josef. Noch am selben Abend nahm Anne diesen Mann mit zu sich nach Hause. Da er betrunken war, fiel er sofort in ihr Bett und schlief seinen Rausch aus. Bis zum nächsten Mittag. Er wusste nicht mehr, unter welchen Umständen er in dieses Bett gekommen war. Anne erzählte ihm eine großartige Geschichte über die letzte Nacht und was er doch für ein toller Mann sei. Nachmittags verschlang er den selbst gebackenen Apfelkuchen. Er blieb noch bis zum späten Abend bei ihr und verabschiedete sich höflich. Und er versprach ihr, sie am nächsten Samstag abzuholen. An diesem Samstag verbrachten die beiden einen weinseligen Nachmittag in der Kölner Innenstadt und die folgende Nacht zusammen in ihrem Zimmer.

    Diese Treffen wiederholten sich die nächsten Wochen. Josef holte sie in Köln-Sülz ab, mit Freunden feierten sie in der Altstadt und anschließend fuhren sie zu ihr nach Hause. Sonntags den Rausch ausschlafen, Kaffee und Kuchen am Sonntagnachmittag, Verabschiedung und der Satz, bis nächsten Samstag. Am Silvesterabend erklärte Anne Josef, dass sie schwanger sei und er, Josef, sei der Vater. Dies war für ihn der Grund, zusammen mit seinen Freunden und einigen Freundinnen ausgiebig ins neue Jahr zu feiern. Ohne Anne. Nun konnte Anne ihrer Mutter gegenüber die Schwangerschaft erklären und ihren deutschen Freund Josef als Vater des Kindes präsentieren.

    Den Kontakt zum leiblichen Vater, Ronny Mc Darwin, hatte sie nicht ganz aufgegeben. Ihre Freundin Maria war die Person, die zwischen Anne und Ronny als Kontaktperson stand. Anne wollte unbedingt persönlich Ronny die Situation erklären. An einem Samstagabend fuhr sie deshalb nochmals zu der Cocktailbar in die Altstadt. Ronny war enttäuscht, als er Annes Worte hörte. Er hatte sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr vorgestellt. Er musste Annes Entscheidung akzeptieren und er sagte zu, sie finanziell zu unterstützen und im Fall des Falles für sie da zu sein. Anne brachte am 4. Juli 1960 im Kölner Hildegardis Krankenhaus einen gesunden Jungen zur Welt.

    Khalids Eltern und sein Elternhaus.

    Khalids Mutter Ajitha erblickte in einem Dorf namens Margaon das Licht der Welt. Ein kleines unbeachtetes Bergdorf an den südlichen Ausläufern des Himalaja Gebirges. Dieses Dorf gehört zur Provinz Uttarakhand, ca. 250 Kilometer nördlich von Neu-Delhi gelegen. Die nächstgrößere Stadt, Dehradun, lag 25 Kilometer westlich. Hier wurde einmal pro Woche ein großer Markt abgehalten und es gab in Dehradun einen Bahnhof.

    Dieses kleine Bergdorf Margaon liegt etwas abseits der einzigen Straße in einem langen Tal. Wenn man dieser Straße in südlicher Richtung folgte, erreichte man nach einem vierstündigen Fußmarsch das Dorf Azalea. Wenn etwas zu transportieren war, auf dem Rücken eines Menschen etwa, dauerte es schon mal zwei Stunden länger. Der Straße in nördlicher Richtung folgend, erreichte man das Dorf Banrija. Dieses Dorf war eine Tagesreise entfernt und führte über Serpentinen, vorbei an schroffen Felsen und tiefen Schluchten. Insgesamt lebten zu der Zeit, als Khalids Mutter geboren wurde, circa einhundertfünfzig Menschen in diesem Bergdorf. Dies geht aus den Aufzeichnungen der ehemaligen Kolonialverwaltung hervor.

    Die Engländer waren in solchen Dingen immer sehr genau. In dieser trostlosen Umgebung wuchs Khalids Mutter auf. Sie besuchte nie eine Schule, machte keine Ausbildung, sondern lernte nur das, was sie zum Leben in dieser kargen Bergwelt benötigte. Wo im Winter die besten Stellen zur Futtersuche für die Ziegen waren, wo im Sommer die besten Weideflächen waren, wo es immer genügend Brennholz zu finden gab, wo im Sommer frische süße Früchte geerntet werden können und wie sie es schaffte, früh am Morgen, eine Herde Ziegen ohne Verluste über schmale Bergpfade, sicher auf die Weiden und spät nachmittags, sicher zurück ins Dorf zu bringen. Sie lebte auf dem kleinen Bauernhof ihres Vaters, sein Name war Girish Prasad. Er bemühte sich redlich, aus ihr eine gute Bäuerin zu machen. Ihre Mutter, Shiva Prasad, starb einige Monate nach Ajithas Geburt an einer Lungenentzündung. Ein Bild von ihrer Mutter gab es nicht, nur die Erzählungen ihres Vaters, wie schön sie ausgesehen hatte. Sie lebte in ihrer kleinen übersichtlichen Bergwelt, hatte kaum Kontakt zu Menschen außerhalb des Dorfes.

