Papa im Schuhkarton: Aufwachsen zwischen Krieg und Frieden - Biografische Erzählung
Von Klaus Jost
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Über dieses E-Book
Der Erzähler schildert einen prägenden Teil seiner Lebensgeschichte. Sie beginnt mit seiner Geburt unter den Verheerungen und dem Chaos des Krieges, dem die schwangere Mutter zu entfliehen sucht. Er macht sich auf zu den Orten widersprüchlicher Erfahrungen, des Abenteuers im zerbombten und besetzten Frankfurt, des Erlebens von Gewalt im Erholungsheim und im kirchlichen Internat. Die frühe Kindheit ist bestimmt von der Beziehungssuche, dem Warten auf den
unbekannten Vater, der erst spät aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt. Der Krieg und seine Folgen haben alles verändert. Das Familienleben ist schwierig. Der ältere Bruder scheitert. Klaus, der den verschollenen Vater zunächst nur phantasiert hat, erlebt ihn real lange als fremd. Es existiert dauerhaft große Distanz zwischen beiden, bis eine tödliche Erkrankung eine Wende bringt.
Eine biografische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, erzählt von einem Psychologen.
Klaus Jost
Klaus Jost, Dr. phil., Dipl.-Psych., geboren 1944, arbeitete über zwei Jahrzehnte an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Frankfurt am Main, anschließend als Leiter einer Psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche. Er war lange Jahre Lehrbeauftragter an der Universität und Fachhochschule in Frankfurt, zuletzt bis 2017 Dozent am Ketteler-Krankenhaus in Offenbach. Themen seiner Bücher: Depression, Suizidalität, Ursachen von Aggression und Gewalt, Straftäterbegutachtung.
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Papa im Schuhkarton - Klaus Jost
Klaus Jost
Papa im Schuhkarton
Aufwachsen zwischen Krieg und Frieden
Biografische Erzählung
Logo_LehmannsMediaMeinem Vater,
in Dankbarkeit, dass wir
uns nicht verloren haben.
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© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2020
Helmholtzstr. 2-9
10587 Berlin
Umschlag: Bernhard Bönisch
Satz & Layout: LATEX Volker Thurner, Berlin
ISBN 978-3-96543-186-7 www.lehmanns.de
1
Vor meiner Zeit
Meine Großmütter Friederike und Katharina erzählten oft, wie sehr ich mich als Vierjähriger unter nachdrücklichem Hinweis auf die Verhältnisse in anderen Familien darüber beklagte, noch nicht einmal einen Opa zu haben, wo doch andere Kinder sogar mit zwei Opas aufwarten könnten.
Beide Großväter haben zwar den verheerenden ersten Weltkrieg überlebt, kommen aber krank in ihre Heimatstadt Frankfurt (Main) zurück. Opa Peter (von Beruf Prokurist einer Bootsbaufirma) stirbt 1927 mit 49 Jahren, wie es heißt, an einer „Geschwulst zwischen Herz und Lunge". Opa Wilhelm (von Beruf Buchbinder) stirbt 1933 mit 51 Jahren an einer nicht behandelbaren, chronischen Lebererkrankung – im Zustand einer anhaltenden Gelbsucht.
Meine Mutter Elly ist zum Zeitpunkt des Todes ihres Vaters Peter 17 Jahre, ihre Schwester Magda 11, die beiden Brüder Hans und Karl 14 bzw. 20 Jahre alt. Fritz, der Zwillingsbruder von Magda, war noch während des Krieges 1918 im Alter von 3 Jahren an Unterernährung und infolge anhaltender epileptischer Anfälle in einem status epilepticus gestorben. Wie nicht wenige frühe Witwen der damaligen Zeit meistert Oma Katharina – mit Unterstützung einer Haushaltshilfe und Tochter Elly – den Alltag mit ihren vier Kindern in bewundernswerter Weise. Sie erbaut sogar 1936 ein vierstöckiges Wohnhaus in der Neuhaußstraße, im heutigen Frankfurter Stadtteil Nordend-Ost, gemäß ihren eigenen Vorstellungen. Sie lebt darin wohl die ihr gegebenen „Architektengene" aus. Ein Vorfahr von ihr war, so wird überliefert, an der Erstellung des Heusenstammer Schlosses beteiligt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Katharina nicht selbst den Fortgang der Bauarbeiten an ihrem entstehenden Haus kontrollierend in Augenschein nimmt. Verwundert reiben sich Handwerker die Augen, wenn sie das Gerüst besteigt und sich auf diesem recht sicher fortbewegt – trotz ihrer Leibesfülle, die sie aufzuweisen hatte. Finanzieren kann sie den Neubau letztlich durch den Verkauf eines älteren, selbst genutzten Mietshauses in Frankfurt-Sachsenhausen. Dessen Erwerb war seinerzeit durch ihren Erbanteil an einer in Erbach im Taunus gelegenen Holz verarbeitenden Schneidmühle meiner Urgroßeltern möglich geworden. In dieses Mietshaus in der Schwanthalerstraße ziehen 1928 auch meine Großeltern väterlicherseits ein mit den Söhnen Erwin und dem 18-jährigen Willy, meinem späteren Vater.
