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Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe: Band drei der Chroniken zwischen Innen und Außen
Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe: Band drei der Chroniken zwischen Innen und Außen
Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe: Band drei der Chroniken zwischen Innen und Außen
eBook739 Seiten9 Stunden

Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe: Band drei der Chroniken zwischen Innen und Außen

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Über dieses E-Book

Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe ist ein Steampunk-Fantasyroman mit einem Schuss Satire. Im Mittelpunkt stehen die Abenteuer einer Gruppe von Telepathen auf dem Planeten Bitter - einer Welt, die ganz anders ist als unsere und doch seltsam ähnlich.
Die Anführerin der Telepathen, Herzogin Mara von Dyckeburg, ihre Lebensgefährtin Ama und ihre Wahlfamilie versuchen alles, um ihrer gefürchteten Minderheit Anerkennung zu verschaffen. Dabei verstricken sie sich in zahllose Abenteuer. Mara gebiert telepathisch begabte Bäume. Ihr Bruder entdeckt mehrere fremde Rassen und heiratet schließlich eine Insektenkönigin. Die Telepathen helfen einem befreundeten Land in seinem Krieg gegen eine feindliche Telepathin, die wie eine große Glaskugel voll Eierlikör aussieht. Doch damit fängt alles erst an...
Alles ist auf Bitter in Bewegung: Von der Anzahl der Beine bis zur Geschlechtszugehörigkeit - alle Gewissheiten sind im Wanken, große Veränderungen stehen bevor. In diesem Strudel kämpfen Mara und ihre Familie darum, trotz aller Ängste und Vorurteile gegen sie eine Gemeinschaft der fühlenden und denkenden Wesen aufzubauen, eine Gemeinschaft, die größer ist als die Menschheit.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Sept. 2021
ISBN9783347181281
Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe: Band drei der Chroniken zwischen Innen und Außen
Autor

Martin Engelbrecht

Kulturwissenschafter und freier Autor, verheiratet. Interessiert an den Themen Sexualität & Gender, Spiritualität & Religion, Sprachen, Kunst, Musik, sowie Fantasy und SF aller Arten und aller Sorten. Webseite: https://www.deviantart.com/martinengelbrecht (einfach auf die Weltkugel unter dem Autorenfoto klicken)

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    Buchvorschau

    Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe - Martin Engelbrecht

    Aussprache der Eigennamen

    „Folgende Liste mag das geneigte Leservolk mit dem Stifte kopieren und bei der Lektuere neben sich legen. So verfuegt man ueber eine Hilfe, die Eygennamen in korrekter Weise auszusprechen. Man wird mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass man die Laute bald auswendig versteht und setzt, als gehoerten sie zur eigenen Sprache. Diese Erweiterung der Sprachfaehigkeiten ist in unserem Sinne, erweitert doch jede Moeglichkeit zu sprechen auch unsere Moeglichkeiten zu denken.

    Th – Ein stumpfer Zischlaut, erzeugt, indem man die Zunge nahe an die oberen Zaehne fuehrt, ohne sie jedoch zu beruehren und dann die Luft ausblaest.

    Dh - Der naemliche Zischlaut, diesmal lediglich stimmhaft, das heisst, zusaetzlich lasse man ein Summen in der Kehle erklingen.

    J – Wie ein Sch, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

    Dj - wie das J, aber mit einem D als Anlaut.

    Y – Als Mitlaut wie das herkoemmliche J, als Selbstlaut wie ein I sprechen.

    Yy - Wie ein herkoemmliches ij.

    V - Wie ein F, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

    Z – Wie ein S, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

    Gh - Wie ein Ch in Nacht, aber wieder mit dem Summen in der Kehle.

    W - Zwischen dem herkoemmlichen W und dem U angesiedelt.

    Die Betonung haben wir durch Akzente vereindeutigt, wo immer sie dem Sprachgefuehle des Leserkreises zuwiderlaufen koennte."

    (Auszug aus der „Enzyklopädie obskurer Worte und Redewendungen", Weiß und Rosenrot Willkopp, 1180, neu editierte XXIV. Auflage von 1299. Trueb, Wissenschaftlicher Fachverlag der Alma Mater von Trueb, S. VI.)

    Was bisher geschah

    Mara: „Willkommen auf Bitter! Mein Name ist Mara Dyckeburg. Ich soll euch erzählen, was bisher passiert ist. Bevor ich das mache, muss ich mich noch bei meiner Ama bedanken. Sie tippt das Ganze, denn ich bin alles andere als versiert im Umgang mit Typographen.

    Zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte losgeht, kommen Ama und ich gerade aus der Union zurück …"

    Ama: „Findest du nicht, du solltest den Leuten am Anfang ein bisschen was über die Geographie von Bitter erzählen? Sonst haben die ja keine Ahnung, wo was ist."

    Mara: „Geographie schreckt die Leute ab! Mein Bruder Héyyu ist dabei immer eingeschlafen."

    Ama (lächelt gewinnend): „Mach’s halt kurz. Du kannst doch so gut erklären."

    Mara (seufzt): „Schön, ich probier’s. Also: Auf Bitter gibt es drei Kontinente, die alle in etwa gleich aussehen, nämlich wie Grünbeerenblätter."

    Ama: „Die haben doch keine Ahnung, wie Grünbeerenblätter aussehen."

    Mara (verdreht die Augen): „Eier, in Ordnung? Eier mit Beulen und Dellen hier und da. (Räuspert sich.) Diese drei Kontinente sind angeordnet wie die Arme eines großen T. Den linken Arm bildet der Kontinent Sánigodaun, den unteren Sáut und den rechten Sánkamap.

    Da wo die drei spitzen Enden der Kontinente zusammenstoßen, leben wir Menschen. Wir nennen diesen Bereich das ‚Innen’. Er ist von einem riesigen kreisförmigen Gebirge aus unzerstörbarem Glas umgeben, das wir den ‚Wall’ nennen. Wer ihn geschaffen hat, weiß keiner.

    Das ‚Innen’ umfasst von jedem Kontinent ein Stück und dann gibt es noch ein paar Inseln. Das Meer innerhalb des Walls nennen wir Binnensee. Alles, was jenseits des Walls liegt, heißt ‚Außen’.

    Wir selbst kommen aus Center, das ist eine Inselgruppe, die in der Mitte der Binnensee liegt. Das heißt, eigentlich kommen wir vom ‚Letzten Berg’. Das ist ein Land, das jetzt zu Center gehört, früher aber unabhängig war."

    Ama: „Ich persönlich stamme aus Grünland."

    Mara: „Tust du. Inzwischen bist du aber eine echte Letztberglerin. (Räuspert sich). Insgesamt gibt es auf Bitter zwölf Staaten. Die zu beschreiben schenke ich mir jetzt, am Ende des Buches findet ihr dazu eine ‚Kleine Geographie Bitters’."

    Ama: „Na bitte, war doch gar nicht so schwer."

    Mara: „Wunderbar, dann kann’s jetzt richtig losgehen. Ich leite das ‚Königliche Institut für Telepathie’, kurz KIfT. Wir beliefern die Marine mit ausgebildeten Telepathen, die die centrischen Schiffe im Außen vor den großen Seemonstern beschützen sollen, deren liebste Freizeitbeschäftigung zu sein scheint, menschliche Schiffe zu versenken. Da gib es Seespeere, Bajonettwale, Sägerücken und andere unleidliche Sorten. Kann ich jetzt mit dem weitermachen, was wir erlebt haben?"

    Ama: „Mach nur. Ich rühre mich, wenn ich denke, sie müssen noch was erklärt bekommen."

    Mara: „Schön. Unser Institut ist vom Ersten Minister von Center, einem gewissen Herrn Von See sehr gefördert worden. Das natürlich nicht aus Nächstenliebe. Eine Aufgabe, die das Institut für ihn erledigen sollte, war die ‚drei anderen Kinder Gottes’ zu finden."

    Ama: (Räuspert sich)

    Mara: „Ich erklär’s ja! Es gibt eine uralte Sage, die behauptet, die Menschheit sei zusammen mit drei weiteren intelligenten Völkern auf dieser Welt gelandet. Die meisten Leute hielten die Geschichte für ein Märchen. Um es gleich zu sagen, wir haben alle drei entdeckt und noch ein Volk dazu, quasi als Bonus.

    Na gut. Eines dieser Völker hat sich als besonders unleidlich herausgestellt. Seine Anführerinnen sind mächtige Telepathinnen. Sie sind flüssig, riesig groß, blassgelb und bewegen sich in fliegenden Glaskugeln durch die Gegend."

    Ama (kichert): „Weißt du noch, wie Em sie genannt hat? Sadistischer Eierlikör?"

