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Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen: Ein Fantasy Schelmenroman
Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen: Ein Fantasy Schelmenroman
Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen: Ein Fantasy Schelmenroman
eBook752 Seiten10 Stunden

Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen: Ein Fantasy Schelmenroman

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Über dieses E-Book

Auf Bitter, einer Welt, die allenfalls ein bisschen so ist wie unsere eigene, versucht das Telepathenpaar Mara und Ama, ihrer Gruppe einen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen.
Ihr Ziel führt die beiden in den Dienst der Regierung. Sie bekommen den Auftrag, eine Reihe außerirdischer Völker zu finden, die, so will es die Sage, zusammen mit den Menschen nach Bitter verbannt worden sind.
Die Suche bringt die beiden Frauen, ihre Familien und ihre Freunde in Kontakt mit den eigenartigsten Wesen, darunter sadistische Körperwechsler, ein buntes, aber ziemlich skrupelloses Volk von Höhlenbewohnern, ein wasserlöslicher Insektenstamm, denkende Edelsteine und zweigeschlechtliche Hexen. Doch ihre Suche führt sie auch zu Erkenntnissen, die die Grundfesten der menschlichen Gesellschaft auf Bitter ins Wanken bringen könnten...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Juni 2019
ISBN9783748257042
Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen: Ein Fantasy Schelmenroman
Autor

Martin Engelbrecht

Kulturwissenschafter und freier Autor, verheiratet. Interessiert an den Themen Sexualität & Gender, Spiritualität & Religion, Sprachen, Kunst, Musik, sowie Fantasy und SF aller Arten und aller Sorten. Webseite: https://www.deviantart.com/martinengelbrecht (einfach auf die Weltkugel unter dem Autorenfoto klicken)

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    Buchvorschau

    Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen - Martin Engelbrecht

    Aussprache der Eigennamen

    (Auszug aus der „Entzyklopedie obskuurer Worte und Reedewendungen", Weiß und Rosenrot Willkopp,1180, Trueb, Wissenschaftlicher Fachverlag der Alma Mater von Trueb, S. VI):

    Folgende Liste mag das geneigte Leservolk mit dem Stifte kopieren und bei der geneigten Lektuere neben sich legen. So verfuegt man ueber eine Hilfe, die Eygennamen in korrekter Weise auszusprechen. Man wird mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass man die Laute bald auswendig versteht und setzt, als gehoerten sie zur eigenen Sprache. Diese Erweiterung der Sprachfehigkeiten ist in unserem Sinne, erweitert doch jede Moeglichkeit zu sprechen auch unsere Moeglichkeiten zu denken.

    Th –            Ein stumpfer Zischlaut, erzeugt, indem man die Zunge nahe an die oberen Zähne fuehrt, ohne sie jedoch zu beruehren und dann die Luft ausblest.

    Dh -            Der nemliche Zischlaut, diesmal lediglich stimmhaft, das heisst, zusetzlich lasse man ein Summen in der Kehle erklingen.

    J –            Wie ein Sch, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

    Dj -            wie das J, aber mit einem D als Anlaut.

    Y –            Als Mitlaut wie das herkoemmliche J,als Selbstlaut wie ein I zu sprechen.

    Yy -            Wie ein herkoemmliches ij

    V -            Wie ein F, aber wieder mit dem Summen in der Kehle

    Z –            Wie ein S, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

    Gh -            Wie ein Ch in Nacht, aber wieder mit dem Summen in der Kehle

    W -            Zwischen dem herkoemmlichen W und dem U angesiedelt

    Die Betonung haben wir durch Akzente vereindeutigt, wo immer sie dem Sprachgefuehle des Leserkreises zuwiderlaufen könnte.

    Ableger und andere Wege sich fortzupflanzen

    Eigentlich hatte Mara das „Am Letzten Berg" nur wegen des Namens ausgesucht. Doch das Lokal hielt alles, was sein Name versprach. Bänke und Tische waren nicht nach centrischem Brauch mit Ölpappelfarbe gestrichen. Stattdessen war das Holz so oft gescheuert, gewachst und wieder gescheuert worden, bis es so bleich und glatt schimmerte wie das Elfenbein eines Seespeers. Überall lagen gefaltete Wolldecken herum, gewürfelt in rot, grün, blau und gelb, den Wappenfarben des letzten Berges. Man konnte sie als Sitzkissen benutzen, oder sich in sie einwickeln und wenn man wollte auch beides.

    An den Wänden protzten die Hoheitszeichen aller wichtigen letztbergischen Klans. Ein zufriedenes Lächeln glitt über Maras Gesicht: Auch das Wappen derer von Dyckeburg fehlte nicht, der Turm auf dem Berg über der Höhle.

    Unter den Wappen warben Emailleschilder der wichtigsten letztbergischen Holzbier- und Glückswasserfakturen für ihre Produkte. Im hintersten Winkel des Lokals, das rechte obere Eck des großen Spiegels hinter der Theke verdeckend, thronte schräg nach vorn geneigt das Landeswappen: die goldene Honigklette auf tief dunkelgrünem, fast schwarzen Grund, gehalten von einem Fisch und einem Dornschaf, darunter die gekreuzten Schneidmädel.

    Mara wählte einen Tisch in einer Nische. Sie setzte sich mit dem Rücken zu dem winzigen Fensterchen, schnallte den Schwertgurt ab und legte ihn neben sich, nicht ohne routinemäßig darauf zu achten, dass die breiten goldenen Knäufe der Schneidmädel in ihre Richtung sahen. Sie warf einen liebevollen Blick auf die Waffen – schwere Haumesser, zum Schlagen ebenso geeignet wie zum Werfen und zum Stoßen. Die Griffe bestanden aus grünem Edelvulkanit, geschützt durch schmale, aber massive Parierscheiben.

    Der Wirt trat an den Tisch, ein kahlköpfiger dünner Mann mittleren Alters, eine Lederschürze schlackerte um ihn herum. Seine gerade Haltung und sein elastischer Gang wiesen ihn als ehemaligen Marineangehörigen aus.

    „Was darf ich der Dame bringen?" fragte er, ohne sich nach centrischer Sitte zu verbeugen.

    Mara strahlte und warf sich in Positur.

    „Oh, Wärme des Roten, oh, Süße des Steins, bringt Neigung und Pflicht mir wieder in eins", rezitierte sie aus einem bekannten Gedicht ihrer Heimat.

    Der geschäftsmäßige Blick des Wirts machte einem breiten Lächeln Platz. „Du bist von hinten? fragte er, sofort zum Du übergehend, „von wo?

    „Dyckeburg", sagte Mara.

    „Sieben Gründer" antwortete er und freute sich sichtlich über den kleinen Sieg. Schließlich galt man am letzten Berg als um so einheimischer (also von weiter ‚hinten’), je weiter man aus dem Norden stammte. Und nördlich von Sieben Gründer kam nur noch Dorns Hafen.

    „Blaupelzchen", grüßte der Wirt und eilte zur Küchentür hinter dem Tresen. (Das Blaupelzchen, der kleinste Singvogel der centrischen Inseln, galt am Letzten Berg als Wahrzeichen der Mädchen und jungen Frauen.)

    In den Wochen, die einer Pflanzung vorausgingen, hatte Mara ohnehin nahe am Wasser gebaut. Jetzt fühlte sie schon wieder ihre Augen heiß werden. Blaupelzchen! Ásgwrn war der einzige, der sie zuhause noch so nannte."

    Der Wirt erschien wieder am Tisch. Der dampfende rote Beerentee kam mit einem Steindornteller, auf dem zwei ‚Weiße Steine’ lagen, schweres, mit gemahlenem Zucker bestreutes Süßgebäck und letztbergisches Nationalgericht.

    „Der zweite geht aufs Haus, lächelte der Wirt, „damit das Blaupelzchen aus Dyckeburg zu Kräften kommt.

    „Wohl bedankt", erwiderte sie.

    Der Wirt betrachtete die Ringe unter ihren Augen und die Furchen um ihre Mundwinkel.

    „Das Leben in Center ist hart, was?" fragte er.

    Sie sah ihn an, atmete tief durch, grinste ein wenig schief und nickte. Den wahren Grund für ihr Aussehen konnte sie ihm ja schlecht sagen.

    Er lächelte wieder. „Glückswasser?"

    Sie schüttelte den Kopf.

    „Krank?"

    „Nein, syk", erwiderte sie.

    Er nickte. Sie war also nicht akut erkrankt, sondern litt an einer der vielen chronischen Plagen, mit denen rund zwei Drittel der Menschen auf Bitter gestraft waren.

    Er zog unter seiner Schürze ein ledernes Bändchen hervor, wie sie zum Schutz von Phototypien gemacht wurden und hielt es ihr hin.

