Der Schuppenmann
Von Stephanie Schnee
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Über dieses E-Book
Diese Erzählung, in der die Worte singen, in der Sprache auf ein höheres ästhetisches Niveau gehoben wird, in der Ausdruck und Anspruch der Botschaft sich einander angleichen, richtet sich an Jugendliche und Erwachsene zugleich. Auf spannende, immer wieder auch humorvolle Weise durchlebt der Leser die Entwicklung von einem bescheidenen, staunenden Schuppenmann hin zu einem genialen Provokateur.
Das Titelbild stammt von Lothar Bauer.
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Buchvorschau
Der Schuppenmann - Stephanie Schnee
8
1
Eine mächtige Erschütterung, so etwas wie ein Urschrei, aber ein dumpfer, ein Hinaufsteigen und Absacken aller Säfte gepaart mit einem anschließenden Knirschen, Knacken und Krachen Abertausender von Borken, welche gewaltsam versetzt worden waren, die Verschachtelung der Schuppen hatte sich gelöst, ereignete sich in genau dem Augenblick, als er geboren wurde. Alle Bäume im Wald hielten vergleichsweise den Atem an. Durch ihre Stämme ging ein Ruck. Ein Aufheben ihres Wurzelgeflechtes geschah für den Bruchteil einer Sekunde und in einer solchen Weise, dass man aus der Luft zwar nichts sehen konnte und dass es jeder menschlichen Fühlung entging, wie sich etwas Grundlegendes veränderte, aber die Geburt doch ausgeworfen ward.
Die Eiche, ein prächtiger und schöner Baum mit noch voller Krone und ausladenden Ästen, die sich von der Höhe des Stammes beinah gleitend hinabwarfen und ein natürliches Zelt bildeten um den Stamm, sie stand im Morgenrot wie eine Erstgebärerin. Viel Laub hatte sie in diesem Herbst um sich geschart, das nun, als Teppich, in dessen Mitte sie stand, im Licht der aufgehenden Sonne wie entflammt dalag. Noch immer war die Luft in Bewegung. Alles flimmerte, alles schien einander zu suchen und abzutasten. Die Äste der Eiche streckten sich braun oder grün in den Teich hinein, der vielfarben schimmerte: rostrot und ockergelb. Und mitten in diesem Gewühl, diesem Gemenge aus Licht, das gleichsam alles aufspießen wollte mit seinen hellen, wie vergoldeten Lanzen, da bewegte sich dann plötzlich etwas von unten in dem Laubteppich.
Kein Laut war mehr zu vernehmen, der Wald beschirmte sich selbst und verdichtete alle seine Kräfte um jenes kreatürliche Wesen, das ihn retten sollte.
Ganz zaghaft, mit langsam sich entfaltenden Fingern, streckte sich eine Hand aus dem Laubteich. Die Hand war die eines Jünglings, allerdings von seltsamer Maserung: Sie besaß die Form einer Menschenhand und ganz offensichtlich auch deren Geschmeidigkeit in der Bewegung. Von der Beschaffenheit, von ihrer materiellen Textur her glich sie hingegen einem Stück Holz, das nun, da die Sonne daran leckte und in die Mulde zwischen die Finger ein Schüsselchen von Licht goss, überirdisch schön glänzte. Wie ein vollendetes Kunstwerk sah die Hand aus, sie glich einem Relikt vergangener Zeiten, und war doch seltsam belebt.
Der Wald blieb still, währenddessen das Licht durch die eben erlittene Unruhe noch ein wenig über allen Dingen nachzitterte. Und wieder regte sich etwas in dem Blätterteich: Die schöne, formvollendete Hand griff nach der Borke des Stammes. Die Eiche hingegen stöhnte wie eine Wöchnerin, denn die Geburt war schwer gewesen.
Einzig die sie liebevoll streichelnden, ihre Borke kraulenden Finger verschafften ihr Linderung und Genugtuung zugleich. Der Baum, der vorher zusammengesackt gewesen war, streckte und entfaltete sich nun bis zur eigentlichen Höhe des Wuchses, in den ihn die Jahresringe bis vor der Geburt geworfen hatten: So badete er die Krone in der aufgehenden Sonne. Es regnete Goldfunken auf seinem Dach!
Der Wind ließ leise die Blätter lispeln, gelinde neigte sich ein Ast dem anderen zu; es klapperte dann ein wenig. Laubbüschel flogen auf und drehten ihre leise knisternden Spiralen auf der dunklen Streu. Farne wippten. Und dort, wo der Wald sich etwas lichtete und schon zu der Ansiedlung der Menschen hinüber spielte, dort brach Jubel aus über dem von Moosen bewachsenen Boden: Millionenfach rührte sich das Insektenvolk wieder, das bis hierher von den Ereignissen wie in den Bann geschlagen gewesen war.
Eine nie gekannte Zuversicht breitete sich über Feld und Flur aus. Die allgemeine Erscheinung des Lebens, das Leben selbst kehrte mit gedoppelten Kräften zurück, denn der Heilsbringer war da und stieß es wirklich kraftvoll an.
Beide Arme des kreatürlichen Wesens, welche jetzt schon bis zu den Schultern entblößt waren, waren von sehniger Erscheinung, schmal und etwas heller als eichenfarben. Darüber hinaus waren sie von den Handgelenken aufwärts überzogen von hellblondem Flaum. Noch immer streckten die Hände sich fühlend vorwärts entlang der Mutterborke. Bisweilen aber auch glitt eine von ihnen wieder hernieder, durchwühlte dann das Laub mit gespreizten Fingern und hatte offensichtlich ihren Spaß daran.