    Mara (grinst): „Jedenfalls hat eine von denen ein großes Rudel von Töpfen telepathisch eingefangen und damit die Union angegriffen, das ist ein Staat auf dem Westkontinent Sánigodaun. Töpfe sind Viecher, so groß wie Häuser, haben acht kurze Beine, sehen aus wie – gütige Mutter – na, wie umgedrehte Schiffsrümpfe. Sie sind wahnsinnig gepanzert und fast unbesiegbar.

    Schön. Die Union hat Center um Hilfe gebeten und die Sache blieb an uns hängen. Wir haben die Töpfe dann mit Hilfe von Natsunas Beilspringern besiegt."

    Ama: „Natsuna ist eine gute Freundin von uns. Sie hat keine Arme, ist Ingenieurin und züchtet Beilspringer."

    Mara: „Genau. Beilspringer heißen so, weil ihre Köpfe wie Axtklingen aussehen und auch so hart sind. Sie haben sechs Beine, sind anderthalb mal so groß wie Pferde und gelten als aggressive Monster. In Wirklichkeit sind sie aber sehr liebe Tiere, wenn man sie nur gut behandelt."

    Ama: „Genau wie du. Solange man lieb zu dir ist, bist du auch umgänglich und folgsam."

    Mara: „Bäh."

    Ama: „Selber bäh."

    Mara: „Na schön. Wir haben also die Töpfe mit Hilfe der Beilspringer besiegt und den sadistischen Eierlikör auch, und zwar mit Hilfe eines Lebensbaums, den ich in die Welt gesetzt habe. Sag nichts, ich weiß, dass ich das jetzt erklären muss."

    Ama: (Schweigt beflissen.)

    Mara: „Also bei uns gibt es viele Mutationen. Die negativen nennen wir ‚Sykdom’, so wie Natsunas fehlende Arme. Die positiven nennen wir ‚Gaven’, so wie unsere Telepathie. Ich bin ziemlich syk, mir fehlt ein Haufen innerer Organe. Dass ich trotzdem am Leben bin, verdanke ich einem ‚Lebensbaumvater’. Das ist ein Symbiont, den mir meine Urgroßmutter bei meiner Geburt eingesetzt hat. Doch das Ding hat seine Tücken. Seit ein paar Jahren wachsen in mir Lebensbäume heran. Fast jedes Jahr muss ich einen pflanzen, sonst stirbt mein Symbiont und ich mit ihm.

    ‚Pflanzen’ heißt, ich setze mich auf eine Wiese und – naja – ermögliche es dem Baum, dass er aus meinem Körper herauskommen und in der Erde Wurzeln schlagen kann. Dabei sterbe ich jedes Mal und werde anschließend von dem Baum wieder wie neu in die Welt gesetzt. Das Ganze ist … (schluckt) … naja, sagen wir, es ist so unangenehm, wie es klingt. Aber jedenfalls haben wir mit Unterstützung von Sait …"

    Ama: (Räuspert sich wieder.)

    Mara (seufzt): „Sait ist der Lebensbaum, den ich zur Zeit auf Raten in die Welt setze. Er ist ein telepathisches Gruppenwesen, das aus sieben Bäumen besteht: Sait selbst und sechs Seitentriebe, die Bruderbäume. Da sie ausschließlich telepathisch miteinander verbunden sind, können sie über die halbe Welt verteilt stehen. Sait hat uns geholfen, einen seiner Bruderbäume so schnell wachsen zu lassen, dass er das Glas des sadistischen Eierlikörs zerschlagen konnte. Likör tot, alles gut.

    Schön. Ich glaube, das ist das Wichtigste, was sie über unsere Abenteuer wissen müssen."

    Ama: „Sollte reichen. Wir haben schließlich noch eine Reihe weiterer Geschichten zu erzählen."

    Mara: „Gut. Mein Bruder Edavi war gleichzeitig auch sehr fleißig. Er hat nicht weniger als drei der intelligenten Rassen entdeckt, die ich vorhin erwähnt habe."

    Die erste heißt ‚das bunte Volk’. Das sind Leute, die uns Menschen sehr ähneln. Sie leben versteckt in einer Höhle auf dem Südkontinent Sáut in einer Diktatur, an deren Spitze – zu unserer Schande sei’s gesagt – Telepathen stehen. Diese Leute kennzeichnen jeden Menschen ihres Volks von Geburt an mit einer bestimmten Farbe. Die Violetten sind die Herren, die Grauen die Sklaven, die Roten und die Blauen die Krieger und so weiter."

    Ama (rümpft die Nase): „Die Farbe wird mit einem Pilz auf der Haut fixiert. Nicht nur diskriminierend, sondern auch schrecklich eklig."

    Mara: „Ich fänd’s auch nicht so toll. Wie dem auch sei, die sind uns ebenfalls nicht freundlich gesinnt. Deshalb wurde beschlossen, eine Expedition zu ihnen zu schicken, um herauszukriegen, ob sie uns gefährlich werden können. Unsere Geschichte beginnt damit, wie diese Expedition zusammengestellt wird. Mein zweiter Bruder Héyyu führt sie an.

    Die nächste Art, die Edavi entdeckt hat – auch auf Saut – heißt ‚Steinschwimmer’. Sie sind starke Telepathen, die wie große, leuchtend blaue Eier aussehen. Sie leben tief unter der Erde im Gestein. Die Menschheit hat sie immer für Edelsteine gehalten und abgebaut. Aber in Wirklichkeit sind die ‚Honigtropfen’ – so werden die Edelsteine genannt – die Leichen von Steinschwimmern, die Licht ausgesetzt waren. Daran sterben die armen Dinger nämlich. Mein Bruder hat einen Steinschwimmer gerettet und ihn im tiefsten Keller unserer Burg vergraben."

    Ama: „Mara und ihre Brüder haben eine Burg, weil sie Hochadel sind. Die Herzöge von Dyckeburg! Beeindruckend, nicht? Und reich wie die Sünde dazu! Und die Lebenspartnerin der Herzogin von Dyckeburg bin ich kleine, dicke grünländische Sekretärin! Hat mir auch keiner an der Wiege gesungen."

    Mara (muss lächeln): „Streng genommen gehört die Burg unserem Großvater. Wie auch immer, sie heißt die Dyckeburg und liegt an der Grenze zwischen dem Letzten Berg und Center. Dort hat Edavi dem kleinen Steinschwimmer die Freiheit gegeben und ihn Frels getauft."

    Ama: „Jemandem die Freiheit schenken, indem man ihn im tiefsten Kerker einer Burg vergräbt. So was gibt es nur auf Bitter."

    Mara (grinst): „Schön. Weiter. Die dritte Rasse, die Edavi entdeckt hat, ist die raffinierteste. Sie lebt auf dem Ostkontinent und ist strukturiert wie Honigkerfe. Ihr nennt sowas, glaube ich, ‚staatenbildende Insekten’. Es gibt eine Königin, Arbeiter, Krieger und so weiter.

    Edavi ist auf die Hexeninsel gereist – das ist ein Staat an der Nordgrenze des Innen – um eine Frau des Bunten Volks zu finden. Sie heißt Falo und wird noch eine wichtige Rolle spielen. Er hat sie auch glücklich entdeckt und zwar bei drei mit ihm befreundeten Wissenschaftlern. Eine von ihnen, Kaya von Fort, entdeckt gerade ihre telepathische Gave, auch etwas, das in diesem Buch erzählt wird."

    Ama: „Noch eine Geschichte abgehandelt! Weiter so."

    Mara (grinst wieder): „Aber mein Bruder hat dort auch Ílygaid kennengelernt. Ílygaid ist eine Prinzessin der staatenbildenden Kerfe, die ich gerade erwähnt habe. Sie ist ins Innen gereist, weil sie ein Mittel finden will, wie ihr Volk Regen überstehen kann. Ihre Leute kommen nämlich von einer extrem wasserarmen Welt und sterben, wenn sie in den Regen kommen. Deshalb verstecken sie sich auch in der trockensten Wüste, die es auf Bitter gibt.

    Aber egal. Jedenfalls, Edavi trifft Ílygaid und stellt fest, sie ist seine Insektenkönigin für’s Leben."

    Ama: (Strahlt.)

    Mara: Bei ihrer Hochzeit hat Ílygaid meinen Bruder aufgefressen. Jetzt, am Anfang unserer Geschichte, wird er wiedergeboren."

    Ama: „Wiedergeboren werden ist, so scheint’s, eine Familientradition bei euch."

    Mara (zieht eine missgelaunte Grimasse): „Schon gut. Wen gibt es noch?"

    Ama: „Djella. Und du solltest noch was über Kavóy und das KIZENA sagen."

    Mara: „Djella ist Historikerin und hat von ihrem Bruder Kavóy den Auftrag bekommen, eine Geschichte der menschlichen Gaven zu schreiben. Dieser Auftrag sorgt dafür, dass sie einige ziemlich seltsame Abenteuer erlebt.