    Auf der sepiabraunen Phototypie war der Wirt zu sehen. Vor ihm auf einem Schaukelstuhl saß seine Frau mit einem Kind auf dem Schoß, neben ihnen stand ein ernst blickender halbwüchsiger Junge. Bei beiden Sitzenden, der Frau und dem kleinen Kind, reichte die glatte Fläche der Stirn an der Nase vorbei bis zum Mund. Keiner von beiden hatte Augen, oder hatte je Augen gehabt. Die Mutter hatte ihr Sykdom an das Kind weitergegeben.

    Mara seufzte und sah den Wirt an.

    „Hartes Land, hartes Leben", zitierte er.

    „Hartes Land, hartes Leben", echote sie und für einen Augenblick hingen sie beide ihren trüben Gedanken nach.

    Der Wirt lächelte entschuldigend und schob das Etui zurück in die Tasche. „Hartes Land, hartes Leben, gutes Essen", sagte er dann, klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch, um ihr einen guten Appetit zu wünschen und eilte davon.

    Mara nahm den Becher mit dem heißen Roten zwischen die Hände und wärmte ihre kalten Finger daran. Sie starrte in den Tee, ohne die kleinen Narben auf ihren Handrücken überhaupt noch zu bemerken. Der alte Spruch des Heimheers, dass das Außen immer unmittelbar von dem Urlaub über das Innen hereinbricht, war für sie wahr geworden.

    Doch jetzt – jetzt hatte sie erst einmal etwas zu feiern.

    Dabei hatte gestern alles ausgesprochen unangenehm angefangen. In der Sitzung des Kriegsrats hatte Von Hohenbaum, der Oberkommandierende des Heimheers, sie und Maßwerk (den Führer des fliegenden Korps) in einem Rundumschlag angegriffen. Dass er der Ansicht war, alles, was ihre beiden Korps leisteten, sei überflüssig und eine Verschwendung knapper Finanzmittel und Ressourcen, war ein alter Hut. Die für niemanden als ihn selbst komischen Bemerkungen über blasse Gesichtchen und traurige Augen, die offenbar in der Lage waren, maßgeblichen Politikern jeden beliebigen Kredit abzuschmeicheln, waren freilich etwas anderes.

    Mitten in den blasierten Monolog des blaublütigen Kavalleristen platzte ein Nachrichtenadjutant mit einer gekabelten Meldung des fliegenden Korps. Der Fesselschweber über dem Hohen Garten im Nordosten der Stadt hatte ein fliegendes Außen gesichtet, geschätzte Spannweite über zwanzig Meter.

    Die Mitglieder des Rats tauschten verdutzte Blicke. Das war seit über zehn Jahren nicht mehr vorgekommen.

    Wie zur Bestätigung setzten die Glocken ein, erst eine, dann noch eine, dann wurden es langsam mehr. Es dauerte eine Weile, bis die Stadt sich widerwillig ihrer lang nicht mehr benötigten Sicherheitsroutinen entsann.

    Die sind auch alle außer Übung, dachte Mara.

    Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung des fetten Mannes sprang sie hoch und rannte aus dem Saal. Sie trommelte an die Tür des Adjutantenzimmers und winkte Leutnant Márusan hektisch, ihr zu folgen.

    Gemeinsam stürmten sie die Treppe des Bergfrieds der alten Festung hinauf, in der die Regierung ihren Sitz hatte. Oben angekommen dankte Mara der Schmutzigen Mutter für die endlosen Stunden des Schneidmädeltanzes, die sie in so hervorragender Verfassung hielten.

    Sie sah sich um. Von hier aus war nichts zu erkennen, außer dass die Warnung erfolgreich gewesen war. Überall schlossen sich die Fensterläden und die Menschen verschwanden von den Straßen.

    Mit deutlicher Verspätung erreichte Márusan das flache Dach des Turms, schnaufend wie ein altes Postpferd.

    „Ich brauche Deckung, sagte Mara, „sie sagen, es ist nur einer, aber sicher ist sicher.

    Der Leutnant fummelte nervös seine Dienstpistole aus dem Halfter. Mara duckte sich in eine steinerne Schießscharte, schloss die Augen und konzentrierte sich. Nach kurzer Suche fand sie die Diensthabende auf dem Fesselschweber. Kiáire von der Hexeninsel, klug, wunderschön und mit grenzenlosem Selbstvertrauen gesegnet.

    „Ich brauche dich als Relais", sendete Mara, „hast du die Sicherung auf?

    Kiáire zeigte ihr das Observationsdeck des Schwebers und ließ sie spüren, wie sie sich hastig Djékesimms lächerliche Messingkrone mit den elektrischen Birnen überstülpte.

    Hast du jemanden instruiert, dir zu assistieren?"

    „Nicht nötig, Regagódo ist da", kam die mit azüsiertem Ärger eingefärbte Antwort.

    Trotz der angespannten Lage musste Mara auflachen. Der dicke Grünländer nutzte jede Gelegenheit, um Zeit mit Kiáire zu verbringen, dabei wusste das ganze Korps, dass sie für ihn nicht das Geringste übrig hatte.

    „Dann kann er sich ja ausnahmsweise mal nützlich machen", sendete Mara.

    Das junge Mädchen kicherte.

    Eigenartig, dass sie von Kiáire immer als ‚junges Mädchen’ dachte, wo sie selbst ganze fünf Jahre älter war, überlegte Mara. Sie schickte die junge Telepathin zu den großen Panoramafenstern des Fesselschwebers und konzentrierte sich auf die optischen Eindrücke, die Kiáire ihr übermittelte.

    Da war es.

    Sie stutzte. Was da vor Kiáires Augen in der Luft hing, glich keinem Außen, das sie kannte. Nur zwei Gattungen von fliegenden Außen reichten an die Ausmaße dieses Dings heran – Hautflügler und Flugrochen.

    Das hier jedoch sah völlig anders aus.

    Fast wie …

    Fast wie …

    Das war es! Wie eine Diamantlibelle!

    Das riesige Tier hatte die Facettenaugen, den dolchähnlichen Hinterleib und die vier endlos langen Flügel der größten Panzerkerfart von Center, nur dass der Körper nicht grün-golden war, sondern rot-schwarz marmoriert, fast wie verbrannt.

    „Hör zu", sendete Mara, „ich geh jetzt rein. Entspann dich, mach die Augen zu und konzentrier’ dich nur darauf, tief zu atmen. Wenn die Sicherungen knallen, wird unser frommer Mann sie schnell ersetzen, also kann Dir nichts passieren."

    Kiáires Gedankenkanal öffnete sich weit.

    Mara tastete mit allen Fingern ihres Gehirns in die Richtung, in die Kiáire zuletzt geblickt hatte. Es war offenbar noch weit außerhalb, denn keine einzige Batterie der Stadt hatte bislang das Feuer aufgenommen. (Oder sie sind damit beschäftigt, irgendeines ihrer blöden Wachrituale durchzuziehen, dachte Mara missgünstig.)

    Das Vieh musste hier irgendwo sein, verdammt, dass sie nicht gleichzeitig Kiáires visuelle Eindrücke empfangen und tasten konnte.

    Ah, da war es.

    Fremd. Ungewohnt. Merkwürdig. Nicht die klaren organischen Strukturen der anderen Außen, viel diffuser. Es würde schwierig werden, einen Angriffspunkt zu finden.

    Und es war nicht allein!

    Mara stockte einen Moment der Atem. Sie spürte klar zwei fühlende Wesen.

    Ein Reiter?

    Abrupt unterbrach Mara den Kontakt und drehte sich um.

    „Das verdammte Ding hat einen Reiter oder irgendsowas, zischte sie. „Márusan! Zurück in die Sitzung! Gehen Sie zu Herrn Arroganz und sagen Sie ihm, sofort eine leichte Einheit zum Sichern des Kadavers. Die Leute dürfen ihn auf keinen Fall zu Fischtorf verkochen!

    Den letzten Satz hatte Márusan schon nicht mehr gehört, so schnell war er in der Treppenluke verschwunden. Mara wandte sich wieder Kiáire zu, die geduldig auf sie gewartet hatte. Gutes Mädchen.

    Jetzt das Ding wieder finden …

    finden …

    finden, verdammt …

    Da. Und jetzt den Ausschalter drücken.

    Mara tastete mit den Fingern ihres Geistes im Inneren des fliegenden Organismus umher. Bitterer und kälter als alles andere, was sie je zuvor bekämpft hatte. Noch nie was von Panzerkerfen dieser Größe gehört. Verdammt, da war nichts Identifizierbares, keine Adern, keine Nerven – gar nichts.