Elly und Willy, beide gleich alt, treffen sich mitunter im Hausflur, wenn es darum geht, Kohlen aus den Kellerräumen zu holen, mit denen im Winter die Öfen in den Wohnungen gefüllt werden mussten, um die nötige Wärme zu entwickeln. Anfangs begegnen sie sich höflich-distanziert, wie sich dies damals gehörte. Nach Abschluss der Lehre als Modistin und Hutmacherin unterstützt Elly ihre Mutter in der Haushaltsführung und in der Sorge um die jüngeren Geschwister. Nicht zuletzt aufgrund ihrer streng katholischen Erziehung fühlt sie sich angehalten, sich ein zu frühes Interesse am anderen Geschlecht zu versagen. Hinzu kommt, dass sie sich mit Gedanken trägt, zu gegebener Zeit vielleicht in ein Kloster der Benediktinerinnen einzutreten und als Nonne zu leben. Ich bin dankbar, dass sie von dieser Vorstellung schließlich abgerückt ist. Mein Vater Willy trug sicher seinen Teil dazu bei.
PICHaus in der Schwanthalerstraße, in dem die Familien meiner Eltern seit den 1920er Jahren wohnten; Elly und Willy lernen sich dort kennen.
Es bleibt denn auch nicht bei den distanzierten Begegnungen. Die Treffen von Elly und Willy im Kellergeschoss geschehen zunehmend weniger zufällig, sind aber zeitlich sehr limitiert, um keinen wie auch immer gearteten Verdacht aufkommen zu lassen. Willy ist es wohl, der seinem Interesse an Elly Ausdruck verleiht. Sie sorgen schließlich beide dafür, sich näher kennenzulernen, sie sprechen über Themen zu Berufstätigkeit, Freizeitinteressen und religiösem Leben in der katholischen Kirche. Besuche meines Vaters in der Wohnung von Ellys Familie dürfen jedoch nur stattfinden, wenn entsprechend den Vorstellungen von Katharina eine „Aufsicht vorhanden ist. Ein Alleinsein der beiden hätte Großmutters äußerste Missbilligung erfahren. Voreheliche Beziehungen waren undenkbar. Man hatte nach den Geboten der katholischen Kirche „rein in die Ehe zu gehen
. Welche Zeiten! Sie liegen noch gar nicht so lange zurück.
Ein in Braunau (Oberösterreich) geborener, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammender und in der Ausbildung zum Kunstmaler gescheiterter Mann namens Adolf Hitler wird im Juli 1921 Vorsitzender der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Nach einem missglückten Putschversuch 1923 und einer vorübergehenden Inhaftierung strebt Hitler schließlich nicht mehr durch Revolution, vielmehr auf legalem Weg zu politischer Macht. Die Unzufriedenheit über die Versailler Verträge, die Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929, verbunden mit einer hohen Zahl von Arbeitslosen, spielen ihm in die Hände. Die NSDAP wird schließlich stärkste Partei und Hitler vom Reichspräsidenten Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Hitler ist am Ziel. Die Partei mit ihren Untergliederungen versucht, Andersdenkende mundtot zu machen. Sogenannte Säuberungsaktionen betreffen auch Kunst und Kultur, deren Werke als „zersetzend" diffamiert werden.
PICSeptember 1933. Elly und Willy allein auf einer ihrer geliebten Fahrradtouren im Taunus.