    Genau, Kavóy. Der ist selbst auch Historiker und leitet das ‚KIZENA’, das ‚Königliche Institut zur Erforschung neuer Arten’. Wir – also das Institut für Telepathie – und das KIZENA sollen eng zusammenarbeiten Leider will das einfach nicht klappen. Dauernd gibt es Streit."

    Ama: „Was unter anderem daran liegt, dass wir ihnen von den Dingen, die wir tun, die wichtigen Sachen samt und sonders verschweigen."

    Mara: „Gütige Mutter, was sollen wir denn machen? Ich habe zum Beispiel einen Torque. Das ist ein Gedankenschirm. Ein Abtrünniger des Volks der sadistischen Eierliköre, ein Mann namens Lagún hat ihn mir geschenkt. Mit solchen Torques könnten die Menschen die Telepathie komplett unterdrücken. Sowas binde ich doch Kavóy nicht auf die Nase!"

    Ama: „Ich sage ja nur, es ist eigentlich kein Wunder, dass er so misstrauisch ist."

    Mara (zuckt die Achseln): „Na, das werdet ihr ja alle schnell mitbekommen. Wer war dann noch da?"

    Ama: „Die Steinmäuse."

    Mara: „Richtig. Die darf man nicht mit den Steinschwimmern verwechseln, die ich vorhin erwähnt habe. Steinmäuse sind etwa kopfgroße Verwandte der Töpfe. Sie sind elend zäh, bissig und gefräßig. Aber zwei von ihnen – sie heißen Mally und Beno – haben aus irgendeinem Grund beschlossen, dass mein Bruder Edavi ihr Herrchen ist. Seitdem laufen sie ihm hinterher und erleben dabei etliche Abenteuer."

    Ama: „Bleiben noch Mela, Énvo und Málykcho."

    Mara: „Gut. Fangen wir mit Énvo an. Er ist ein Wissenschaftler des KIZENA. Eine Kollegin von ihm, eine Bibliothekarin namens Mdjándja hat ein Kochbuch mit ausgesprochen seltsamen Rezepten aufgetan. Die beiden beschließen, das Buch zusammen mit einem jungen Koch namens Tín zu erforschen und werden darüber ein Klan. Also wie eine Beziehung, nur zu dritt."

    Ama (selbstzufrieden): „Man kann auch ‚Ménage à trois’ dazu sagen."

    Mara: „Wo hast du das schon wieder gefunden? Im Willkopp?"

    Ama: „Der Willkopp ist ein Kultbuch bei uns. Da drin sind alle möglichen alten Worte gesammelt. Viele Eltern geben ihren Kindern Namen, die sie im Willkopp gefunden haben."

    Mara: „Zum Beispiel Deine und meine. Aber egal. Jetzt haben wir also Énvo und seinen Klan. Dann Mela. Ihr Abenteuer begann damit, dass einer von unseren Telepathen, ein junger Mann namens Regagódo desertiert ist, um in Sand ein eigenes Telepathenkorps aufzubauen."

    Ama: „Sand ist eine religiöse Diktatur im Südosten des Innen."

    Mara: „Stimmt. Jedenfalls ist unsere Mela, die eine ganz liebe ist, aber auch eine fromme Observante, ihm hinterhergereist und leitet zu Beginn der Geschichte die Mädchenabteilung dieses sandischen Telepathenkorps. Sie bereut allerdings schon bitter, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat."

    Ama: „Wir haben es aber geschafft, Kontakt zu ihr herzustellen."

    Mara: „Das erzählst du, das ist nämlich allein dein Verdienst."

    Ama: „Ich habe mich erinnert, dass mein Bruder Árgitsu – der ist Physiker in Schwanenburg, in Grünland. Also, mein Bruder eben, der züchtet Nachtweihen. Das sind kleine Raubvögel, mit denen man Botschaften austauschen kann. Und jetzt schreiben sich Mela und mein Bruder mit Hilfe einer Nachtweihe Briefe. So hoffen wir rauszukriegen, wie wir ihr helfen können."

    Mara: „Schön. Bleibt nur noch Málykcho. Den haben wir in der Union kennengelernt. Er ist eine Nervensäge, hat uns aber sehr geholfen. Ähnlich wie Lagún, von dem ich vorhin erzählt habe, ist er ein Abtrünniger des Volks der sadistischen Eierliköre. Ach ja, und er war der Diener oder Ehemann oder Sklave – was weiß ich – des sadistischen Eierlikörs, den wir getötet haben. Was er offenbar gut fand, denn er hat sich extra bei uns dafür bedankt.

    Am Beginn unserer Geschichte will er seinen Freund Náiramdal wiederfinden. Der ist aber mit seiner Freundin Gyöv Fischer geworden, hoch im Norden der Union. Also macht sich Málykcho auf den Weg."

    Ama: „Ich glaube, das war’s."

    Mara (erleichtert): „Das war einfacher, als ich gedacht habe. Wenn ihr mit irgendeinem Namen nichts anfangen könnt, hinten nachgucken, da gibt es ein ‚Wer ist Wer?’. Ach ja, und falls es jemanden interessiert: Ganz am Anfang des Buchs ist eine Aussprachehilfe für unsere Namen zu finden. Ich mein’ ja bloß."

    Ama: „Wie auch immer. Euch jedenfalls viel Spaß beim Lesen!"

    Verwandlungen, eine Traumfrau und eine Beilagscheibe

    Es dauerte eine Weile, bis es Málykcho gelang, Gyövs Wohnungstür aufzubrechen und er tat es nicht ohne schlechtes Gewissen.

    Nach der Schlacht mit den Töpfen hatte er noch einige Tage auf dem Drei-Säulen-Hügel verbracht. Er wühlte sich durch die Reste des Tempels, den die Herzogin mit ihrem Baumtrick zum Einsturz gebracht hatte, bis er Lagúns Torque fand. Die Herzogin würde ihn mit Sicherheit noch brauchen.

    Als die Reste seiner früheren Herrin zusammen mit den Trümmern ihres Fahrzeugs auf die Soldaten herabregneten, war ihm fast das Herz stehengeblieben. Doch das dicke Mädchen mit dem Vogelkind im Arm hatte ihm versichert, die Herzogin hätte den Zusammenstoß ihres Lebensbaums mit seiner früheren Herrin überlebt und würde nach einer Weile wieder auftauchen. Also überließ er dem Mädchen den Torque zusammen mit einer Notiz und machte sich auf den Weg.

    Es wurde Zeit, nach seinem Freund Náiramdal zu sehen, den er für die Zeit seines Abenteuers bei Gyöv untergebracht hatte, einer Kollegin aus den Zeiten, als er als Trapezkünstler im Zirkus gearbeitet hatte.

    Doch wer nicht da war, als er schließlich nach Neuwelt zurückgefunden hatte, war die hochgewachsene Artistin.

    Zwei Tage lungerte er mehr oder weniger rund um die Uhr vor ihrem Haus herum und nahm nur Deckung, wenn die lokalen Polizisten ihre Runden drehten. Gyöv blieb verschwunden und der Runamísti begann, sich Sorgen zu machen.

    Er ärgerte sich auch, dass die Artistin ihm so viele Hindernisse in den Weg legte. Zwei zusätzliche Sicherheitsschlösser und ein schwerer Metallriegel! Als ob er jemals Schaden angerichtet hätte, wenn er in ihre Wohnung eingebrochen war. Im Gegenteil, nach ihrem gemeinsamen Versuch, der Herzogin den Torque abzunehmen, hatte er Gyövs Peitschen aus der Asservatenkammer der Polizei zurückgeholt, ein nicht ganz unproblematisches Unterfangen.

    Endlich gab die Tür nach und schwang nach innen. Es war stockdunkel und Málykcho horchte erst einmal eine Weile. Dann bewegte er sich so lautlos er konnte den Gang entlang.

    Die Wohnung war leer.

    Jetzt wurde Málykcho nervös. Die Küche, der größte und schönste Raum, war ausgeräumt bis auf den Wasserhahn, der einsam und anklagend aus der Wand ragte. Wohn- und Schlafzimmer zeigten sich ebenso bar jeder Möblierung, was Gyövs deprimierende Tapeten erst richtig zur Geltung brachte. Blieben nur noch die beiden fensterlosen Kammern auf der anderen Seite.

    Málykcho öffnete die erste und riss die Augen auf.

    Der Raum war bis zur Decke mit schweren Holzkisten vollgestopft. Der Runamísti zerrte nicht ohne Mühe eine davon herunter und öffnete sie. Er fand fabrikneue Henrietten, schwere Repetiergewehre aus erzbergischer Produktion, sündhaft teure Präzisionswaffen.