    Doch! Eine Art Nabelschnur verband das Außen mit dem Reiter oder Aeronauten oder was auch immer. Große Mutter, war das Ding dick, wie ein Ankertau!

    Mara fokussierte sich auf den Strang und begann zu drücken. Sie drückt fester. Und fester. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn.

    Dann hörte sie mit Kiáires Ohren eine Sicherung knallen. Ein Ruckeln an der Krone sagte ihr, dass Regagódo sich beeilte, sie zu ersetzen.

    Wie soll man etwas zerreißen, das soviel Spiel hat, verdammt noch mal!

    Eine zweite Sicherung platzte.

    Sie hörte Regagódo fluchen. Wenn er nicht schnell genug war, würde Kiáires Gehirn genauso platzen. Rohe Kraft brachte sie hier nicht weiter.

    Sie sandte Kiáire ein beruhigendes Signal und begann wieder in dem Wesen herumzutasten.

    Die Schnittstelle! Natürlich! So musste es gehen.

    Sie verschob den Druckpunkt bis ganz an die Außenhülle des Insekts und konzentrierte sich wieder auf die Verbindungsader. Der Strang riss. Ein jäher Schmerz zuckte durch den Panzerkerf, Kiáire und Mara.

    Die junge Telepathin auf dem Fesselschweber riss die Augen auf und starrte zum Fenster hinaus, zunächst ohne etwas zu sehen.

    „Es schmiert ab", schrie jemand auf der Plattform des Fesselschwebers.

    Dann sah Mara mit Kiáires Augen, wie das Wesen sich aufzustellen schien, um anschließend steil in die Tiefe zu stürzen.

    „Geschätzter Aufschlagpunkt, fix!" sendete Mara und beruhigte dann die aufflackernde Panik des Mädchens. „Du hast es geschafft, du hast es hinter dir, du warst sehr gut. Ihr beide wart sehr gut. Rasch, ich muss wissen, ob es noch über dem offenen Land runterkommt."

    Nachdem Kiáire ihren Schock überwunden hatte, handelte sie schnell und professionell. Sie eilte zur trigonometrischen Bank und fragte den Jungen an den Messgeräten aus.

    „Land, antwortete er, „Ost-Nordost.

    Danke", sendete Mara „esst was, ruht euch aus, das Ganze war ein voller Erfolg."

    Sie löste die Verbindung und kehrte in den Turm zurück. Hoffentlich hat Herr Arroganz mitgespielt, dachte sie im Loslaufen.

    Vor dem Einsatzbüro traf sie auf Márusan. Der kleine Mann kochte vor Wut. Sein Kiefer mahlte, seine Augen bohrten Löcher in die eigenen Stiefel, er hatte die Schultern hochgezogen und die Fäuste in den Hosentaschen vergraben.

    Mara seufzte innerlich und bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick. Er nickte knapp und folgte ihr in das Büro.

    Hinter einem auf Hochglanz polierten, für die kleine Mara fast schulterhohen Schalter saßen zwei junge Einsatzleiter mit verlegenen Gesichtern. Hinter ihnen stand Hohenbaum.

    „Stand?" fragte er mit einem herablassenden Blick.

    „Wir haben ein unregistriertes fliegendes Außen abgeschossen, einen Panzerkerf von der Größe eines Flugrochens. Es hatte eine weitere Intelligenz auf seinem Rücken. Das Gelingen der Bergung ist von nationalem Sicherheitsinteresse."

    Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit.

    Dennoch reagierte er zunächst nicht. Die beiden jungen Offiziere an den Telephonen blickten fragend zu ihm hoch. Er rieb sich heftig den Schnurrbart und starrte an Mara vorbei durch die halboffene Tür.

    Offenbar reichte es dem einen der beiden hinter dem Tresen, ein Hauptmann von den Schulterstücken her. Er riss einen Hörer aus der Halterung und bellte ein paar Befehle hinein, geistesgegenwärtig ergänzt durch ein „Order des Heeresleiters."

    Márusan drängte sich an den Schalter. Mara packte ihn an der Schulter und drückte fest zu. Er blickte sie nicht an, atmete aber schmerzhaft durch und senkte den Blick. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer.

    Das kleine Zwischenspiel gab dem Heeresleiter wieder Oberwasser, seine gewohnte herablassende Ruhe kehrte zurück.

    „Nun, sagte er mit einem angedeuteten Nicken zur offenen Tür „offenbar verführt ihr blasses Gesichtchen sogar gestandene Kavalleristen – wenn auch bürgerliche.

    Mara blickte ihn kalt an.

    „Wenn die Bergung nicht gelingt, wird das Korps eine offizielle Beschwerde gegen das Heer einreichen, sagte sie. Der Zeitpunkt der Order für das Eingreifen ist bekannt. Ihr Abwarten hat die nationale Sicherheit geschädigt.

    „Sie sind wirklich auf Streit aus, Teuerste, sagte er ungerührt, „soweit ich weiß, bin ich nur dem offiziellen Protokoll gefolgt.

    „Das mag zutreffen, entgegnete Mara. „Im Endeffekt wird es allerdings dazu führen, dass ein Fund von potentiell global-strategischer Bedeutung von den Dorfbewohnern unter Berufung auf das Gewohnheitsrecht zu Brennstoff verkocht werden wird. Formal sauber. Aber soldatisch? Ich bin gespannt auf die Reaktion des ersten Ministers …

    Die fiel freilich exakt so aus, wie Mara befürchtet hatte. Der fette Mann hatte die Sitzung nicht verlassen, auch von Marmor, der erste Seeherr, Maßwerk vom fliegenden Korps und der Geheimdienstchef waren noch präsent. Von See hing in seinem Stuhl, halb liegend, so wie er sich immer zu positionieren pflegte.

    „Das Protokoll lautet, vor der Abordnung eines Bergungstrupps die Bestätigung des Abschusses abzuwarten, murmelte er, ohne aufzusehen, „wenn sich allerdings die Befürchtungen der neuen Korps bestätigen, dann hat das Heer eine krasse Fehlentscheidung getroffen. Sollte das der Fall sein, dann ist das Heer von jetzt an angewiesen, den Anforderungen von Seiten der neuen Korps ohne eigene Überprüfung unverzüglich Folge zu leisten. Klar für alle Beteiligten?

    Das war es dann auch. Voller Sieg in der Sache, keine disziplinarischen Konsequenzen für Herrn Arroganz. Schade, aber zu erwarten.

    Der Heeresleiter nahm es dennoch als persönliche Niederlage. Er drehte sich um und ging auf die Tür zu, so schnell es die Konvention gerade noch zuließ. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als ihn die Stimme des fetten Mannes festhielt.

    „Hohenbaum?" fragte von See sanft.

    Der Heeresleiter stand stocksteif. Ihn ohne sein ‚von’ anzusprechen war für Leute seines Schlages ein zusätzlicher Affront. Doch nicht einmal er verfügte über genug Arroganz, im Moment einer solchen Niederlage auf seinem Adelstitel zu bestehen.

    „Klar", knarzte er und war durch die Tür.

    Der Stab beschloss, den ersten erfolgreichen Abschuss des Korps über der Hauptstadt zu feiern – in aller Bescheidenheit, versteht sich. Mara als Heldin des Tages durfte sich das Lokal aussuchen und wählte eine kleine erzbergische Konditorei am Platz der Sieben Gründer.

    Sie selbst war als erste gekommen, zusammen mit Márusan. Auf die Minute pünktlich erschien Lagún. Ihre Sekretärin Ama und Leutnant Réyann ließen auf sich warten.

    Mara, die mit dem Rücken zum Fenster saß, hatte ihre erzbergische Tieflandtorte in der gewohnten Hast heruntergeschlungen und verrenkte sich nun den Hals, um den Platz nicht aus den Augen zu lassen. Die Statuen der mythischen sieben Gründer der Staaten des Innen beherrschten das Geviert von ihrem mannshohen steinernen Podest aus, fest in ihre altertümlichen bronzenen Gewänder gehüllt. Umgeben waren sie von einer penibel gestutzten Rotbeerenhecke.

    Mara sah ein, dass sie sich doch ab und zu ihren Mitarbeitern zuwenden müsse und drehte sich widerwillig um. Doch keiner der beiden schien an ihrer mangelnden Konzentration Anstoß zu nehmen.

    Lagún saß hinter seinem Butterapfelküchlein, kerzengerade, regungslos, die gefalteten Hände entspannt im Schoß. Márusan dagegen hatte die vor ihm stehende obererzbergische Masóchtorte nicht angerührt. Er kauerte hinter seinem Tee, knetete die Hände und starrte auf den Boden. Mara wusste, dass es das Beste war, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen, denn er hatte seine Niederlage im Einsatzbüro noch nicht überwunden.