Am 10. Mai 1933 werden Erich Kästner und andere auf dem Berliner Opernplatz Zeugen des Spektakels, wie die Nazis Bücher und Schriften bekannter Autoren ins Feuer werfen und öffentlich verbrennen. Goebbels nennt die Namen vieler Schriftsteller, Heinrich und Thomas Mann, Franz Werfel, Bert Brecht, Stefan Zweig, Franz Kafka, Heinrich Heine, Erich Kästner, Sigmund Freud u. a. Etwa zeitgleich werfen deutsche Studenten in allen Universitätsstädten (u. a. in München, Dresden, Breslau und Frankfurt am Main) tonnenweise Bücher „wider den undeutschen Geist ins Feuer. Betroffen sind hunderte Autoren. Der in Szene gesetzte Vernichtungsablauf findet unter teils großen Begeisterungsrufen der zuschauenden Menschenmenge statt, die das Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch ….
), die offizielle Hymne der NSDAP, singt. Mit dem Ermächtigungsgesetz, mit dem sich der Reichstag selbst matt setzt, kann Hitler alle Gegner und Oppositionelle ausschalten. Nach Hindenburgs Tod 1934 vereint Hitler als Reichskanzler und Führer schließlich alle Macht auf seine Person.
Trotz der ungewissen Zeiten und der Unsicherheiten im Hinblick auf die weiteren Absichten Hitlers geht das alltägliche Leben seinen üblichen Gang. Elly und Willy, beide jugendbewegt und kirchengebunden, unternehmen viele Wanderungen und Fahrradtouren in Gruppen mit gleichgesinnten jungen Leuten. Im Freundeskreis und in den Familien sind die Machtergreifung der Nationalsozialisten und deren mögliche politische Absichten zwar immer wieder Gesprächs- und Diskussionsthema. Befürchtungen auch eines möglichen Krieges werden aber in Schach gehalten in der Hoffnung, dass sich Hitler nicht lange an der Macht halten werde und eher politisch gemäßigte Kräfte an Einfluss gewinnen werden.
Welch ein Irrtum!
2
Es kommt vieles anders
In der Familie meiner Mutter Elly herrscht ein reges Kommen und Gehen. Man hat ein offenes Haus. Ihr geliebter Bruder Karl schließt sein Studium der Philosophie und Pädagogik an den Universitäten München, Frankfurt am Main, Paris und Bonn im Jahr 1929 mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Studienfreunde sind oft zu Besuch. So auch der junge, 26-jährige Leo, der Volkswirtschaft studiert und mit seiner Dissertation befasst ist. Leo interessiert sich für Elly und bringt dies auch zum Ausdruck. So kommt es, dass sich beide öfter zu gemeinsamen Spaziergängen verabreden, am liebsten an den Flussufern des Mains. Besonders reizvoll ist für sie das Laufen am Wasser im Licht der langsam untergehenden Abendsonne. Als eines Tages Leo die Initiative ergreift und die Sprache auf eine mögliche gemeinsame Zukunft bringt, erklärt Elly, nicht heiraten zu wollen. Sie befasse sich noch immer mit dem Gedanken, vielleicht in ein Kloster einzutreten. Aber da gibt es ja auch noch Willy!
Einige Monate später: Auf einer Zugreise mit ihrem älteren Bruder zum französischen Wallfahrtsort Lourdes erklärt Karl seiner Schwester kurz vor der Ankunft in Paris, er habe ihr von Leo Grüße auszurichten. Leo habe sich inzwischen für eine andere Frau entschieden. Er sei sogar bereits verlobt. Elly ist gekränkt, dies nicht von Leo selbst erfahren zu haben, muss sich aber – in Tränen aufgelöst – eingestehen, ihm ja keinerlei Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gemacht zu haben. Die Sehenswürdigkeiten und die Atmosphäre von Paris sowie die eindrucksvollen Erlebnisse am Wallfahrtsort Lourdes lenken von der Kränkung ab.
Zurück in Deutschland, bahnt sich 1935 ein ereignisreiches Jahr an. Das Abklingen der Weltwirtschaftskrise und der Rückgang der Arbeitslosigkeit wird vom nationalsozialistischen Regime als dessen Erfolg verkauft. Hitler bekommt Zulauf, auch von früheren politischen Gegnern. Die Gleichschaltung funktioniert, die politische Opposition hat keine Stimme mehr. Der Rassenwahn findet nicht nur im Boykott jüdischer Geschäfte, sondern auch in den Nürnberger Gesetzen von 1935 seinen Niederschlag, u. a. im Verbot von Eheschließungen zwischen Juden und Ariern.