    „Ich bin mal vorläufig bereit, zu glauben, dass du nichts damit zu tun hast, Gyöv", murmelte er beeindruckt.

    Im zweiten Raum sah es ähnlich aus. Nur lagerten hier zusätzlich noch eine Reihe schwerer, eingefetteter Ledersäcke. Málykcho öffnete einen und fand darin in geöltes Papier eingeschlagene funkelnde Schneidmädel, ebenfalls erzbergische Fabrikate.

    „Bei der Herzogin haben die Dinger ja sehr beeindruckend ausgesehen, grinste er. „Aber da ich keinen blassen Schimmer habe, wie man mit zweien davon gleichzeitig kämpft, nehm ich nur eines mit.

    Während er sich in einen der brandneuen Rückengurte hineinzwängte, fiel ihm ein, dass er noch keinen Blick in die winzige Speisekammer hinter der Küche geworfen hatte. Doch auch hier herrschte gähnende Leere. Málykcho wollte die kleine Holztüre schon wieder schließen, als ihm ein paar Kratzer auffielen, die für jeden anderen wie normale Abnutzungserscheinungen ausgesehen hätten. Er beschloss, ein Zündholz zu riskieren.

    Wir machen Urlaub. Du findest uns, wo wir damals dem merkwürdigen Metallwesen begegnet sind.

    Náiramdal

    stand dort in der uralten Schrift seines Volkes zu lesen.

    „Also wirklich, Junge, murmelte der Runamísti und grinste. „Jetzt habe ich mit dir eine Rechnung offen.

    Árgitsu Ridhmélis zog die Tür seiner winzigen Dachwohnung hinter sich zu. Amas Bruder arbeitete als Dozent für Physik an der Admiral-Scheindorf Universität, doch in Grünland rangierten Wissenschaftler in den Gehaltslisten nicht sonderlich weit oben. Überdies war die Wohnungslage in der Hauptstadt Schwanenburg katastrophal. So war der junge Physiker froh, überhaupt etwas gefunden zu haben und nicht auf das lärmige und schmuddelige Wohnheim der Universität angewiesen zu sein.

    Der Frühling hatte dieses Jahr ungewöhnlich zeitig seinen Einzug gehalten, so dass die klamme Kälte, die den ganzen Winter seine getreue Wohngenossin gewesen war, endlich wich. Um das zu feiern, hatte er in einer Garküche eine Beerenrehpastete erstanden, die er auf seinem winzigen vergitterten Balkon zu verzehren beabsichtigte. Dazu noch einen teuren Rotwein aus Wahrheimat. Zusammen mit der neuesten Vierton-Akkord Platte des berühmten Trompeters Werst Schleudermann für sein Grammophon (auch nicht gerade billig) sollte das einen schönen Stillentagsnachmittag ergeben.

    Er betastete vorsichtig das dicke Pflaster an seiner Hüfte. Gestern hatte er beim Arzt wieder eine Hautperle entfernen lassen müssen – ein Vorgang, der ihn immer schlecht gelaunt zurückließ. Früher hatte Ama das für ihn erledigt, schnell, unkompliziert und ohne Peinlichkeit aufkommen zu lassen.

    Hautperlen waren ein nicht allzu gefährliches, aber unangenehmes Sykdom. Im Inneren des Körpers – meist um die Hüften herum – entstanden milchnussgroße, in sanften Pastelltönen schimmernde Kugeln, die große Schmerzen verursachten, wenn sie nicht herausgeschnitten wurden.

    Árgitsu musste lächeln, als er sich erinnerte, wie es dazu gekommen war, dass sich Ama um sein Sykdom kümmerte.

    Schon als Zehnjährigen hatten ihn seine Eltern alleine zum Arzt geschickt. Er war nicht sonderlich glücklich darüber, sagte aber nichts. Seine Eltern, ein Mathematikprofessor und eine Philosophiedozentin waren von den praktischen Fragen des Lebens schnell überfordert und verließen sich gern darauf, dass er allein zurechtkam. So tappte er alle paar Monate gottergeben zum Hautarzt und ließ sich von dem übelgelaunten Kahlkopf und seiner grimmigen Sprechstundenhilfe die Perlen entfernen.

    Irgendwann kam einer von diesen Tagen. Die Universität, der seine Eltern angehörten, beraumte außerplanmäßig eine wichtige Sitzung an und verdonnerte alle Lehrenden zur Teilnahme. Mutter war am Rande der Panik, weil niemand da war, der auf Ama aufpasste.

    Árgitsu, der ganz genau wusste, dass seine Schwester es problemlos durch den Nachmittag allein zu Hause schaffen würde, bot sich an, Kinderfrau zu spielen, obwohl ein Hautarzttermin in seinem Kalender stand (was seine Eltern natürlich völlig vergessen hatten). Ama, von ihm vor die Wahl gestellt, zu Hause zu bleiben oder mitzukommen, beschloss nicht nur, ihren Bruder zu begleiten, sondern bestand darauf, bei der Prozedur anwesend zu sein. Der Arzt, den die Idee amüsierte, das kleine Mädchen zu erschrecken, machte aus dem harmlosen Eingriff eine umständliche Schau.

    Ama beobachtete alles wie ein Dornadler.

    „Wir müssen auf dem Heimweg bei Onkel Tobíyyo vorbeischauen", sagte sie, kaum dass sie die Praxis verlassen hatten.

    „Wozu denn das?", fragte Árgitsu mit einer gereizten Grimasse und versuchte, das schlampig aufgeklebte Pflaster unter seinem Hemd zurechtzuschieben, damit es nicht mehr so ziepte.

    „Er hat alles was ich brauche. Skalpelle, Zangen, Desinfektionsmittel, Verbandszeug, Nadel und Faden. Und er gibt uns das Zeug sicher gerne."

    „Was hast du damit vor? Willst du Arzt spielen?"

    „Unsinn", erwiderte Ama ungehalten. „In Zukunft werde ich dir die Dinger rausholen. Ich hab mir alles gemerkt. Das ist kinderleicht und dann musst du nicht mehr zu diesem aufgeblasenen Popanz."

    Árgitsu blieb stehen und dachte nach. Das war ein verlockender Gedanke und gar nicht so abwegig. Er kannte die einzigartige Sorgfalt seiner Schwester, die, kaum dass sie laufen konnte, begonnen hatte, sich liebevoll und zuverlässig um ihre beiden zahmen Larvenkaninchen zu kümmern. Nur wenig später brachte sie auch die Zimmerpflanzen zum Sprießen, die die Pflege seiner Eltern vorher stets nur mit knapper Not überlebt hatten.

    „Kommt mit", sagte Onkel Tobíyyo kurz angebunden, nachdem Ama ihm in seinem Büro ihr Anliegen vorgebetet hatte. Einer der grimmigen Wachmänner hatte sie hereingeführt. Obwohl Tobíyyos Firma streng gesichert war, kannten alle die Nichte und den Neffen ihres Chefs, denn die beiden gingen regelmäßig bei ihm ein und aus.

    Sie folgten ihrem Onkel aus dem Büro und durch eine Flucht von langen Gängen und steilen Treppen, bis sie in der großen Lagerhalle ankamen, in der ihr Onkel die Spendertiere für seine Transplantationen hielt. Es roch wie in einem Stall. Ein Dutzend Mitarbeiter kümmerte sich um die Tiere und hielt die Käfige sauber.

    Tobíyyo führte sie in die Kleintierabteilung, einen hohen Raum an dessen Wänden sich die vergitterten Kästen bis zur Decke drängten. Aus einem der Käfige zerrte er ein Larvenkaninchen. Dann führte er sie in einen Nebenraum und klatschte das bedauernswerte Tier so heftig auf einen Operationstisch, dass beide Kinder zusammenzuckten. Das verängstigte Tier blieb reglos sitzen, während ihr Onkel in den Schränken zu kramen begann.

    Er kam zu ihnen zurück und ließ alles, was Ama aufgezählt hatte, neben dem Kaninchen auf den Tisch fallen. Árgitsu starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

    Sein Onkel dagegen fokussierte sich auf seine Schwester.

    „Desinfizier´ es, mach einen Hautschnitt von fünf Zentimetern Länge an seinem Hinterfuß und näh’ ihn sauber wieder zu. Wenn du das kannst, kriegst du alles, was du verlangt hast. Ein bisschen muss ich schließlich auch auf meinen Neffen aufpassen. Ich halte es für dich fest. Traust du dich das?"

    Ama durchbohrte ihren Onkel mit Blicken. Dann begann sie die Instrumente und die anderen Hilfsmittel auf dem Tisch zu sortieren.

    Wenige Minuten später hatte sie die Prüfung erfolgreich hinter sich gebracht und ein sichtlich beeindruckter Onkel Tobíyyo begleitete die beiden persönlich zum Haupteingang.