    Leutnant Márusan Súlis, wie er mit vollem Namen hieß, war der einzige Nichttelepath im Stab. Er stammte von der Fischinsel und war ihnen als Verbindungsoffizier zum Heimheer zugeteilt worden. Zum Erstaunen nicht weniger Leute war er es, der von allen Stabsmitarbeitern den meisten Enthusiasmus für das Korps an den Tag legte. Mara, die den Grund dafür kannte, wünschte allerdings, seine Begeisterung würde ein wenig nachlassen.

    Plötzlich blickte der Leutnant hoch. Sein Kiefer mahlte, wie immer, wenn er gereizt war. (Also solange er nicht schlief, spottete die Stimme von Héyyu, Maras Bruder, in ihrem Kopf.)

    „Ich habe meinen Auftrag nicht erfüllt", sagte Márusan betreten.

    „Ihr Auftrag war, die Meldung weiterzugeben, das haben Sie getan", erwiderte Mara in dem beschwichtigenden Ton, den sie sich für den Leutnant angewöhnt hatte.

    „Ich hätte Herrn Arroganz irgendwie dazu bringen müssen, die Einheit für die Sicherung sofort loszuschicken."

    „Schon mal versucht, den letzten Berg mit einem Teelöffel abzutragen?" grinste Mara.

    Márusan senkte wieder den Kopf.

    „Wo sie bloß bleiben?" fragte Mara, um das Thema zu wechseln.

    Lagún nickte zur Tür, die sich prompt öffnete, um Ama und Réyann einzulassen.

    Ama war etwas größer als Mara (wozu nicht allzu viel gehörte). Anders als ihre Vorgesetzte war sie ausgesprochen hübsch. Ein rosiges, warmherziges Puppengesicht mit makelloser Haut, üppigen blonden Haaren und einer (wie Mara fand) wunderschönen, kurvigen Figur. (Ama selbst hielt sich natürlich für viel zu dick.) Doch mindestens genauso wie mit ihrem Äußeren hatte Ama sie mit ihrer einfühlsamen und vorausdenkenden Art gefesselt.

    Mara streifte mit einem Blick Amas einzigen sichtbaren Makel. Auch ihr fehlte ein Körperteil, die linke Hand. An ihrer Stelle trug die junge Frau eine klobig wirkende Messingprothese.

    Wie Réyann und Lagún war Ama dem Korps als aktive Telepathin beigetreten, doch ihre nur schwach ausgeprägten telekinetischen Kräfte befähigten keinen der drei für den Dienst in der Marine. Freilich galt für sie: Was die Jagd auf Außen betraf, mochten die drei nicht viel taugen, für die Leitung des Korps jedoch waren sie nicht mit Gold aufzuwiegen.

    Réyann kam von der Hexeninsel und fungierte als offizieller Sprecher und Werbegesicht des Korps. Er war ein ehemaliger Spitzenathlet, international bekannt und selbst in Maras distanzierten Augen ein reichlich gutaussehender Mann. Das perfekte Maskottchen, mit dem man die Ängste der Bevölkerung bezüglich der ‚Gedankenleser’ abbauen konnte: Sein Charme, seine Selbstironie und seine ebenso begeistert gelebten wie schwachen telekinetischen Kräfte – sein Einsatz in der Öffentlichkeitsarbeit war unschätzbar. Réyann wusste das und kommentierte es mit dem ihm eigenen Humor: Wenn er dem Chor am nützlichsten als Schaufensterpuppe war, dann würde er eben versuchen, die beste Schaufensterpuppe der Welt zu sein.

    Lagúns Stärke war das Organisieren. Komplexe Abläufe am Fließen zu halten und bei laufendem Betrieb geräuschlos zu optimieren – ein Großteil der Effizienz des Korps verdankte sich seinen Fähigkeiten. Nach eigenen Angaben war er aus der Allianz geflüchtet, nicht nur, weil er ein Telepath, sondern auch weil er ein Anhänger des Süßen Todes war – ein Kult, der von den Führern der Endgültig-Ursprünglichen Wahrheit in der Allianz erbittert verfolgt wurde.

    Ama war aus Grünland zum Korps gestoßen. Ihre Familie hatte sie nach Center ziehen lassen, so erzählte sie, weil sie zu Hause für sich keine Zukunft sah. Im Korps war eine Zeitlang das Gerücht im Umlauf gewesen, Ama sei eine Spionin für die Grünländer, eine Idee, die Mara nicht wenig amüsiert hatte. Doch was verblasste nicht alles zur Bedeutungslosigkeit in den Momenten, in denen Ama mit ihr redete.

    So auch jetzt wieder.

    „Entschuldigung, gestand Mara verlegen, „ich war gerade in Gedanken ganz woanders. Können Sie das bitte noch einmal wiederholen?

    Ama strahlte wenn möglich noch mehr.

    „Ich habe Kiáire und Rega zehn Punkte auf der Beförderungsliste gutgeschrieben und für beide eine Tapferkeitsmedaille angefordert, wiederholte sie. „Ich hoffe, das war richtig so?

    Natürlich war es richtig, Mara hätte selbst daran denken müssen. Für die Medaille genügte es schon, bei der ersten Begegnung mit einem Außen mit dem Leben davongekommen zu sein, aber die beiden würden das kleine Stück Blech wie einen hohen Orden tragen. Die Wirkung auf die anderen Kinder und Jugendlichen des Korps sollte nicht ausbleiben.

    „Und, äh, ach ja, dann habe ich noch gesehen, dass Ihr Notizblock voll war und mir erlaubt…" sagte Ama. Sie kramte in ihrer Tasche und reichte Mara nach einer Weile ein kleines, mit grauem Lumpenpapier umwickeltes Päckchen.

    Mara zog die Verpackung mit gewohnter Sorgfalt auseinander. Zum Vorschein kam ein Notizbuch, aber kein gewöhnliches. Es hatte einen schwarzen Einband aus Pfirsichseide, auf den ein filigraner grün-silberner Lebensbaum aufgestickt war.

    Mara starrte Ama an.

    Die wiederum war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ich dachte, das Motiv gefällt Ihnen, sagte sie mit geneigtem Kopf. „Ich kann es umtauschen.

    „Es ist wunderschön, brachte Mara heraus, „bloß wie kommen Sie ausgerechnet darauf?

    „Ich weiß nicht, entgegnete Ama, „ich hatte einfach das Gefühl, es passt zu Ihnen.

    Wenn jetzt nicht gleich etwas passiert, dachte Mara und schluckte, dann stürze ich mich auf diese Frau und fresse sie mit Haut und Haaren.

    Vielleicht hatten auch noch andere diesen Eindruck, denn Réyann räusperte sich vernehmlich und sagte mit betont dienstlicher Stimme: „Ich bitte um Entschuldigung für unsere Verspätung, aber wir waren noch einmal im Einsatzbüro."

    Seine Meldung riss Márusan aus seinen Grübeleien. Ama sah Réyann fragend an.

    „Nichts, antwortete der bedauernd. „Sie haben den beobachteten Aufschlagort in fünf Kilometern Radius abgesucht. Es sind zwei Weiler in der Nähe und die haben natürlich jede Menge Tanks. Wenn die nur ein bisschen fix waren, sind die Reste längst zu Fischtorf verkocht und werden im kommenden Winter ein paar kalte Hintern wärmen.

    Mara zuckte die Achseln.

    „Müssten wir nicht selbst gehen und nachsehen?" fragte Márusan.

    „Das ist doch genau das, was Herr Arroganz will, meinte Mara. „Wir sollen ihre Arbeit machen. Sie haben in der Hauptstadt achtzehnhundert Mann stehen, unser gesamtes Korps besteht derzeit aus knapp einhundertzehn Personen, davon die Hälfte Betreuungspersonal. Wenn sie uns ihre Aufgaben zuschanzen können, haben wir verloren. Nein, wir tun nichts und dann passiert eben auch nichts. Nur die Konsequenzen können etwas ändern.

    Márusan blickte zwischen den anderen hin und her und suchte nach Hilfe.

    „Die Korpsführerin hat Recht, intervenierte Lagún. „Wir sind nicht ausgestattet für flächige Suchaktionen. Überdies schreibt die Originaldirektive die Kooperation mit den anderen Teilstreitkräften verbindlich vor. Eine Suche von unserer Seite würde unsere politische Position drastisch schwächen. Es ist tatsächlich die mit Abstand beste Strategie, die Führung des Heimheers ihren eigenen Fehlern auszuliefern.

    Márusan senkte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches.

    Mara überprüfte die Zeit auf dem Multimeter, das sie am Handgelenk trug, ein Geschenk ihres Vaters.

    „Angesichts des anstrengenden Tages und der fortgeschrittenen Zeit, proklamierte sie, „blase ich den Zapfenstreich. Morgen noch einmal in gewohnter Besetzung?