Privat hat sich Elly von der empfundenen Zurückweisung durch Leo erholt. Treffen und gemeinsame Unternehmungen mit Willy tragen dazu bei. Sie vertiefen zugleich auch die Gefühle der beiden zueinander. Die Vorstellung von einem klösterlichen Leben ist für Elly jetzt kein Thema mehr. Beide sprechen schließlich von Heirat. Im Februar 1935 verloben sie sich. Sechs Monate später heiraten sie standesamtlich, tags darauf findet die kirchliche Trauung im Rahmen eines Brautamtes in der Frankfurter Bonifatiuskirche statt. Ordnung muss sein! Gleich zu Beginn der Messe, an der die Verwandten, aber auch eine beachtliche Zahl von Bekannten der beiden Familien teilnehmen, erschrecken nicht wenige Kirchenbesucher durch ein plötzliches lautes Aufschreien der erschütterten und weinenden Schwiegermutter Friederike. Mutter erzählt später, dass sie sich in diesem Moment ausgesprochen „schlecht vorgekommen sei, „wie eine Diebin
, die der Mutter ihren Sohn weggenommen habe. Offenbar ist auch der Pfarrer, der zuvor in der Kirche ein Requiem abgehalten hatte, durch den weinenden Aufschrei von Großmutter Friederike beeindruckt. In seiner Begrüßung der versammelten Gemeinde formuliert er denn auch: „Liebes Brautpaar, liebe Trauergemeinde!" Nicht zuletzt durch die erstarrten Gesichter des Brautpaares und die anschwellende Unruhe in Reihen murmelnder Kirchenbesucher bemerkt er sogleich den lapsus linguae, entschuldigt sich mit hochrotem Kopf und erklärt kurz, wie ihm dieser Versprecher unterlaufen konnte. Die nun aufkommenden erheiterten Reaktionen erlauben auch dem Brautpaar, jetzt wieder relativ entspannt zu sein. Der Hochzeitstag findet in einer ausgelassenen Feier mit der Verwandtschaft, vielen Freunden und Bekannten einen guten Abschluss. Eine Hochzeitsreise des Paares ist für einen späteren Zeitpunkt geplant.
Elly und Willy beziehen im September 1935 ihre erste gemeinsame Wohnung in der Bülowstraße, im Gutleutviertel von Frankfurt, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. Auch Großmutter Friederike vollzieht nach dem Auszug beider Söhne nun einen Wohnungswechsel von der Schwanthalerstraße in den Grethenweg, bleibt damit aber in ihrem geliebten Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. Mein Vater arbeitet als gelernter Kaufmann bei Felina, einer Textilfirma zur Unterwäscheherstellung, die Mutter als Modistin. Sie entwirft elegante Damenhüte und fertigt sie auch den speziellen Wünschen der Kunden entsprechend an, überwiegend in Handarbeit. Mit „Kraft durch Freude (KdF), einer seit 1933 bestehenden, nationalsozialistischen Organisation, die der deutschen Bevölkerung Freizeit- und Reiseangebote macht, unternehmen Elly und Willy im Urlaub Fahrten innerhalb Deutschlands, vorwiegend nach Bayern, zu den verschiedenen Seen und Gebirgsorten. Sie treffen bei diesen Fahrten auf Leute, die sie offensichtlich politisch indoktrinieren wollen, lernen aber auch neue Freunde kennen, mit denen sie dauerhaft im Kontakt bleiben. An Wochenenden sind sie regelmäßig mit ihren Rädern auf Tour, im Taunus, Spessart oder Odenwald. Hierbei kann Willy auch seinem Hobby des Fotografierens mit seiner Agfa Billy nachgehen. Es ist eine Kamera aus den 1930er Jahren, deren Objektivstandarte in der Art einer Ziehharmonika aus dem Gehäuse herausgeklappt wird. Mit einem Rollfilm bestückt, werden nach der Entwicklung in einem Labor Schwarzweißbilder, meist im Format 6 x 9 cm gefertigt. Willy fotografiert die Orte und deren Sehenswürdigkeiten, an denen sie sich aufhalten. Sein Lieblingsmotiv ist Elly, die bei vielen Bildgestaltungen dann auch den „Vordergrund
darstellt – die eigentliche Sehenswürdigkeit. Im Gegensatz zum heutigen inflationären Fotografieren erfolgte dies früher besonders, um ganz bestimmte Gegebenheiten und Lebenssituationen im Bild festzuhalten und so das Gedächtnis daran zu unterstützen, sodass das spätere Erinnern leichter fiel und mit Hilfe der Bilder Schilderungen anschaulicher wurden. Fotos waren ein Indiz für die Erinnerungswürdigkeit dessen, was in ihnen festgehalten wurde.