    „Gib mir Bescheid, wenn dir was ausgeht." Mit diesen Worten verabschiedete er Árgitsus Schwester.

    Dann beugte er sich zu dem Jungen.

    „Meine sehr verehrte Schwägerin hat keine sonderlich hohe Meinung von deiner Schwester, raunte er ihm ins Ohr. „Aber ich rate dir, Junge, wenn du Ärger hast, halte dich an Ama. Sie hat mehr drauf als deine beiden Eltern zusammen.

    Árgitsu musste grinsen, als er mit Pastete und Weinglas auf den Balkon trat. Er hatte seinen Eltern nie von Tobíyyos Rat erzählt, das hätte in einer Katastrophe gemündet. Über Jahre entfernte seine Schwester ihm regelmäßig die Hautperlen, ohne dass es ein einziges Mal Probleme gab. Seine Eltern merkten nichts, bis die Sache irgendwann durch einen Zufall ans Licht kam.

    Árgitsus Mutter bekam den üblichen Tobsuchtsanfall, aber ihr Sohn bestand eisern darauf, dass Ama weitermachen durfte. Ama bot an, ihrer Mutter die Operation vorzuführen. Die lehnte schaudernd ab. Amas Vater rief seinen Bruder an, der ihm die ganze Geschichte bestätigte. Irgendwann resignierten beide Eltern und beschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Damit war die Sache erledigt. Erst als Ama dem Telepathenkorps in Center beitrat, musste ihr Bruder sich abermals widerstrebend auf die grünländischen Hautärzte einlassen.

    Ein unruhiges Scharren und Kratzen riss den jungen Physiker aus seinen Gedanken. Er sah hoch und erblickte in seinem Landekäfig die kleine Schwarzglanzfeder, die er mit dem Geld seiner Schwester (genauer gesagt mit dem Geld ihrer offenbar ordentlich gestopften Freundin) bei dem alten Bokh in der Weihenträgergilde gekauft hatte.

    Die Weihe war müde und abgekämpft, aber in gutem Zustand. Árgitsu setzte sie in seinen großen Käfig um, gab ihr Futter und Wasser und hängte ein schwarzes Tuch vor die Gitterstäbe, damit sie sich ausruhen konnte. Dann setzte er sich mit der silbernen Nachrichtenkapsel hinter seine Pastete und begann zu essen. Nun war er mal gespannt.

    Verehrte Goldene Schwester,

    begann der Brief.

    Der junge Physiker runzelte die Stirn.

    Ich freue mich, dass eine Glaubensgenossin Kontakt mit mir aufnimmt und ich fühle mich überaus geehrt, dass du mit mir über die heiligen Dinge unserer Religion sprechen willst. Gerne nehme ich deshalb dein Angebot an, mittels dieses entzückenden und tüchtigen Tiers zu Ehren des barmherzigen Gottes einen Austausch zu beginnen.

    Allerdings müsstest du mir einen Gefallen tun. Die heiligen fünf Verhüttungen, die du gewiss so getreu einhältst wie ich, verbieten es uns zu unserem eigenen spirituellen wie weltliche Wohl, Kontakt mit Männern aufzunehmen. Die gottwohlgefälligen Kommissare der erleuchteten Einrichtung, in der ich arbeite, wachen mit großer Sorgfalt darüber. Damit ich mit dir in einen geistigen Austausch treten kann, müsstest du mir deshalb in deiner nächsten Botschaft lediglich in der üblichen Weise versichern, dass du tatsächlich eine Goldene Gildenschwester bist, damit sie die Gottwohlgefälligkeit unseres Kontaktes bestätigen können. Ich bin sicher, du hast Verständnis für diesen kleinen Umstand, der unserer Freundschaft einen festen und sicheren Rahmen geben wird.

    Lass uns im Gebet und in Dankbarkeit all unserer goldenen Schwestern gedenken, denen wir soviel verdanken.

    Die Weisheit des Goldenen Lehrers sei mit dir

    Deine Schwester Mélaser

    Árgitsu schüttelte den Kopf. Vor etlichen Wochen hatte ihn seine Schwester in einer gekabelten Nachricht gebeten, mit der ihm völlig unbekannten Telepathin Mélaser Simbabínti in Sand per Botenweihe Kontakt aufzunehmen – die Kosten würde ihre Lebensgefährtin Mara übernehmen. Der junge Physiker hatte nach Luft geschnappt, als ihm auf der Bank der Wechsel von Amas Freundin in die Hand gedrückt wurde. Dann hatte er den sündhaft teuren, aber offenbar ausgesprochen zuverlässigen Botenvogel gekauft und nach Sand geschickt.

    Nun, anscheinend war er gut angekommen. Doch die Sache ließ sich komplizierter an, als seine Schwester es in ihrem Kabel hatte klingen lassen. Erfreulicherweise kannte er einen observanten Gelehrten, der ihm hoffentlich dabei helfen konnte, die von Mélaser erbetene Erklärung im richtigen Ton und den richtigen Formulierungen aufzusetzen. Und einen weiblichen Tarnnamen brauchte er auch noch.

    „Solange ich mich nicht in die schicklichen Tücher wickeln muss", sagte er achselzuckend in Richtung der schlafenden Nachtweihe.

    Énvo, Mdjándja und Tín saßen in der Küche der jungen Bibliothekarin und bliesen Trübsal. Heute Morgen hatte Kavóy in der regelmäßigen Sitzung eine Hiobsbotschaft verkündet: Die ‚Sondereinheit zur Erforschung neuer Arten’ (kurz: SEZENA), in der Énvo und Mdjándja arbeiteten, musste von heute auf morgen mit Sack und Pack zum Letzten Berg umziehen, nicht weniger als vier Tagesreisen von Center entfernt.

    Mara von Dyckeburgs Telepathenkorps, das sich mittlerweile mit dem klangvollen Namen ‚Königliches Institut für Telepathie’ (kurz KIfT) schmücken durfte, verlegte seinen Sitz. Es schlug seinen Zelte in einer Mischung aus Schlossruine und alter Kaserne auf, die in einem Kaff namens Gáloppdorf südlich der Mündung des Flusses Weiter lag, eine Tagesreise nördlich der letztbergischen Hauptstadt Chlin Anden.

    Da die beiden Institute gehalten waren, so eng wie möglich zusammenzuarbeiten, hatte der Leiter des SEZENA eine alte, weitläufige Villa zum neuen Hauptquartier auserkoren, die knapp dreißig Droschkenminuten von Gáloppdorf entfernt war. Sie hieß Palais Glas und bot nicht nur Platz für sämtliche Laboratorien, sondern wies überdies eine Reihe von Gesindehäusern auf, in denen die Mitarbeiter untergebracht werden konnten. (Es gingen Gerüchte von Plumpsklos, winzigen Fischtorföfen und Wasserhähnen mit fließend kaltem und eiskaltem Wasser.)

    „Du brauchst einfach eine Stelle da oben, das ist alles", konstatierte Énvo und klang dabei hoffnungsvoller als er war.

    Keinem der drei gefiel es, so kurz nachdem sie sich gefunden hatten, schon wieder auseinandergerissen zu werden. Doch anders als die beiden Wissenschaftler arbeitete der junge Koch im Restaurant seiner Familie in Center – eine Stellung, die nach Énvos und Mdjándjas Eindruck eher einer Leibeigenschaft ähnelte als einer normalen beruflichen Tätigkeit.

    Mdjándja trat mit einer Kanne heißem Roten hinter die beiden. Geistesabwesend hielt Tín ihr die Tassen hin.

    „Wenn es nur so einfach wäre", sagte er.

    Die Bibliothekarin füllte den Tee in die Humpen. „Sag uns, was nicht so einfach ist."

    Tín stammte aus einem Klan von Garköchen, der seit Menschengedenken in Tawchítyi im Norden der Goldenen Bucht gelebt und dort den Feldarbeitern Essen verkauft hatte. Scharfer Kartoffelreis mit Fischsoße, süßer Kartoffelreis mit Goldschellen und Larvenschweinfleisch, milder Kartoffelreis mit Perlfederfleisch in Sahnesoße – bei Wind und Wetter stand seine Familie unter einem von vier Holzpfählen getragenen Dach aus Seephilodendron und hielt von Sonnenaufgang bis weit in die Nacht ihre Töpfe und Pfannen am Köcheln. Die Feldarbeiter brachten ihre Essnäpfe und zahlten mit ihren kleinen Kupfermünzen.

    Als es irgendwann um die Übernahme des Geschäfts ging, gerieten Tíns Vater und sein älterer Bruder in Streit. Da beide von der eisernen Überzeugung beseelt waren, im Recht zu sein, gab keiner auch nur einen Fingerbreit nach. Die übrigen Geschwister schlugen sich teils auf die eine, teils auf die andere Seite. Eine familiäre Katastrophe begann sich abzuzeichnen.