    Die Männer nickten und erhoben sich.

    Während Mara aufstand und sie verabschiedete, blieb Ama sitzen und sah sie mit ihrem ich-bräuchte-Sie-noch-einen-Augenblick-Blick an.

    Hatte Réyann beim Gehen ein Grinsen im Mundwinkel?

    Wenn schon.

    Mara setzte sich wieder. Einen Augenblick war sie von der Tatsache, dass sie plötzlich allein waren, wie gelähmt. Dann fasste sie sich ein Herz.

    Sie rutschte so nahe an Ama heran, wie sie sich traute und sagte mit einer belegten Stimme, für die sie sich nicht im mindesten verstellen musste: „Danke nochmal für das Geschenk. Es ist wunderschön."

    Ihr Blick suchte Amas und fand ihn. Dann ließ sie – wie lange hatten diese endlosen Geplänkel gedauert? – die neutrale Maske fallen.

    Ama holte tief Luft.

    Mara holte tief Luft.

    Ama neigte ein weiteres Mal in ihrer unnachahmlichen Weise den Kopf.

    „Weißt du was, ging sie unvermittelt zum Du über, „lass uns doch draußen weiterreden.

    Mara zuckte zusammen, entzückt über ihren eigenen Schreck.

    Ama sagte ‚Du’ zu ihr!

    Jetzt schnell eine pfiffige Antwort mit Du …

    …formulieren…

    …formulieren…

    „Einverstanden, lass uns gehen."

    (Wenn sie den Satz gut findet, liebt sie dich wirklich, mokierte sich die Stimme ihres Bruders Héyyu in Maras Kopf.)

    Ama war Maras fehlende Schlagfertigkeit anscheinend völlig egal, denn sie belohnte sie mit einer weiteren Dosis ihres berauschenden Lächelns.

    Draußen hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, willkommen nach einer für Center ungewöhnlich langen Trockenperiode. Sie tappten steif nebeneinander her, zwei kleine Frauen in den wenig kleidsamen, lodengrünen Uniformen des Korps, die ihre Körper eckig und ihre Gesichter bleich wirken ließen.

    Im Laufen stießen sie immer wieder aneinander.

    An einer Straßenkreuzung reichte es Mara. Sie griff nach Amas Taille und zog sie an sich. Die Schnelligkeit, mit der sich Ama in ihre Umarmung fügte, machte Mara klar, dass ihre Sekretärin die ganze Zeit darauf gewartet hatte. Den Rest des Weges legten sie Arm in Arm zurück. Vor Maras Haustür im von den höheren Chargen des Militärs und der Verwaltung bevorzugten noblen Winterviertel blieben sie stehen.

    „Es gibt da…", begann Mara.

    „…ein paar Dinge, die du wissen solltest", beendeten sie den Satz gemeinsam.

    „Ich bin wirklich nicht gut in solchen Sachen, gestand Mara verlegend lächelnd und lief rot an. „Das nächste Klischee wäre jetzt…

    „Ja", fiel ihr Ama ins Wort, „ich mag mit raufkommen."

    Weit von Center entfernt auf dem Ostkontinent befand sich eine Gegend, die auf den ebenso alten wie erstaunlich präzisen Karten im Hochsicherheitsbereich des centrischen Marineministeriums als „großes östliches Wüstengebirge" etikettiert war.

    Jeder Mensch, der diese Gegend bereist hätte, wäre bereit gewesen zu schwören, hier sei nichts zu finden außer gigantische, von der Sonnenglut des Tages und der Eiseskälte der Nacht gegerbte Felsmassive. Die riesige Zivilisation, die genau an dieser Stelle die mit Abstand bevölkerungsreichste Siedlung auf dem Planeten unterhielt, war so gut getarnt, dass sie sich selbst suchenden Augen mühelos entziehen konnte.

    Einer der Berge war nicht echt.

    Wo er stand, hatte sich ursprünglich ein Tal befunden, eine tiefe Klamm, auf deren kaum je von Tageslicht erreichtem Grund ein eiskalter Bach seinen kurzen Weg genommen hatte. Nun hatte der Boden der Klamm schon seit Jahrhunderten kein Licht mehr gesehen und der Bach versickerte nicht mehr etliche Kilometer weiter im Wüstensand. Stattdessen floss das Wasser durch mächtige wasserdichte Rohre aus Sand und Speichel und sammelte sich in tiefen, sorgfältig gesicherten Reservoiren.

    Sie brauchten das Wasser ebenso sehr, wie sie es fürchteten.

    Jetzt erstreckte sich über der ehemaligen Klamm ein künstliches Gebirgsmassiv. Menschen hätten das Gestein einer chemischen Analyse unterziehen müssen, um festzustellen, dass es sich nicht um gewachsenen Fels, sondern um einen enorm zähen und tragfähigen Baustoff aus Steinbrocken, Sand und Speichel handelte, unter dem sich Hunderte und Aberhunderte sorgfältig geplanter und mühevoll konstruierter Höhlenkilometer verbargen.

    Irgendwann während der zwei langen Jahre, in denen eine halbe Welt entfernt Mara und Ama ebenso eifrig wie ungeschickt ihr Gefühle voreinander verbargen, erwachte tief unten im am besten gesicherten Bereich der riesigen Siedlung ein einsames Wesen, um sich einem neuen Tag zu stellen.

    Die Prinzessin, der Stolz ihrer Mutter und die Hoffnung der Stadt, ringelte sich aus ihrer Schlafstätte, einer engen Röhre aus Pflanzengewebe und Speichel, die ihr gerade genug Platz bot, um in völliger Bewegungslosigkeit zu ruhen.

    Doch das war es nicht, was sie bedrückte. Ein Teil ihres Gehirns wusste in der olfaktorischen Sprache der Stadt sehr wohl um den luxuriösen Duft der Privilegien, die sie genoss.

    Da war ihre Nahrung, mit Abstand die beste und gehaltvollste der Stadt (und überdies reichlich, was die Mehrheit der Bewohner nicht von ihren Mahlzeiten behaupten konnte). Da war ihr königlicher Geruch, der in den engen Gängen dafür sorgte, dass sich sogar die riesigen, rücksichtslosen Soldaten dicht an die Wand drückten, um sie passieren zu lassen. Da war die gleichmäßige, angenehme Temperatur ihrer Schlafstätte, die es unnötig machte, sich mit anderen zusammenzudrängen, um durch heftiges Vibrieren der Extremitäten die Schlafenden in der Mitte mit Wärme zu versorgen. Da war die wohlriechende, frische Luft, von raffinierten Luftschächten bis tief unter die Erde zu ihrem Wohnbereich gesaugt. Die Hälfte ihres Selbst, die sie ‚Duftgehirn’ nannte, schwelgte im biochemischen Äquivalent eines tiefen, dauerhaften Glücks, eines Glücks, das ihr überdies von Natur aus zustand, war sie doch eine kommende Königin.

    Doch dieses Glück hatte einen Riss.

    Es begann mit den Ammen. Seit sie aus dem Ei gekrochen war, versorgten sie die Prinzessin mit Nahrung, begleiteten sie, pflegten und beschützten sie. Die Ammen rochen buchstäblich jedes ihrer Bedürfnisse, lange bevor sie es selbst tat. Doch gerade die blindwütige Hingabe ihrer Pflegerinnen machte der Prinzessin zum ersten Mal klar, dass irgendetwas nicht stimmte.

    Es war ein völlig normaler Vorgang in der Stadt, dass Ammen andere Bewohner fütterten. Die Prinzessin dagegen erinnerte sich mit Grausen an den erbitterten Kampf, den sie ausfechten musste, um die Ammen dazu zu bringen, das Essen vor sie hinzulegen, so dass sie es mit ihren eigenen Händen ergreifen und sich selbst in den Mund stopfen konnte. Monate hatte es gedauert und zumindest am Anfang musste sie sich körperlich aus Leibeskräften gegen die rücksichtslose Fürsorge ihrer Pflegerinnen zur Wehr setzen.

    Ein bezeichnendes Beispiel, dachte sie schwerfällig, für das, was mit ihr nicht stimmte.

    Während der eine Teil ihres Bewusstseins gefüttert zu werden als das Normalste der Welt betrachtete, existierte noch ein zweiter Teil, der genau denselben Vorgang als entwürdigend und widerlich einstufte. Diesen Teil von sich nannte sie ‚Wortgedächtnis’. Er dachte nicht in Düften, sondern in komplizierten Lautfolgen. Und diese Lautfolgen vermittelten ganz andere Informationen und Denkweisen als die Gerüche ihrer Mutter, der Königin.