    Die Einwohner dieses Dorfes lebten eher schlecht als recht von etwas Ackerbau und der Zucht von Ziegen. Einige hatten sich auf die Herstellung von sehr schmackhaftem Ziegenkäse spezialisiert. Einer von ihnen war Khalids Großvater. Er stellte den besten Ziegenkäse im ganzen Dorf her. Und das Geheimnis für den guten Geschmack, das kannte nur er und seine Tochter. Da seine Tochter die Einzige war, die regelmäßig das Dorf verließ, wusste auch niemand etwas von dieser kleinen besonderen Höhle in den Bergen. Khalids Mutter hatte sie durch Zufall bei der Suche nach einer vermissten Ziege entdeckt.

    In den heißen Wochen während der Sommermonate suchte Khalids Mutter diese Höhle auf. Sie entzog sich hier der brennenden Sonne und um etwas Abkühlung zu bekommen. Zufällig hatte sie ein Stück Ziegenkäse nach einer solchen Pause in dieser Höhle liegen gelassen. Nach einem kleinen Mittagsmahl hatte sie vergessen, es wieder einzupacken. Einige Tage später entdeckte sie dieses Stück Käse wieder, aber es sah anders aus als der Ziegenkäse, den sie bisher kannte. Es hatte sich ein weißer Belag auf dem Käse gebildet und nicht, wie sonst üblich, der grünlichgraue Schimmel, welcher den Käse ungenießbar machte. Sie traute sich erst nicht, ein Stück von diesem Käse zu probieren. Aber schließlich siegte ihre Neugierde. Und sie war sehr überrascht, dass dieser Käse sehr angenehm mild und nicht mehr so streng schmeckte. Das restliche Stückchen packte sie vorsichtig ein und gab es ihrem Vater am Abend zum Kosten. Auch er war angenehm überrascht von dem Geschmack. Von diesem Tage an brachte Khalids Mutter regelmäßig einen Teil der Käseprodukte in diese Höhle, um sie einige Tage später wieder abzuholen. Und durch die Lagerung in dieser Höhle wurde dieser gewöhnliche Ziegenkäse zu einem außergewöhnlichen Ziegenkäse.

    Dieser Käse wurde bis in die Hauptstadt der Provinz verkauft. Innerhalb der Provinzverwaltung waren viele Engländer beschäftigt, die nach dem Ende der Kolonialzeit in Indien geblieben sind. Und in diesem Kreis der Beschäftigten hatte es sich sehr schnell herumgesprochen, welche Delikatesse dieser Käse war. Jede Anlieferung wurde fast komplett aufgekauft, sobald Girish Prasad auf dem Wochenmarkt auftauchte. Wenn die Lieferung einige Wochen ausblieb, wurde ein Beamter der Provinzverwaltung entsandt, sich auf den Weg in dieses kleine Bergdorf zu machen, um für den Nachschub zu sorgen. So wurde auch im Sommer 1959 abermals ein Beamter abkommandiert, um für Nachschub an Käse zu sorgen. Den Beamten, den es diesmal traf, war ein junger Mann, dessen Vorfahren ursprünglich aus Schottland stammten. Sein Name war James Mc Calldon, aber er wurde von allen nur Jamie genannt. Er war nach der Unabhängigkeit Indiens im Lande geblieben, weil in der ehemaligen schottischen Heimat seiner Vorfahren ihn niemand erwartete.

    Die Ländereien seines Clans waren in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg aufgrund verschiedener Erbstreitigkeiten immer weiter zerstückelt worden. Nach dem Ende des Krieges wurden sie komplett aufgeteilt zwischen den zerstrittenen Fraktionen des Clans. Und da er sich nicht aktiv an den Streitereien beteiligt hatte, blieb für ihn nur ein kleines Grundstück in den schottischen Highlands. Es hätte nicht gereicht, sich oder eine Familie über die Runden zu bringen. Also blieb er in Indien, dort hatte er Freunde gefunden, seine Familie hatte vor der Unabhängigkeit gute Kontakte in die Verwaltung. Sie genoss ein hohes Ansehen innerhalb der Bevölkerung. Dies waren für ihn die Gründe, nach der Unabhängigkeit weiter in Indien zu bleiben. Missmutig machte sich dieser Beamte auf die beschwerliche Reise, vorbei an Reisfeldern, über staubige Landstraßen und schließlich die letzten Kilometer auf dem Rücken eines Esels bis in dieses Bergdorf.