    Am Ende stand eine Fehde, die zwei Enkel und einen Bruder ins Gefängnis brachte, das gemeinsame Haus der Familie in Flammen aufgehen ließ und dafür sorgte, dass der Klan die uralte Lehnsurkunde für das Recht, die Garküche zu führen an ein Ehepaar aus Kóuratauránga abtreten musste.

    Vom Erlös kauften einige Familienmitglieder Passagen nach Center und versuchten dort einen Neuanfang. Die Tochter von Tíns Onkels hatte Glück und schaffte es, ein angesehenes Spezialitätenrestaurant in der Innenstadt aufzubauen. Seine eigene Familie dagegen tat sich schwer, bis sein älterer Bruder auf die pfiffige Idee kam, ihre Speisen angereichert mit den Potenzmitteln der Fünf-Kräfte-Lehre unter die Leute zu bringen. Das ‚Essen der Liebesgöttin’ wurde zum letzten Schrei unter den reichen jungen Leuten Centers und auch sein Zweig der Familie bekam finanziell Boden unter den Füßen.

    Die Fehde zwischen den feindlichen Cousins und Cousinen wurde freilich konsequent weitergeführt. Irgendwann eskalierte sie in einer Messerstecherei mit zwei Schwerverletzten. Danach hatte die Stadtverwaltung von Center genug. Beide Lokale bekamen Besuch von einem halben Dutzend massigen Konstablern, die eine Inspektorin des Gewerbeamts flankierten. Da die Schließung beider Lokale und die Ausweisung etlicher Familienmitglieder drohte, beschloss ein widerwillig einberufener Familienrat, den Streit in Zukunft mit weniger Enthusiasmus auszutragen.

    Bislang hielt der grimmige Waffenstillstand, begünstigt durch die Tatsache, dass Center eine große Stadt war, in der man sich aus dem Weg gehen konnte (wenn man wollte).

    „Aber es muss natürlich trotzdem jeder von der Familie im Haus bleiben, um die eigene Schlagkraft im Fall des Falles nicht zu schwächen – kein Witz! Das sagt mein Vater ungefähr zehn Mal am Tag", schloss ein niedergedrückter Tín die Erzählung.

    „Du mit deinem Riesen-Kochmesser bist sicher eine ordentliche Verstärkung der familiären Kampfkraft", rutschte es Énvo heraus.

    Der Blick, dem ihm der junge Koch zuwarf, war so kläglich, dass ihm der Spruch sofort wieder leid tat.

    Doch Tín war ihm gar nicht böse. „Schön, dass es jemand komisch findet, murmelte er den Tränen nahe. „Ich hab mich bisher aus allem rausgehalten, aber ich mache mir in die Hosen bei dem Gedanken, die anderen könnten irgendwann wirklich von mir verlangen, jemanden aus der Familie meiner Cousine anzugreifen.

    „Also, wenn das so ist, dann gewinnst du doch nur, wenn du dich in Richtung Letzter Berg verabschiedest, oder?", kommentierte Mdjándja stirnrunzelnd. Die junge Wissenschaftlerin hatte außer ihrer Mutter nie Familie gehabt und der Krieg im Klan ihres Partners war ein fremdes Land für sie. Keines, in dem sie auch nur eine Minute verbringen wollte.

    Tín seufzte. „Schon, aber das wäre ein Ticket ohne Rückfahrt, sagte er. „Wenn ich aufhöre, für meine Familie zu arbeiten, brauche ich mich bei denen nicht mehr blicken zu lassen …

    Er machte ein Pause.

    „Und bei all dem ist unsere Beziehung noch gar nicht eingerechnet, platzte er dann heraus. „Wenn die mitkriegen, dass ich unverheiratet mit einer Frau zusammen bin und noch dazu mit einem Mann, oh Abgrund der Verdorbenheit, dann bringen sie mich eigenhändig um, aus keinem anderen Grund, als den ach so verhassten Verwandten zu beweisen, dass sie der ordentlichere Zweig der Familie sind.

    „Du meinst, eine Familienfehde mit Verletzten und Schlägern im Gefängnis ist ordentlich, aber wenn du mit uns zu unser aller Freude rummachst, ist es das nicht?", fragte Mdjándja mit einer angewiderten Grimasse.

    Der Blick, den der junge Koch ihr zuwarf, sprach Bände.

    „Mdjándja hat recht, sagte Énvo stirnrunzelnd. „Ich verstehe nicht, warum du auch nur eine Minute zögerst, dich aus diesem Irrenhaus zu verabschieden.

    „Sie sind meine Familie", flüsterte Tín nach einer längeren Pause.

    „Ich mag meine Eltern", antwortete Énvo. „Also wirklich. Aber wir sehen uns zweimal im Jahr, zu ihrem Hochzeitstag und zu Wintersonnwend. Und das reicht auch, wenn ich ehrlich bin."

    „Deswegen funktionieren ja bei euch auch die Familien nicht", fuhr Tín auf.

    „Ach ja, erwiderte Mdjándja mit vor Verachtung triefender Stimme. „Aber bei euch funktionieren sie?

    Einen Moment sagte niemand etwas. Dann vergrub Tín seinen Kopf in Énvos Schulter und griff nach Mdjándjas Hand.

    „Scheiß auf die Propaganda der alten Tanten, murmelte er undeutlich. „Ich hab euch lieb.

    Eine Weile hielten sie sich nur aneinander fest und gaben sich der Ratlosigkeit hin.

    „Vielleicht sollten wir mal wieder einen Blick in den Akéakamai werfen", schlug Énvo plötzlich vor.

    Die beiden anderen warfen ihm zwiespältige Blicke zu.

    Seit der Orgie, die von der ‚Suppe der Zuneigung’ ausgelöst worden war, betrachteten sich die drei als Partner. (Énvo erinnerte sich übrigens immer noch nicht an die erste Nacht, was ihn aber nicht mehr besonders bedrückte, denn die weiteren Nächte hatten ihn reichlich dafür entschädigt.) Sie verbrachten jede freie Minute miteinander, meist in Mdjándjas Wohnung. Erst jetzt ging Énvo auf, dass Tín nie Lust hatte, auszugehen, weil er die Begegnung mit seiner Familie fürchtete.

    Alle drei genossen ihr neues Leben in vollen Zügen. Akéakamais Kochbuch aber mieden sie seitdem. Sie sprachen nicht einmal darüber, denn so sehr sie ihre Beziehung schätzten, die Art, wie sie zustande gekommen war, war allen dreien einigermaßen unheimlich.

    „Wie soll der uns helfen?", fragte Mdjándja mit gerunzelter Stirn.

    „Was weiß ich? Weisheit, Fügung, Mut zur Trennung von Bindungen … ich meine familiären", schob Énvo blitzschnell nach, als er die Blicke der beiden anderen registrierte.

    Mdjándja sah extrem skeptisch drein.

    „Was soll’s, reinschauen können wir ja mal", sagte Tín mit resignierter Stimme.

    Der Unionskai von Westerhafen war vom Bug der ‚Verfassung’ aus schon von weitem gut zu überblicken. Mara lehnte an der massiven bronzebeschlagenen Reling und suchte mit zusammengekniffenen Augen den langgestreckten Anlegeplatz ab.

    Ama gab ihr einen Stups und wies auf die seewärts gelegene Ecke des gedrungenen Zollgebäudes. Dort warteten Meno, Ball, Agnes und ein kleines rundliches Mädchen in einem Rollstuhl, das Milde sein musste.

    „Irgendwie habe ich gedacht, wir bekommen einen etwas pompöseren Empfang", sagte Mara missbilligend, was ihr einen Rippenstoß von ihrer Freundin einbrachte.

    „Ich finde das Empfangskomitee völlig ausreichend", widersprach Ama.

    Maras Mund beschloss völlig ohne ihr Zutun zu lächeln.

    Wenig später rasteten die Landgänge des Kais in den Halterungen an der Reling der ‚Verfassung’ ein. Der Strom der Ankommenden schwemmte schließlich auch Mara und ihre Reisegefährten auf den Kai, wo sie sich ihren Weg zu Agnes und den Kindern bahnten.

    Einen Augenblick lang schien die Zeit stillzustehen, als die beiden Teile der Familie sich endlich gegenüberstanden. Dann ließ sich Massál aus Amas Arm auf den Boden fallen. Sie schaukelte in ihrem typischen Gang auf Ball zu, sprang wie eine Katze hoch und umklammerte ihn mit ihren Federarmen. Ball nahm sie in den Arm als ob er nie etwas anderes getan hätte, drückte sie fest an sich und strahlte.