    Wieder und wieder sprach die Prinzessin die Satzkaskaden des Wortgedächtnisses nach – um sie zu üben, aber noch mehr, um sie überhaupt zu verstehen, um die bizarren Symbole und ihre Bedeutungen wenigstens in Ansätzen zu erfassen.

    Freilich störte sie niemanden mit ihrem Gemurmel, denn die meisten Mitglieder ihrer Art waren taub.

    Wie fremd sie den anderen Bewohnern der Stadt war, wurde bei einem ganz anderen Vorgang deutlich, nämlich in dem Moment, in dem sie sich waschen ging. Was für sie (und das Wortgedächtnis) nicht nur eine selbstverständliche Routine, sondern eine überaus angenehme Erfahrung war, tauchte ihre Ammen in den säuerlichen Gestank nackter Panik.

    Sich in dem speziell für sie eingerichteten kleinen Teich den Schleim und den Staub der Stadt von ihrer Haut zu spülen, wie die Prinzessin es liebte, wäre für ihre Pflegerinnen ein schmerzvoller Weg in den Selbstmord gewesen: Das Wasser hätte das sorgfältig ausbalancierte Gleichgewicht der Pilze, Flechten und Bakterien auf ihren Panzern explodieren lassen und die Ammen wären von ihren eigenen, wassertrunkenen Symbionten förmlich aufgefressen worden. Die bloße Tatsache, dass die Prinzessin sich Wasser nicht nur vorsichtig in ihren Schlund träufelte, wie es alle anderen taten, sondern es stattdessen mit vollen Händen über den ganzen Körper schüttete, verlieh ihrer Mutter den Status eines Genies und ihr selbst den Geruch einer unbesiegbaren Göttin.

    Die Prinzessin verbrachte ihre Tage an dem künstlichen Teich und lernte von ihrem Wortgedächtnis Menschendenken und Menschensprechen. Und trotz ihres Unbehagens suchte sie immer wieder ihr Gesicht im Spiegel der Wasseroberfläche.

    War das der Duft, wie es war, unter Menschen zu sein?

    Wohl kaum.

    Ihre Mutter hatte ihr den sicheren Geruch gegeben, dass sie aussah wie ein Mensch, anders als alle anderen Bewohner der Stadt, die (sie wusste es nicht) auf menschliche Augen wie monströse Kreuzungen aus Krustentieren und Insekten gewirkt hätten. Was sie Wortgedächtnis nannte, (das wusste sie) war das Bewusstsein ihres Vaters, das ihre Mutter ihr auf chemischem Weg ins Gehirn gebrannt hatte. Dass ihre Mutter ihren Vater dafür aufgefressen hatte, betrachtete ihr Duftgehirn als ebenso natürlich und notwendig, wie ihr Wortgedächtnis als grausam und als einen gegen sie selbst gerichteten bösen Akt.

    Da war er wieder, der Konflikt, die Welten, die die beiden Hälften ihres Gehirns voneinander trennten.

    Heute jedoch lagen die Dinge anders. Die Prinzessin roch Dringlichkeit, einen kühlen, metallischen Duft der Notwendigkeit etwas Neues zu tun, etwas, dass die Sicherheiten ihres Duftgehirns aufbrach und den Sehnsüchten ihres Wortgedächtnisses Rechnung trug.

    Die Idee ihrer Mutter, sie hier reifen zu lassen und sie dann wieder mit einem geraubten Menschenmann zu paaren (für die zweite Stufe der Verschmelzung beider Rassen), würde nicht funktionieren. Sie war zu chemisch gedacht, sie duftete zu sehr nach den alten Wegen der Stadt. Sie stimmt nicht überein mit dem, was ihr Wortgedächtnis ihr sagte, in unscharfen, quälenden und albtraumhaften Sätzen, deren Bedeutung sie mehr erriet als sie sicher zu riechen.

    Sie musste mit ihrer Mutter in Verbindung treten.

    Maras Dienstwohnung war riesig. Ein Korpsführer hatte offensichtlich eine große Familie und einen ganzen Haufen Personal mitzubringen Alle Räume waren mit elektrischen Licht ausgestattet, ein selbst in Center alles andere als selbstverständlicher Luxus. Die meisten Zimmer waren unbenutzt, die Türen standen sperrangelweit offen.

    Am Ende des Ganges hatte Mara eine weitere Sicherheitstür anbringen lassen, die das große Wohnzimmer von den restlichen Räumen abtrennte.

    Eine kleine Küchenzeile und ein Türdurchbruch zum angrenzenden Bad ergänzten das Ganze zu einem Apartment, in dem Mara es sich so gemütlich eingerichtet hatte, wie sie es vermochte. Ein riesiges Bett mit einem Haufen verknäulter Decken, die Wände bedeckt von prall gefüllten Bücherregalen und das allgegenwärtige Chaos einer überarbeiteten, alleinstehenden Person erzeugten eine Atmosphäre, die Maras Charakter so gut wiedergab, dass Ama lächeln musste.

    Ihr Blick ließ Mara das Zimmer mit Amas Augen sehen. In einem Augenblick erkannte sie, wie sehr sie sich im Stab an Amas mühelose Ordnung gewöhnt hatte und wie wohl sie sich darin fühlte.

    „Du bringst viel mehr als nur Ordnung in mein Leben", rutschte ihr heraus. Im nächsten Moment kam sie sich unsagbar dumm vor.

    „Weißt du, erwiderte Ama gelassen, „daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.

    Sie tauschten einen Blick, dessen elektrische Spannung ausgereicht hätte, das ganze Viertel zwei Wochen lang zu beleuchten.

    Mara schluckte und dankte Bitters Tradition dafür, dass sie ihr den nächsten Schritt mit schon fast liturgischer Verbindlichkeit vorgab.

    „Grün, rot, weiß?"

    „Weißer am Abend, erfrischend und labend", lächelte Ama. Sie hing ihren Mantel über die offene Tür von Maras spärlich gefülltem Kleiderschrank und stellte ihre Stiefel daneben. Dann zog sie ihre Strümpfe aus, roch missbilligend an ihnen und stopfte sie schließlich in einen Stiefelschaft.

    „Setz dich, sagte Mara von ihrem kleinen Herd aus, wo sie mit der Kanne hantierte. „Wenn dich mein Krimskrams stört, schmeiß ihn auf den Boden.

    Ama hatte das Durcheinander auf Maras komischen altmodischen Stühlen im Handumdrehen sortiert. „Ich schmeiß nichts auf den Boden, was dir gehört", erwiderte sie beiläufig.

    Der Satz ließ Mara schmelzen.

    Sie kam mit der Kanne und zwei Humpen zu dem kleinen Tisch, an dem Ama sich niedergelassen hatte.

    Da saßen sie nun, die Humpen mit dem heißen Tee in den Händen. Es knisterte, Ama meinte, man müsste es noch unten auf der Straße spüren.

    „So", sagte sie.

    Beide kicherten nervös.

    Mara schluckte, setzte zu reden an und schluckte wieder. „Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll", brachte sie schließlich heraus.

    „Das Wichtige zuerst in Kürze, die Details anschließend", riet Ama, ganz hilfreiche Sekretärin.

    „Na, schön", erwiderte Mara und senkte den Blick.

    Dann gab sie sich einen Ruck.

    „Du fragst dich vielleicht, warum ich ausgerechnet heute nachgegeben habe", sagte sie.

    „Naja, weißt du, antwortete Ama und lächelte ein wenig gequält, „so schwer ist das wirklich nicht zu erraten. Übermorgen verschwindest du für ein Vierteljahr, die-Mutter-weiß wohin. Da war es irgendwie jetzt oder nie, nicht wahr? Hättest du’s nicht getan, hätte ich es.

    „Du weißt gar nicht, wie leid es mir tut, dass ich dich so lange habe zappeln lassen", platzte Mara heraus. Sie streckte ihre Hand in Amas Richtung aus, ließ sie aber auf halber Strecke auf die geklöppelte Tischdecke sinken.

    Ama legte ihre Hand auf Maras.

    „Schsch, machte sie, „darüber reden wir irgendwann mal. Jetzt sag mir lieber, was du mir sagen willst.

    Mara schloss die Augen und holte tief Luft.

    „Was weißt du über den Lebensbaumkult?" fragte sie.

    Ama runzelte die Stirn.

    „Er ist Teil des Kults der Schmutzigen Mutter, begann sie, „wenn ich auch ehrlich gesagt nie verstanden habe, was er damit zu tun hat. Es gehört zum guten Ton, dass jeder Konvent der Mutter einen Lebensbaum hat. Und wer einen sein Eigen nennt, hütet ihn wie seinen Augapfel, weil die Dinger sich aus irgendeinem Grund nicht mehr fortpflanzen.