    Drei lange Tage war der Beamte unterwegs in diese vergessene Bergwelt. Dann standen noch die Verhandlungen mit den Bauern an. Diese konnten wegen der fehlenden Kenntnis der englischen Sprache länger dauern. Einig wurde man sich immer. Danach musste der Käse noch für den dreitägigen Transport in die Provinzhauptstadt sicher verpackt werden. Bei diesem Besuch lernte dieser Beamte auch Khalids Großvater kennen. Er wurde in das bescheidene kleine Haus eingeladen, damit er auch den besten Käse des Dorfes probieren konnte. Er zögerte, in den Käse zu beißen, denn diese Sorte Käse war ihm vollkommen unbekannt. Erst als der Hausherr ein Stück probierte, traute sich der Beamte ebenfalls.

    In diesem Moment betrat Khalids Mutter den Raum und der Beamte war sprachlos. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer so hübschen jungen Frau hier oben in den Bergen. Der Beamte zahlte, ohne zu zögern den geforderten Preis für den Käse, ließ sich den gesamten Vorrat sicher verpacken. Bei der Verabschiedung meinte der Beamte, er werde in einigen Wochen wieder vorbeikommen, um wieder diesen köstlichen Käse zu kaufen. Was er aber nicht sagte, er wollte unbedingt Khalids Mutter wiedersehen und auch näher kennenlernen.

    Wie versprochen, erschien dieser Beamte ein paar Wochen später wieder in dieses kleine Bergdorf, damit der Nachschub an diesem köstlichen Käse für die Provinzverwaltung gesichert wurde. Diesmal dauerten die Verhandlungen lange. Die Bauern konnten wegen der anhaltenden Dürre in diesem Sommer nicht so viel Käse herstellen, wie sie gerne verkauft hätten. Für den Rückweg am selben Tag war es zu spät geworden. Und in der Dunkelheit über enge Bergpfade war es für einen Fremden zu gefährlich. Khalids Großvater lud ihn also ein, die Nacht in seinem Haus zu verbringen. Natürlich nicht ohne Hintergedanken. Khalids Großvater hatte gute Geschäfte im Hinterkopf, der Beamte die Tochter des Hauses. Es wurde ein langer Abend, Khalids Großvater redete auf den Beamten ein, doch dieser hatte nur Augen für die Tochter des Hauses. Diese Besuche fanden nun regelmäßig statt.

    Der Beamte wurde immer herzlich empfangen in dem Bergdorf, die Geschäfte liefen gut und der Kontakt zwischen Khalids Großvater und dem Beamten wurde sehr freundschaftlich. Khalids Großvater hatte jetzt nicht nur die guten Geschäfte im Kopf, er hatte auch noch seine hübsche Tochter zu verheiraten. Und was lag näher, als Geschäft und Familie gewinnbringend miteinander zu vereinen. Also bat er den Beamten, bei seinem nächsten Besuch etwas mehr Zeit einzuplanen, damit seine Tochter dem Beamten das Geheimnis seines Käse anvertrauen könnte. Er sollte sich auf eine längere Wanderung in die Berge vorbereiten.

    Der Beamte kam einige Wochen später und hatte mehr Zeit für seinen Aufenthalt eingeplant. Nachdem die üblichen Geschäfte abgeschlossen waren, schickte Khalids Großvater seine Tochter mit dem Beamten in die Berge. Sie sollte ihm die Höhle zeigen, in der sein berühmter Käse das besondere Aroma bekam. Die beiden machten sich kurz nach Mittag auf den Weg. Sie vorweg und er hinter ihr, zumindest auf den schmalen Pfaden, auf den breiteren Wegen gingen sie nebeneinander. Sie hatte während der vergangenen Besuche bereits einige Brocken Englisch gelernt und dies wurde nun weiter fortgeführt. Er brachte ihr sehr geduldig einige Sätze des täglichen Lebens bei, sprach viel über seine schottischen Vorfahren, über Schottland und die Berge dort, über seine Familie und seine Zukunft. Sie hörte zu, lächelte und nickte ihm zu, obwohl sie nicht alles verstand. Dies lag zum einen an der Sprache an sich, aber auch an dem Dialekt, den der Beamte nicht verbergen konnte. Seine Eltern hatten ihm neben der offiziellen hochenglischen Sprache auch die Sprache seines Clans aus den Highlands gelehrt. Gälisch mit einem betont rollenden R war selbst für Engländer schwer zu verstehen.