    Auf der anderen Seite starrten sich Meno und Mara einen Moment lang an. Dann fielen sie sich in die Arme. Meno vergrub ihr Gesicht in Maras Schulter und Mara ließ ihr Gesicht seufzend auf den Scheitel ihrer Tochter sinken.

    Ama, die die beiden von der Seite betrachtete, lächelte über den winzigen Stich der Eifersucht in ihr und dachte an ihre erste Begegnung mit Massál. Dann trat sie auf Milde zu und ging vor dem Rollstuhl des Mädchens in die Hocke.

    „Willkommen in unserer Familie", sagte sie, neigte in ihrer unnachahmlichen Art den Kopf und legte beide Hände auf die Armlehnen.

    Milde hielt die Lippen fest zusammengepresst und fixierte Ama wie ein Dornadler. So verharrten sie, endlos lange, wie es Ama schien.

    „Jetzt mach schon", erklang schließlich dumpf Menos Stimme durch Maras Uniformjacke.

    Milde griff nach Amas Händen. Ama ließ sich auf die Knie sinken und legte ihre Arme um Milde, die – höchst ungewöhnlich für sie – nach wie vor kein Wort herausbrachte.

    Agnes betrachtete die in sich versunkene Familie mit einem etwas schrägen Lächeln. Dann ging sie um die Gruppe herum.

    „Willkommen in Center, sagte sie zu Natsuna, die auf der anderen Seite von einem Fuß auf den anderen trat. „Machen Sie sich keine Gedanken, man gewöhnt sich daran.

    „Ich weiß. Ich hatte schon ein bisschen Gelegenheit zu üben, entgegnete die Ingenieurin. „Mit wem habe ich die Ehre?

    „Tja, ohne Em fehlt es mir einfach an Manieren", grinste Agnes und stellte sich vor.

    Natsuna horchte auf. „Kann ich Sie einen Moment unter vier Augen sprechen?"

    Mit verwunderten Blick zog Agnes sie ein paar Schritte auf die Seite.

    „Mara riet mir, mich an Sie zu wenden, begann Natsuna. „Sie gehen zu den Namenlosen wegen Ihres Alkoholproblems?

    Agnes zuckte leicht zusammen, nickte aber mit gerunzelter Stirn.

    „Wunderbar, sagte die Ingenieurin erleichtert. „Können Sie mich mitnehmen?

    In Holzapfels Kutsche war nicht genug Platz für alle, so dass Maras Leibwächter Thómrit sich in den ausklappbaren Sitz an der Rückwand der Kabine zwängen musste, von dem aus früher ein Schütze die Landschaft hinter dem Fahrzeug im Auge behielt. Ihr Diener und alter Freund Ásgwrn nahm neben dem Kutscher Platz. Mildes zusammengeklappter Rollstuhl klirrte neben dem Major im Rhythmus der Pferde.

    „Ihr habt euch sicher gewundert, warum sonst niemand zu eurer Begrüßung angetreten ist", begann Agnes, als die Kutsche aus dem Hafengelände herausschaukelte.

    „Mara kam sich in der Tat etwas wenig gewürdigt vor", grinste Ama, die sich mit Milde und Agnes die Bank teilte. Das Mädchen lag mit dem Kopf in Amas Schoß und schien noch immer nicht zu wissen, was es sagen sollte.

    Mara schnitt eine Grimasse in Amas Richtung. „Wir sind ganz Ohr", sagte sie dann zu Agnes.

    „Tja, erwiderte die Malerin. „Dein Duell hat uns offenbar in der Kavallerie wenig Freunde eingebracht. Kaum hatten die mitbekommen, dass wir hinten ein neues Heim haben, lag die Aufforderung im Briefkasten, den Wehrstall sofort zu räumen. (Als echte Letztberglerin sprach Agnes von ihrer Heimat stets nur als von ‚hinten’.)

    Mara und Ama tauschten einen verdutzten Blick.

    „Em und euer Lagún wollten protestieren, fuhr Agnes fort. „Aber Héyyu meinte, dass sich ein Streit wegen der paar Tage nicht lohnt. Em hat das Zeugs aus eurem Zimmer und den Inhalt deines Schreibtischs in zwei Kisten gestopft. Unsere Wohnung habe ich auch schon aufgelöst. Im Moment pennen wir auf einer Matratze in einem der Zimmer deiner alten Wohnung. Dort werdet ihr auch übernachten, denn wir haben nur noch eure Ankunft abgewartet. Morgen früh vor Sonnenaufgang geht’s los. Ab nach Hause!

    Die Biologin und Chemikerin Kaya von Fort saß in einem ausgesprochen bequemen Stuhl, der in auffälligem Kontrast zu ihren unbehaglichen Gefühlen stand.

    Aus dem schmalen Rahmen des Ölgemäldes hinter ihrer Gesprächspartnerin heraus blickte sie eine Frau in der traditionellen Aufmachung der Heilerinnen der Hexeninsel an. Eingehüllt in dunkle Pelze, den langen Medizinstab fest in der Rechten und die Netzmaske aus filigranen goldenen Kettchen über dem Gesicht, musterte die gemalte Frau Kaya mit einem selbstvergessenen Blick. Der gläsern-grüne Hintergrund tat das seine dazu, die hypnotische Wirkung des Bildes noch zu verstärken.

    Ansonsten waren die Wände des Raums vollgestellt mit Regalen. Aktenordner drängten sich da, zahllose Bücher und eine Reihe von Kisten, angefüllt mit Krimskrams, der wie Spielzeug wirkte, aber vermutlich zu Testzwecken diente. Auf einem Hocker neben dem Schreibtisch ruhte sich ein klobiges Strickzeug aus, als sei es eine dicke Katze. In einer Nische zwischen den Regalen schimmerte eine wunderschöne, wie ein stehender Teller geformte achatgrüne Vase, in der drei Rotbeerenzweige voller Früchte steckten.

    „Sie müssen entschuldigen, begann ihr Gegenüber, die eben die Tassen zwischen ihnen mit heißem Roten gefüllt hatte. „Aber so ganz bin ich aus dem, was meine Sekretärin eben zu mir gesagt hat, nicht schlau geworden. Also, wie kann ich Ihnen helfen?

    „Um mit der Tür ins Haus zu fallen: Ich habe vor einigen Monaten meine Gave entdeckt und würde gerne Ihre Schule in Anspruch nehmen", sagte Kaya schnell.

    Die Frau hinter dem Schreibtisch runzelte die Stirn. Sie sah aus wie eine Hexentochter aus dem Bilderbuch: groß, blond, mit hohen Wangenknochen und langen Gliedmaßen. Obwohl sie deutlich über fünfzig Lenze zählen musste, war sie vermutlich noch immer der Schwarm vieler Männer und Frauen.

    „Entschuldigen Sie, aber meine Sekretärin hat irgendetwas von einem Forschungsprojekt erzählt."

    Die frischgebackene Telepathin seufzte. „Von einem Forschungsprojekt kann nicht die Rede sein. Ich nehme an, Ihre Sekretärin hat das fälschlicherweise aus meinem Namen geschlossen."

    „Und der lautet?", lächelte ihr Gegenüber.

    „Kaya von Fort."

    „Oh", sagte die blonde Frau hinter dem Schreibtisch und schwieg eine Weile. Der Trugschluss ihrer Mitarbeiterin war naheliegend. Kaya, Karlson und Odjana von Fort waren die bekanntesten Wissenschaftler der Hexeninsel, ja, seit der Veröffentlichung ihres letzten Buchs sogar des ganzen Innen.

    „Und das ist wirklich kein Forschungsprojekt?", hakte die blonde Frau schließlich skeptisch nach.

    Kaya schüttelte den Kopf.

    „Ich war Mitglied einer Expedition auf Sáut, begann sie. „Dort wurde in einer Krisensituation meine Gave geweckt.

    Sie seufzte wieder. „Ich habe einige Monate versucht, das Ganze zu ignorieren, fuhr sie fort. „Aber … Sie verstummte.

    In das Gesicht der Frau hinter dem Schreibtisch stahl sich ein Lächeln. „Aber das funktioniert nicht."

    Kaya schüttelte resigniert den Kopf.

    „Sie wissen, wie wir arbeiten?"

    Kaya schüttelte wieder den Kopf.

    „Unser wichtigstes Ziel ist es, den Menschen, die sich uns anvertrauen, beizubringen wie sie mit ihrer Gave leben können. Wir bieten dafür eine Kombination aus Kursen, Gruppen und Einzelstunden an. Jenseits dieser … nun, wir nennen das Grundausbildung, gibt es aber für Interessierte auch die Möglichkeit, ihre Gave vertieft zu studieren und zu entwickeln. Bedürftige bekommen die Grundausbildung vom Gesundheitsministerium finanziert, doch das dürfte auf Sie nicht zutreffen."