    „Was weißt du über die Mütter von Lebensbäumen?" fragte Mara weiter.

    Ama warf ihr einen verwunderten Blick zu. „Naja, erwiderte sie, „angeblich werden die Lebensbäume von menschlichen Frauen irgendwie geboren und in die Erde gesetzt. Es ist eine Sage, schloss sie und zuckte die Schultern.

    „Ist es nicht", seufzte Mara.

    Ama runzelte ein weiteres Mal die Stirn. „Was macht dich da so sicher?" fragte sie vorsichtig.

    „Ich bin eine Lebensbaummutter."

    Noch oft würden Ama und Mara in Zukunft zueinander sagen, dass sie sich liebten und vertrauten. Doch nie würde Mara die Liebeserklärung vergessen, die ihr Ama in diesem Augenblick mit einem einzigen Wort gab.

    „Erzähl", sagte sie einfach.

    Mara atmete auf. Mit ihrem Atem ließ sie die Ängste und Bedenken zweier Jahre aus sich herausfließen.

    „Als ich zur Welt kam, begann sie, „hätte ich eigentlich tot sein müssen. Eine ganze Reihe meiner Organe sind nur in Ansätzen entwickelt, die Leber, die Nieren und und und. Es ist das Sykdom meiner Familie. Meine Mutter und meine Großmütter haben mir den … einen Symbionten eingesetzt, der meine Organe ersetzt und mich am Leben hält.

    Sie hielt inne.

    Ama nickte ihr aufmunternd zu. Mara schüttelte sich, als ob sie einen unangenehmen Gedanken loswerden wollte.

    „Während meiner Kindheit war das alles überhaupt kein Problem, fuhr sie fort. „Ich war gesund, der Symbiont funktionierte und ich habe fast zwei Jahrzehnte kaum einen Gedanken an das alles verschwendet.

    Mara hielt noch einmal inne. Dann schien sie sich einen Ruck zu geben.

    „Doch vor zwei Jahren hatte ich eine, sie schluckte wieder, „eine sehr üble Begegnung mit einem anderen Telepathen. Das heißt, ich und meine beiden Brüder. Das war auch der Anlass, warum wir das Korps ins Leben gerufen haben. Und seitdem hat sich mein Symbiont völlig verändert.

    Sie zog eine schmerzliche Grimasse.

    „Wie?" fragte Ama und beugte sich vor, wie um besser zu hören.

    Mara senkte wieder den Blick.

    „Also beispielsweise treten in unregelmäßigen Abständen Knospen aus meiner Haut, fuhr sie schließlich fort, „aus denen Blätter werden. Bis sie welken, sind sie fest mit meinem Nervensystem verbunden und sie abzutrennen, tut fast so weh, wie sich einen Finger abzuschneiden.

    Sie seufzte und rieb sich die Oberarme.

    „Am Körper lasse ich sie deshalb einfach ausreifen, machte sie weiter, „im Gesicht und an den Händen natürlich … Mara zuckte mit den Achseln und zeigte Ama ihre Handrücken. „Deshalb habe ich diese Narben."

    Ama stand auf, ging um den Tisch herum und kauerte sich vor Mara hin. Sie verschränkte ihre Unterarme auf Maras Schenkeln und musterte ihre Freundin mit anbetungswürdig geneigtem Kopf.

    „Da ist aber noch mehr, nicht wahr?" sagte sie.

    Mara nickte, ihre Augen wehrlos.

    Jetzt kommt’s, dachte Ama. Jetzt kommt’s. Lange genug hat’s ja gedauert.

    „In bestimmten Abständen bekommt der Symbiont so was wie einen Ableger, sagte Mara zittrig, „einen Ableger, den ich in die Erde pflanzen muss, sonst stirbt mein Symbiont und ich mit ihm.

    Amas Augen wurden groß.

    „Oh, Mutter, hauchte sie, „ein Lebensbaum.

    „Ja, sagte Mara und schnaubte. „Nur, wenn die erbaulichen Texte sagen, die Mütter würden die Lebensbäume mit ihrem Fleisch nähren, dann ist das mehr als eine klangvolle Metapher.

    Ama starrte ihre Freundin an.

    „Um Wurzeln schlagen zu können, fuhr Mara fort, „braucht der Setzling meine körperliche Substanz. Er stellt mich wieder her, sobald er selbst genügend Substanz aufgebaut hat. Nach einem Vierteljahr entlässt er mich aus sich, so wie ich es vorher mit ihm gemacht habe.

    Die Erkenntnis durchzuckte Ama wie ein elektrischer Schlag.

    „Du…", begann sie. Doch zum ersten Mal wagte sie sich nicht weiter.

    „Ja, nickte Mara, „der Preis dafür, dass der Baum und ich leben können, ist, dass ich übermorgen im Konvent in Leinen sterben muss.

    Die Prinzessin ignorierte den massiven Zutritt-Verboten-Geruch, der an der Tür hing, und drang in den zentralen Raum der Stadt ein, Seele, schlagendes Herz und Kommandozentrale ihres Volkes. Sie scheuchte die Wächter mit ein paar Spritzern ihrer Duftdrüsen beiseite und ging auf die Königin zu.

    Als eine Reform gegenüber der Praxis ihrer Vorfahrinnen hatte ihre Mutter die Bauweise ihrer Räumlichkeiten geändert. Vorher hatten sich die Königinnen in zwei getrennten Räumen einmauern lassen, Kopf und Vorderkörper in einer Art Audienzzimmer, den gewaltigen Hinterleib in einer riesigen Eiablagehalle. Die Mutter der Prinzessin ruhte nun in einem Thronsaal auf einer riesigen, rampenähnlichen Liege. Von vorne betreuten und fütterten sie ihre Ammen, während am hinteren Ende Arbeiter ebenso routiniert wie sanft die Eier aus ihrem Körper zogen und davontrugen.

    Die Prinzessin stieg die Stufen zum Kopfende hinauf.

    Oben empfing sie ein Geruch aus Stolz und Ärger: Stolz darüber, dass sie in der Lage war, den Abwehrgeruch des Eingangs einfach zu ignorieren. Ärger aus genau dem gleichen Grund.

    „Ich … muss … mit … dir … reden", sagte die Prinzessin langsam und unbeholfen.

    Kein Verständnis. Abwarten.

    Die Prinzessin sandte resigniert das entsprechende Geruchssignal.

    Ihre Mutter reagierte mit einer Dunstwolke aus Zustimmung, Entspannung und Kooperationsbereitschaft.

    Da war er wieder, der Abgrund, dachte die Prinzessin. Wie sollte sie – ausgerechnet sie, die selbst nie wirklich sprechen gelernt hatte – nun die kruden Gedankenfetzen ihres Wortgedächtnisses in eine Sprache übersetzen, in der es für Gefühle wie Zweifel und Ungewissheit keine Entsprechungen gab?

    Sie sandte das Signal für draußen und ihr Namenssymbol.

    Die Königin antwortete mit einem Duft, der Ausspähen und Problem in einer Frage verband.

    Die Prinzessin durchflutete ein Gefühl der Erleichterung, das sich unwillkürlich in einer Duftwolke äußerte. Ihre Mutter wollte ihr offenbar helfen.

    Sie sandte das Zeichen für Paarung.

    Die Mutter reagierte mit Erheiterung und einem Angebot, Soldaten auszuschicken.

    Sackgasse.

    Die Prinzessin sandte den Geruch für Menschen ohne die Paarungsassoziation.

    Zurück kam die Bitte um weitere Informationen.

    Wie sollte sie die Brücke bauen?

    Dann hatte sie eine Idee. Sie sandte einen seltenen Geruch, der grundlegende Krise und Veränderung signalisierte und normalerweise bedeutete, dass die Stadt in ihrer Gänze in Gefahr war. Sie fügte Menschen hinzu und ergänzte das Ganze durch Beute machen und ihr Namenssymbol.

    Als Antwort kam von ihrer Mutter, zögernd wie der Prinzessin schien, der Duft für ihren Titel mit der Hinzufügung gefährlich und Angst um die eigene Art.

    Sie antwortete mit Zuneigung und Dankbarkeit, bestand aber auf ihrem Anliegen.

    Anscheinend hatte die Mutter verstanden. Jetzt schien sie mit sich zu ringen, ein ungewohnter und beunruhigender Geruch.

    Plötzlich sandte die Mutter ein herrisches Duftsignal an zwei Ammen, die davoneilten und einen Offizier holten. Die Mutter gab ihm einen komplexen Code und schickte ihn fort mit hoher Dringlichkeit. Signal an die Tochter mit der Bitte um Geduld, nur kurz.

    Sie warteten – länger als nur kurz, wie die Tochter fand, aber wer wusste, was der Offizier zu holen hatte und von wo in der riesigen Ansiedlung.