    Das Ziel, die Höhle zu erreichen und abends wieder im Dorf zu sein, mussten sie aufgeben. Sie hatten sich zu lange mit der Erkundung der Höhle aufgehalten. Also saßen beide am Ausgang der Höhle und schauten in Richtung Sonnenuntergang. Die engen Bergpfade waren bei Dunkelheit auch für die einheimischen Bergbauern nicht gefahrlos zu begehen. Sie blieben am Ausgang der Höhle, sie sammelte Feuerholz für die Nacht, er erlegte ein Kaninchen, was sie gemeinsam als Abendessen verspeisten. Am nächsten Morgen machten sie sich kurz nach Sonnenaufgang auf den Rückweg ins Dorf.

    Hier wurden die beiden erwartet, doch leider nicht so, wie sie es sich gedacht haben. Die Bauern waren sehr aufgebracht, böse und feindselig den beiden gegenüber. Wie konnte sich ein englischstämmiger Beamter, der nach der Unabhängigkeit Indiens im Land verblieben war, das Recht rausnehmen, eine Nacht mit einer unverheirateten Frau zu verbringen. Zu sehr waren noch der Hass und die Wut auf die ehemaligen Kolonialherren zu spüren. Der freiwillig in Indien verbliebene Beamte der Provinzverwaltung bekam dies nun zu spüren. Die Unabhängigkeit lag zwar schon einige Jahre zurück, aber die alten Wunden waren noch nicht ganz ausgeheilt. Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, belud der Beamte seinen Lastesel, zahlte für die von ihm gekauften Waren einen weitaus höheren Preis als vereinbart. Dann zog der Beamte ohne ein weiteres Wort mit seinem Packesel in Richtung Provinzhauptstadt davon. Es herrschte ein eisiges Klima in diesem Bergdorf und in derselben Nacht brachte der erste Wintersturm den ersten Schnee. Von diesem Tag an kam kein Beamter mehr in dieses Bergdorf, die Geschäfte mit der Provinzverwaltung kamen zum Erliegen. Aber das waren nicht die einzigen Folgen, die nach diesem Tag zu spüren waren.

    Khalids Mutter fühlte, dass sich etwas in ihrem Bauch verändert hatte. Im Frühsommer des Jahres 1960 war für alle sichtbar, sie war schwanger. Geschwängert von einem ehemaligen Kolonialherren. Dies brachte die Volksseele erneut zum Überkochen. Nun wurde sie auch noch verantwortlich gemacht für die schlechte wirtschaftliche Lage des Dorfes. Mit Schimpf und Schande wurde sie aus dem Dorf verjagt und sie konnte nur noch schnell ein paar Habseligkeiten zusammenraffen. Dann verschwand die junge Frau, ohne einen Blick zurückzuwerfen, über einen der verschlungenen Bergpfade.

    Wo sollte eine junge schwangere Frau hingehen? Wovon sollte sie leben? Sie und ihr ungeborenes Kind? Eine Nachfrage bei der Provinzverwaltung ergab, James Mc Calldon ist von der letzten Tour in die Berge nicht mehr zurückgekehrt. Am Bahnhof bestieg sie einen leeren Güterwaggon, um sich auszuruhen und nachzudenken. Nach einer mehrtägigen Irrfahrt in diesem Güterwaggon wurde sie schließlich in Mumbai kurz nach Sonnenaufgang von einem Angestellten der Eisenbahngesellschaft aus diesem Waggon geholt.

    Nun stand sie an einem der Gleise in einer fremden großen Stadt, nur mit einem Bündel ihrer Habseligkeiten, voller Verzweiflung und mit einem Baby in ihrem Bauch. Das Einzige, was sie im Dunst der Großstadt ausmachen konnte, waren einige selbst gebaute Behelfsunterkünfte aus Wellblech. Sie machte sich auf den Weg in Richtung der Hütten, je näher sie kam, desto mehr von diesen armseligen Behausungen konnte sie erkennen. Sie war in Dharavi angekommen, einem der größten Slums Indiens. Dieser Ort sollte ihre Heimat für die kommenden Jahre werden. Sie fand am selben Tag noch eine Anstellung in einer Textilfabrik und am selben Tag nach Feierabend noch ein kleines, schäbig eingerichtetes Zimmer zum Übernachten. Nachdem sie sich einigermaßen eingelebt hatte, gebar sie am 4. Juli 1960 im Pausenraum der Textilfabrik einen kräftigen, gesunden Jungen. Khalids Mutter war zum Zeitpunkt, als Khalid geboren wurde, 23 Jahre alt.