    Kaya grunzte. „Keine Sorge. Die finanzielle Seite ist unproblematisch."

    Die Institutsleiterin nickte.

    „Das Ganze beginnt mit einer Reihe von Tests und Diagnosegesprächen. Sie bekommen von Anfang an Zugang zu allen Unterlagen und zu all unseren Ergebnissen. Transparenz ist ein zentrales Prinzip unserer Ausbildung. Sie als führende Wissenschaftlerin muss das ja besonders interessieren."

    „Sie brauchen keine Angst zu haben, sagte Kaya. „Mein Interesse gilt wirklich nicht der wissenschaftlichen Durchleuchtung Ihres Instituts. Ich bin hier, weil ich Hilfe brauche.

    Die Institutsleiterin lächelte. „Ich gebe zu, eine derartig prominente Person auszubilden, wird uns alle anfangs ein wenig nervös machen. Aber wir setzen auf einen Prozess, in dem sich ein gegenseitiges Vertrauen entwickelt."

    Sie besprachen noch eine Reihe von Details. Kaya bekam eine papierene Mappe mit Formularen und Informationsblättern in die Hand gedrückt und sie vereinbarten erste Termine. Erleichtert darüber, wie reibungslos alles wider Erwarten gelaufen war, erhob sich die Wissenschaftlerin.

    An der Tür blieb die Institutsleiterin noch einmal stehen. „Die Transparenz, von der ich vorhin gesprochen habe, zwingt mich jetzt noch zu einem etwas unangenehmen Geständnis", begann sie.

    Der Dampf von Kayas Erleichterung verwandelte sich in feuchtkalten Nebel. Sie hatte gehofft, das Thema vermeiden zu können. Offenbar vergebens.

    „Ja?"

    „Missverstehen Sie mich nicht, fuhr die Institutsleiterin fort. „Wir erkennen den Wert Ihrer Arbeit nicht nur uneingeschränkt an, sondern beziehen Ihre Erkenntnisse auch in unsere Arbeit ein.

    „Mhm", machte Kaya vorsichtig.

    „Aber – nun, Sie haben es vielleicht vergessen. Sie hatten einmal eine Studentin, die in einer entscheidenden Prüfung bei Ihnen spektakulär gescheitert ist, weil sie sich in ihren Antworten auf das traditionelle Wissen der Hexen zu den Lebensbäumen bezogen hat. Sie haben dieses Wissen nicht gelten lassen."

    Kaya atmete langsam aus. „Der Fall ist mir präsent", gestand sie und widerstand nur mit Mühe dem Impuls, sich den schnell verspannenden Nacken zu kneten.

    „Sie ist eine meiner Töchter. Sie hat ihr Studium daraufhin abgebrochen und eine Lehre als Gärtnerin gemacht."

    Kayas Gesicht sprach Bände. „Was erwarten Sie nun von mir?", fragte sie defensiv.

    „Gar nichts, sagte die Institutsleiterin. „Sie sollen lediglich wissen, dass diese Ereignisse in unserer Familie natürlich für gewisse Vorbehalte Ihnen gegenüber gesorgt haben. Ich sage das, weil sowohl ich selbst als auch meine älteste Tochter hier unterrichten. Wir werden uns von all dem nicht leiten lassen, aber wenn Sie dabei kein gutes Gefühl haben, können wir zumindest für die Einzelstunden andere Lehrkräfte für Sie bereitstellen.

    Sie wollte noch etwas sagen, doch Kaya hielt sie mit einer Geste auf. Die Wissenschaftlerin kämpfte einen Moment mit sich.

    „Sie sprachen von einem Prozess der Vertrauensbildung, meinte sie dann. „Nun, ich bin durchaus bereit, meinen Teil dazu beizutragen.

    Wenige Augenblicke später stand Kaya wieder in der feuchtkalten Frühlingsluft von Klippenberg. Sie klappte den Kragen hoch und vergrub ihre Hände tief in den Manteltaschen.

    Wie auf einer Phototypie sah sie sich, Odjana und Karlson. Sie sah die behagliche Welt des Forschens und Philosophierens, in der sie es sich so gut eingerichtet hatten. Irgendwo in ihrem Magen regte sich die Angst, der Weg, den sie jetzt einschlug, könne sie alle weit aus dem friedvollen Garten ihrer wissenschaftlichen Rationalität herausführen.

    Noch kannst du zurück, sagte eine innere Stimme, die verdächtig nach ihrer Mutter klang.

    Irgendetwas ließ Sáyyabu erwachen. Er lag in seinem Schlafsack unter einem Überhang gegenüber der Höhle, in der vor einem Vierteljahr Ílygaid und Edavi verschwunden waren, um ihre Metamorphose zu durchlaufen. Neben ihm, auf der anderen Seite des niedergebrannten Feuerchens schnarchte Úzalayn vor sich hin. Kýllyll, der riesenhafte sechsbeinige Späher, den Ílygaid dem alten Kräutersammler geschenkt hatte, lag ein paar Meter weiter entfernt. Falls irgendeine Gefahr drohte, würde er sie sofort wecken.

    Die beiden Männer schliefen gern im Freien. Gefährliche Tiere gab es hier keine und selbst die Blutkerfe machten sich in diesem kleinen Paradies so rar, dass ein wenig Kräutersalbe als Schutz ausreichte. Also verzichteten sie auf ihr miefiges Fischlederzelt und zogen sich nur bei Regen etwas weiter unter den Felsvorsprung zurück.

    Sáyyabu öffnete die Augen. Der Vollmond tauchte das Tal vor ihm in eine unwirkliche Atmosphäre. Die Tautropfen auf Gräsern und Blättern reflektierten sein Licht und überhauchten das nächtliche Anthrazit mit einem festlich anmutenden Funkeln. Die Teiche lagen wie tintenschwarze Edelsteine inmitten des silbrigen Geflechts.

    Am Rand von Sáyyabus Gesichtsfeld bewegte sich etwas.

    Zwei schlanke Gestalten stapften lautlos durch das hohe Gras. Sie waren so bleich, dass sie im Mondlicht leuchteten wie Engel der Reinheit. Gemächlich begaben sie sich zu einem der Teiche und stiegen hinein, um sich ausgiebig zu waschen.

    Plötzlich musste Sáyyabu lächeln. Es war ein Traum! Beide Gestalten waren Edavi!

    Es sah so zauberhaft aus, wie die unwirklichen Zwillinge sich selbstvergessen reinigten, dass Sáyyabu ein warmes Glücksgefühl durchrieselte. Er richtete ein stilles Gebet an die Liebesgöttin, ihm zu vergönnen, diesen wunderschönen Traum, der ihm wie ein Abschiedsgeschenk seines Angebeteten anmutete, im Gedächtnis behalten zu dürfen.

    Nach einer Weile fühlten sich die beiden Gestalten offenbar hinreichend sauber und verschwanden so lautlos, wie sie gekommen waren. Der junge Soldat ließ seinen Kopf zurücksinken.

    Als er erwachte, hatte er das Gefühl, nur ein paar Momente weg gewesen zu sein. Neben ihm kniete Úzalayn und rüttelte ihn.

    „Hier geht irgendetwas Seltsames vor sich, sagte der alte Kräutersammler beunruhigt. „Zwei Leute waren heute Nacht an dem Teich da unten und Kýllyll hat keinen Alarm geschlagen.

    „Ich habe sie gesehen, murmelte der junge Soldat schläfrig. „Es war Edavi, er hat sich gewaschen. Aber er war zweimal da.

    „Werd erst mal wach."

    Erst nach der zweiten Tasse Schwarzen dämmerte Sáyyabu, dass irgendetwas an der Sache merkwürdig war. Úzalayn hatte frische Spuren an einem der Teiche entdeckt. Er war ihnen gefolgt und und hatte einen ordentlichen Schrecken bekommen, als er erkannte, dass sie vor Ílygaids und Edavis nach wie vor fest verschlossener Tür endeten. Beunruhigt nahm der Kräutersammler Kontakt mit dem Späher auf, der aber nichts weiter tat, als hartnäckig die Meldung zu wiederholen, dass heute Nacht niemand Fremdes die Höhle verlassen und wieder betreten hätte.

    „Was heißt für Kýllyll niemand Fremdes?", fragte Sáyyabu im Versuch, sein Gehirn dazu zu bewegen, endlich zu kooperieren.

    „Das heißt, er hat diese Leute aus irgendeinem Grund als bekannt eingestuft", grummelte Úzalayn, den das ungelöste Rätsel gereizt und missmutig hinterlassen hatte.

    „Macht euch keine Sorgen, es ist überhaupt nichts Gefährliches passiert", sagte eine sanfte Stimme.

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