    Schließlich kam eine Gruppe von Soldatenpflegern. In ihrer Mitte bewegte sich etwas Großes, das die Tochter erstarren ließ. Ein Langstreckenspäher. Das Besondere an ihm war freilich die Membran, die ihn einhüllte. Mit einem Schock erkannte die Prinzessin, dass es Haut war, ganz so wie ihre eigene.

    Also hatte ihre Mutter alles gewusst und seit langem geplant.

    Ihr Geruch von Verärgerung und Enttäuschung entging der Mutter nicht. Doch die Prinzessin roch nichts als das kühle Aroma des Aufbruchs. Während ihr Duftgehirn nüchtern konstatierte, das Problem sei damit gelöst, war ihr Wortgedächtnis wütend und traurig.

    Was vermisste es?

    Diffuse Bilder von Umarmungen mit anderen Menschen und Gefühle der Verlassenheit verwirrten sie. Sie beschloss, sie zu ignorieren, kontaktierte und unterwarf den Elitesoldaten.

    Ihre Mutter reagierte auf die schnelle Zähmung mit Stolz und Zufriedenheit. Doch dann zögerte sie erneut. Wieder schien sie mit sich zu ringen.

    Wie seltsam.

    Schließlich gab die Königin sich einen sichtbaren Ruck. Sie sandte einer Amme, die in der Nähe wartete, ein Signal. Die Amme verschwand hinter einer Tür, die die Prinzessin noch nie gesehen, geschweige denn gerochen hatte. Wenig später kam sie zurück und hielt mit sichtlichem Widerwillen der Prinzessin zwei Kokons zur Begutachtung hin.

    Die Prinzessin starrte auf sie hinunter.

    Sie sah zwei Kopien ihrer selbst, zwei Larvenprinzessinnen. Sie stanken nach Ammoniak, ein Geruch, der den Tötungsreflex der Prinzessin blockierte. Eine der Larven war winzig und völlig dormant. Die zweite jedoch krümmte sich in ihrer Hülle, bereit, demnächst auszuschlüpfen.

    Ihr Ersatz.

    Diesmal reagierten Wortgedächtnis und Duftgehirn wie eine Person mit Ärger und verletztem Stolz. Die Tochter signalisierte dem Späher, ihr zu folgen und verließ ohne weitere Signale und ohne sich umzudrehen den Thronsaal.

    Nur wenig später stand sie mit dem Späher in der kalten Luft vor dem nordwestlichen oberen Tor, das sich langsam hinter ihr schloss.

    In Maras Zimmer schien die Zeit den Atem anzuhalten. Ama kauerte vor ihrer Freundin, so bewegungslos wie eine Statue. Allerdings hätte Mara schwören können, dass Ama in der Lage war, das Licht in ihren Augen willkürlich heller leuchten zu lassen. Ein wildes Gefühl begann in Maras Brust mit den Hufen zu scharren

    „Lass mich mitgehen", sagte Ama.

    Mara sah sie an und schluckte. Und schluckte noch einmal. Und noch einmal.

    „Das würdest du tun?" fragte sie schließlich.

    Ama beschränkte sich darauf, ihr einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Ama war ziemlich gut, was vorwurfsvolle Blicke anging.

    Mara stand etwas zittrig auf, half ihrer Freundin hoch und wollte sie an sich ziehen.

    Doch Ama entzog sich ihr und hielt ihre Hände fest.

    „Einen Augenblick noch", sagte sie, „erst bin ich noch dran mit meiner Geschichte. Denn es gibt nicht nur ehrfurchterregende mystische Symbionten, es gibt auch ziemlich bizarre moderne."

    „Jetzt", lächelte eine mittlerweile ziemlich selige Mara zurück, „hast Du mich neugierig gemacht."

    Ama wandte sich von Mara ab nestelte den Ärmel ihrer Uniformbluse auf. Sie drehte am Schaft ihrer Prothese, die sich widerwillig von ihrem Arm löste.

    „Ich wurde ohne linke Hand geboren, sagte sie, Mara immer noch den Rücken zukehrend, „du weißt ja, wie es ist. Es ist die Plage unserer Familie, unser Sykdom, wie ihr hier in Center sagt. Mein Onkel Tobíyyo ist deshalb Biomechaniker geworden. Er ist einer der besten, er hat Kunden im ganzen Innen. Schon als Kind hat er mir eine Zooprothese versprochen, sobald ich mein Wachstum abgeschlossen haben würde.

    Sie holte tief Luft.

    „Ich bin nach Center gekommen, damit ich so leben kann, wie ich bin. Nun, ich bin Sapphe und kann als Sapphe leben. Ich bin Telepath und kann als Telepath leben. Aber im ganzen Korps hat niemand außer mir eine Zooprothese. Also habe ich das Blechding da lieber anbehalten. Naja, zwei von drei ist nicht so übel, oder?"

    „Ich will sie sehen", sagte Mara.

    „Bist du sicher?" fragte Ama mit einer Unsicherheit, die alles andere als gespielt war.

    Mara verzog das Gesicht. Ama unsicher, das war etwas, das in der Seele wehtat.

    „Und wie ich sie sehen will", knurrte sie.

    Langsam drehte sich Ama um. Da, wo ihre linke Hand sein sollte, leuchtete etwas in Smaragdgrün, Lackschwarz und Gold, wie ein opulentes Schmuckstück. Aus einer Öffnung, die, so erkannte Mara verblüfft, nichts weiter als ein Maul sein konnte, schnellte eine rubinrote Zunge hervor.

    Der Kopf einer Mázasgaziviper – so groß wie Amas Hand gewesen wäre, hätte sie je eine gehabt.

    Mara musste tief Luft holen.

    „Oh Mutter, ist die prachtvoll", brachte sie heraus, ohne ihren Blick von dem Wunder an Amas Arm lassen zu können.

    Jetzt war es an Ama, aufzuatmen.

    „Darf ich?" fragte Mara mit einem Kloß in der Kehle und streckte ihre Hand aus.

    Ama hielt ihr den Arm hin. Mara streichelte mit leuchtenden Augen über die körperwarme und überraschend weiche Schuppenhaut.

    „Ich kann damit nicht nur greifen und Dinge halten, sagte Ama, plötzlich stolz. „Ich kann damit sehen und riechen, ich kann atmen und sogar ein bisschen Nahrung zu mir nehmen. Mein Onkel hat den Kopf an meine Luft- und meine Speiseröhre angeschlossen.

    Sie wies mit dem Finger auf eine kaum sichtbare weiße Narbe, die sich auf dem Rücken einer länglichen Wölbung an der Innenseite ihres Arms entlang zog.

    „Ich habe sogar Giftzähne", fügte sie hinzu und bewegte den Arm ruckartig. Das Maul der Schlange öffnete sich weit und zwei blitzende, elfenbeinweiße Dolche schnellten hervor.

    „Aber du brauchst keine Angst zu haben", fügte sie in plötzlichen Erschrecken vor sich selbst hinzu.

    Mara lächelte, ihre Augen leuchteten wie die Sonne an einem Frühlingstag.

    „Ich werde niemals vor dir Angst haben, Ama Ridhmélis, sagte sie. „Wenn man nach zwei langen Jahren endlich da ankommt, wo man zu Hause ist, dann hat man keine Angst.

    Sie zog Ama an sich.

    Sie fingen an sich zu küssen und hörten erst einmal ein ganze Weile nicht mehr damit auf. Sie küssten sich, als sie sich die restlichen Kleider auszogen und sie küssten sich, als sie gemeinsam unter Maras Deckenhaufen krochen. Sie hörten erst auf sich zu küssen, als sie einschliefen, Maras Hand ebenso sanft wie unerbittlich festgehalten vom Maul von Amas Schlange.

    Es nieselte schon seit Tagen aus tiefhängenden Wolken, die ein flauer Südostwind behäbig in die zum Innen hin immer schmaler werdende Rahfitisee hineintrieb. Geduldig arbeitete sich der mit drei Walzensegeln bestückte schwere Vagabundfrachter ‚Kahle Katerine’ (von den ihn bemannenden Seeleuten liebevoll Trine genannt) die Ostküste des Südkontinents Sáut entlang. Ziel war die Faktorei Großes Tal, eine der größten und bedeutendsten Handelsstationen auf Sáut.

    Die Vagabundfrachter umfuhren die Kontinente und besuchten eine Faktorei nach der anderen. Sie lieferten aus dem Innen alles, was die großen Außenposten der Menschheit nicht selbst herstellen konnten und sie brachten Arbeiter, die die Hanse (die Gilde der Faktoreien) im Innen angeworben hatte. Die Faktoreien hatten immer Bedarf an frischem Personal,

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