Elly und Willy haben Pläne für die Zukunft. Sie richten sich in ihrer Dreizimmerwohnung zeitgemäß ein, auch mit einzelnen alten Möbelstücken aus den Herkunftsfamilien in einem wunderschön glänzenden Kirschholzrot. Die Zimmeraufteilung folgt einem frühen gemeinsamen Kinderwunsch. Elly durchlebt denn auch ab Herbst 1936 eine weitgehend komplikationsfreie Schwangerschaft. Das Paar ist voller Erwartung auf die bevorstehende Geburt. Unwissend im Hinblick auf das Geschlecht – Ultraschalluntersuchungen gibt es ja nicht – freuen sich beide, bald eine Tochter oder einen Sohn in den Armen halten zu können. Ohne es auszusprechen, wünscht sich Vater eher eine Tochter.
1937 ist es so weit, mein Bruder Helmut ist der Erstgeborene. Er ist ein Kind mit Engelsgesicht, das bald eine zunehmend vollere, hellblonde Lockenpracht entwickelt, sodass Bekannte und Passanten auf der Straße die Mutter ansprechen und auch den Jungen durchaus noch längere Zeit für ein Mädchen halten. Äußerungen wie „Du bist aber ein hübsches Mädchen!" quittiert der kleine Helmut stets mit einer Entgleisung seiner ansonsten durchaus Freundlichkeit ausdrückenden Gesichtszüge und einem Einsatz von Weinen, das in Schreien übergeht. Mutter ist deshalb bemüht, derartige irrige Fremdeinschätzungen sogleich zu korrigieren, den Jungen zu beruhigen und so auch sein durchdringendes Schreien, das die Aufmerksamkeit anderer auf sie lenkt, zu beenden. Helmuts frühe Entwicklung offenbart ein lebhaftes Temperament. Die ersten Lauf- und Sprechversuche bereiten den Eltern große Freude und lösen in seiner Umgebung auch Heiterkeit aus. Vater Willy verbringt so viel Zeit wie irgend möglich im Spiel mit seinem Sohn. Zu den Wochenenden werden Verabredungen mit befreundeten Familien und deren Kindern getroffen, um Ausflüge in den Taunus oder Spessart zu unternehmen. Doch in der vermeintlich heilen Familienwelt sollte bald vieles anders werden.
PIC1940. Tage vor dem Marschbefehl nach Frankreich Anfertigung einiger Bilder der jungen Familie beim Fotografen. Die Eltern mit Helmut, dem Erstgeborenen (3 Jahre).
Den persönlichen Vorstellungen und Träumen von Elly und Willy stehen zunehmend Alarmzeichen in Politik und Gesellschaft entgegen. Schutzstaffel (SS) und Geheime Staatspolizei (Gestapo) verüben – meist noch verdeckt – Gewalttaten. Nachts kommt es zur Zerschlagung von Schaufenstern jüdischer Geschäfte. Die Polizei schützt die abkommandierten Täter. Verkauft wird die Aktion als spontaner Aufstand der deutschen Bevölkerung gegenüber jüdischen Händlern. Sichtbar wird der Terror in der „Kristallnacht vom 9. zum 10. November 1938 durch die Zerstörung jüdischer Geschäfte und Synagogen. Tage danach erfährt Elly, dass ihre beiden jüdischen Chefs der Firma, in der sie bis 1936 arbeitete, verhaftet worden sind. Es wird ihnen eine „unredliche Firmenführung
vorgeworfen.