    Khalids Vater hat nie erfahren, dass er Vater geworden war. Sein Lastesel wurde nach der Schneeschmelze im Frühjahr 1960 am Grund einer Schlucht wenige Kilometer von Ajithas Heimatort gefunden. Der Esel war wegen der eisigen Temperaturen nach Monaten unter einer dicken Schneedecke gut erhalten, ebenso die Kisten mit dem Ziegenkäse. Von James Mc Calldon fehlte jede Spur.

    Richards Geburt

    Richard wurde am 4. Juli 1960, einem Donnerstag, als erstes Kind in der Ehe von Josef und Anne geboren. Er erblickte um 15: 30 Uhr das Licht der Welt im Kreißsaal des St.-Hildegardis-Krankenhauses in Köln-Sülz. Es war keine schwere Niederkunft, eine Geburt ohne Komplikationen. Seine Mutter wurde am Vormittag desselben Tages in dieses Krankenhaus eingeliefert, weil es der Hebamme zu gefährlich für eine Hausgeburt erschien. Sie hatte fälschlicherweise eine Steißlage des Babys im Mutterleib angenommen. Dies wurde jedoch sofort nach der Einlieferung durch eine Röntgen Untersuchung widerlegt.

    Sein Vater durfte bei der Geburt nicht anwesend sein, es war zu dieser Zeit unüblich und es widersprach den Hygienevorschriften. Sofort nach der Geburt wurde Richard untersucht, gemessen und gewogen, in warmem Wasser gebadet und anschließend mit Baby Öl eingerieben. Nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren, wurde Richard in einen kleinen Rollwagen für Babys gelegt, zugedeckt und dann neben dem Bett seiner Mutter abgestellt. Erst jetzt durfte seine Mutter den Junior in Augenschein nehmen. Sein Vater musste noch warten, bis sein Sohn in den Baby Raum geschoben wurde. Hier wurde ihm der Sohn von einer Krankenschwester hinter einer Glasscheibe präsentiert. Von einer anderen Krankenschwester wurde ihm die Geburtsmitteilung ausgehändigt. Diese musste er nun innerhalb von 14 Tagen dem Einwohnermeldeamt vorlegen und anschließend wurde ihm die Geburtsurkunde ausgehändigt.

    Erst mit der Erstellung dieser Geburtsurkunde war amtlich festgestellt worden, dass es einen neuen Menschen auf der Erde gab. Dann musste sein Vater noch einen Termin für die Tauffeier des neuen Erdenbürgers mit dem Pfarrer der örtlichen katholischen Gemeinde ausmachen. Da das Jahr 1960 ein außergewöhnlich geburtenstarkes Jahr war, konnte Richards Taufe nicht zum Wunschtermin der Eltern stattfinden, sondern am einzig freien Termin des Pfarrers. Am Vormittag des nächsten Dienstages um 11 Uhr sollte die Taufe stattfinden. Weil dieser Termin sehr kurzfristig war, konnten nicht, wie sonst üblich, alle Mitglieder der Familie anwesend sein. Es wurde ein schlichtes Fest im kleinen Kreis. Sein erster Vorname, Ulrich, wurde vom Vater, sein zweiter Vorname, Richard, wurde von der Mutter festgelegt. Es waren die Vornamen der Großväter.

    Khalids Geburt

    Khalid wurde ebenfalls an diesem Donnerstag geboren. Seine Mutter Ajitha war nicht verheiratet worden. Sie wurde während der Schwangerschaft aus ihrem Dorf vertrieben und sie musste sich fortan selbst um ihr Leben kümmern. Khalid erblickte das Licht der Welt auf einem Tisch im Pausenraum einer Fabrik für Leder- und Textilwaren, während seine Mutter eine kurze Pause machen musste. Es war eine leichte und schnelle Niederkunft. Seine Mutter brauchte nicht mehr als drei Presswehen, um ihren Sohn zu gebären. Ein Arzt oder eine Hebamme war nicht zur Stelle. Nur eine ältere Kollegin, die zufällig an diesem Pausenraum vorbeikam und die Situation richtig erkannte. Sie befreite Khalid vom Blut, durchtrennte die Nabelschnur und wickelte Khalid in ein grobes Laken. Dann gab sie das Baby an seine Mutter. Ein amtlicher Nachweis über die Geburt wurde zu keiner Zeit ausgestellt und die Geburt wurde nie amtlich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1