Schon bald lässt die Expansionspolitik Hitlers frühere Befürchtungen eines möglichen Krieges zu einer unheilvollen Ahnung werden, die schließlich Wirklichkeit wird. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Das unvorbereitete Polen gibt sich nach 18 Tagen geschlagen. Willy – gerade 29 Jahre alt – erreicht Mitte 1939 die Einberufung zum Kommiss, zur deutschen Wehrmacht. Er durchläuft in Frankfurt-Bonames eine Kurzausbildung zum Soldaten. Was ihn erwarten sollte, darauf ist er – wie auch alle anderen Kameraden – nicht wirklich vorbereitet. Eine Einstellung auf das Grauen ist ohnehin nicht leistbar. Am frühen Morgen des 10. Mai 1940 beginnt der Frankreichfeldzug, deutsche Panzer rollen auf Paris zu. Der Kampf ist nach wenigen Wochen entschieden. Juni 1940 endet der Westfeldzug der Deutschen mit der französischen Kapitulation und der teilweisen Kollaboration. Erst 1944 soll schließlich der Resistance unter Charles de Gaulle mit Unterstützung durch die alliierten Truppen die Rückeroberung des Landes gelingen. Im August desselben Jahres kann Paris seine Befreiung feiern.
Vater wird im September 1940 als Infanterist ins besetzte Frankreich abkommandiert. Tage vor dem Marschbefehl sucht er mit Frau und Sohn Helmut einen Fotografen auf und lässt Bilder von der jungen Familie anfertigen, von denen er zwei an sich nimmt. Es kommt der Tag des Abtransportes. Mutter begleitet Willy zum Frankfurter Hauptbahnhof, wo er auf seine Truppe trifft. Paare liegen sich zum Abschied in den Armen. Soldaten rufen weinenden Frauen mit gespielter Ausgelassenheit zu: „Vor Weihnachten ist der Krieg zu Ende, Weihnachten sind wir alle wieder zu Hause!"
Vaters Einheit ist im Osten Frankreichs, in der kleinen Ortschaft Aisey-sur-Seine, südlich von Chatillon-sur-Seine (im Departement Cote d’Or) stationiert. Er ist einer Abteilung zugeordnet, die für die Versorgung und Verpflegung der deutschen Truppe zuständig ist. Mutter erhält häufig Nachricht von ihm, auch aus Paris, das er gemeinsam mit anderen Soldaten der Truppe für mehrere Tage besuchen kann. Sie sind im Hotel untergebracht. Nicht wenige amüsieren sich in der „Stadt der Liebe", Bordellbesuche werden durch Vorgesetzte organisiert. Vater zieht es vor, mit einigen Kameraden Paris anzusehen und geht – begleitet von seiner Agfa Billy – seinem Hobby nach. Mutter schreibt er oft, wie sehr er sie vermisst. Er macht sich Sorgen und fragt, wie es um sie steht, wie sie zurechtkommt und wie sich sein dreijähriger Sohn Helmut entwickelt. Mutters Antwortbriefe sind in der Absicht geschrieben, Willys Sorgen zu zerstreuen und ihre eigenen Zukunftsängste nicht erkennbar werden zu lassen.
Sein erster Heimaturlaub ist Ende April 1941. Einige Tage kann Willy zu Hause bei seiner Familie in Frankfurt verbringen. Er besucht mit Elly und dem jetzt fast vierjährigen Helmut Oma Friederike und Katharina sowie andere weibliche Verwandte und Bekannte. Die Männer befinden sich fast ausnahmslos in Wehrmachtseinsätzen. Willy ahnt, dass er als Soldat bald nach Russland ziehen muss. Entsprechende Gerüchte machen in der Truppe die Runde. Die Tage zu Hause vergehen viel zu rasch. Wieder heißt es, Abschied zu nehmen.
Am 1. Mai ist Willy zunächst wieder Soldat in Frankreich. Juni 1941 ist Aufbruch. Es sind die letzten Tage der Truppe in Aisey-sur-Seine. Abmarsch zum Bahnhof, Gepäck und Ausrüstung werden verladen. Die Zugfahrt geht Richtung Osten. Trotz eines seit August 1939 bestehenden Nichtangriffspaktes mit Russland beginnt Hitler in den frühen Morgenstunden des 22. Juni 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion den Ostfeldzug und setzt damit seinen seit längerem gehegten Plan eines Präventivkrieges gegen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in die Tat um. Das deutsche Ostheer tritt auf der ganzen Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zum Angriff an. Stalin lässt den „Großen Vaterländischen Krieg" ausrufen. Vaters Truppe gelangt nach Weißrussland, in die Nähe von Minsk. Sie rückt weiter nach Osten vor. Im Zuge der Eroberung der Stadt Magiljow im Juli 1941 durch die deutsche Wehrmacht ist Vater seit Beginn des Krieges erstmals in Kampfhandlungen eingebunden. Viele Soldaten fallen. Die Verluste an Menschenleben auf deutscher wie russischer Seite