Einen echten Menschen habe ich geboren!, dachte schließlich die Eiche, zu deren Füßen der Jüngling kroch. Er stieg aus dem Laubbett und entrollte sich in einer Aufwärtsbewegung. Der Rücken wurde gerade. Der Kopf, der unterhalb der Schultern gesessen hatte, die Nase des Kopfes immer dem Nabel zugewandt, wuchs förmlich wie beschleunigt aus dem Torso heraus. Wie eine pralle, goldbeschienene Knospe mutete er an im reichlich dargebotenen Sonnenlicht!
Noch stand der Jüngling nicht ganz aufrecht da, aber schon war er prachtvoll anzusehen! Alles an ihm atmete Gesundheit und Kraft. Unter der Haut zuckten die Muskeln, Sehnenstränge bildeten sich heraus wie Wülste, sobald er seine Gliedmaßen bewegte. Das Gesicht hingegen war sehr viel weicher beschaffen, die Augen offen und groß und stark bewimpert. Nase und Kinn fielen kaum heraus aus dem Profil, die noch vollen Wangen waren prall und rund und trotz ihrer hölzernen Einfärbung und der seltsamen Maserung darauf, die aussah wie eintätowiert, Zeugen seiner gewollt jungen Jahre.
Die grünen Augen, von einem Grün, das stechend war, durchforschten kurz die Umgebung. Dann tauchte der Junge die Hände abwechselnd ins Licht, um zu sehen, was daran geschähe. Er wollte der Mutter Eiche gerne zeigen, wie gut alles an ihm geraten war, ihr sagen, dass er jetzt da sei und mit ihm ein neuer Lebensborn ungeahnter Kräfte!
Endlich schälte er sich ganz aus dem Teich, ein paar Blätter mit aufhebend, als er sich gerade hinstellte. Die Sonne fiel durch das Kronendach der Eiche und beschien zwei Füße, die seltsamer nicht hätten sein können. Sie waren über und über bewachsen mit Holzschuppen, die leise klickten, sobald der Baummensch sich rührte. Auch an den Unter- und Oberschenkeln verliefen schuppenartige Gebilde, die größer und fester wurden, je dicker das Bein beschaffen war.
Am Gesäß verliefen die Schuppen mit zugespitzten Endungen bis in die Falte hinein, hatten aber von ihrer Beweglichkeit eingebüßt. Über alles schien weiterhin die Sonne, und der Baummensch fühlte sich sehr wohl in dem warmen Licht, das allen die gleiche Zugehörigkeit zuzusprechen schien: Wie von einem goldenen Vlies behangen waren die Bäume und der Baummensch!
Das Beglückende für den Jungen war es aber weniger, sich selbst in dem Licht in seiner vollkommenen Schönheit zu erfahren, als vielmehr die Erfahrung mit einem Waldvogel! Seine Haare gingen stäbchengleich von einem Wirbel aus und sahen wohl aus wie ein Nest für den kleinen Waldsänger. Er kam herangeflogen, glitt herab und stakste in dem Nest hin und her. Mit dem Schnabel pickte er nach den Haaren und zog daran, um sie nach eigenem Gutdünken besser zu ordnen. Aber sobald das Baumgeschöpf nach dem Etwas, das leicht sein Haar durchkraulte, greifen wollte, neckte ihn der Vogel, indem er fortflog und laut pfiff.
»Was ist das?«, fragte der Junge in einer Sprache, die nur er verstand. Seine hölzernen Lippen klapperten beim Sprechen.
»Was bist du?«, wollte er wissen. Er haschte nach dem fliegenden Geschöpf, immer wieder, aber es war einfach zu wendig. Endlich tat ihm der Vogel den Gefallen, flog herab auf die eine seiner Schultern und spazierte von dort den gesamten Arm bis zur Hand hinab. Gleich war der Baummann beglückt über das Flauschige, unendlich Weiche, das er fühlen durfte!
»O, du!«, sprach er, eigentlich nur leise, unverständliche Laute murmelnd, aber in einem bittenden, fast flehentlichen Tonfall. Er wollte gerne, dass das Vögelchen blieb.
Dieses hob gleich wieder ab. Mit welch großer Eleganz es doch durch die Lüfte segelte und den Raum teilte mit seinen vor- und zurückschnellenden Schwingen! Der Baumensch seufzte auf, tief beglückt über das Schauspiel. In seine Augen trat ein großer Glanz!
Mit dem Rücken setzte er sich zur Mutter Eiche und fühlte die Rinde, die ihm die Haut ritzte. Das waren gewiss die Zeichen der Mutterschaft.
»Bäumling sollst du heißen«, deutete der Junge durch Übertragung die Schrift auf seinem Rücken, »denn vom Baum bist du und zum Baum wirst du zurückkehren.«
Er schloss zufrieden die frühlingsgrünen Augen. Die Wimpern kämmten lange Schatten auf seine Wangen. Und so harrte er, weiter an der Eiche lehnend, der Dinge, die da noch kommen sollten.
Leise vor sich hindösend, sammelte er neue Kräfte, unterdessen die Sonne weiter schien und alles Gewölk vom Himmel vertrieb: Sie legte ein Blau dort hinein, das freundlicher nicht hätte sein können. Sodann strich sie es glatt, dass es sich verlief zur Erde hin, weißlich und sehr zart. Es war ein ungewöhnlich warmer Herbst!
2
Anders als bei den Menschen war die Zeit des Erwachens für den Bäumling: nicht nur, dass er vieles gar nicht zu lernen brauchte. Eine Sprache besaß er bereits, eine Sprache sowie einen eigenen Sinn und eine eigene Deutung von den Dingen, die ihn umgaben:
Die Begriffe, die er malte, waren wie fließende Worte. Seine Beobachtungen waren sehr genau und verliefen sich bis in kleinste Einzelheiten. Darum bemerkte er auch die vielen kleinen Veränderungen um sich herum. Das von hellem grünen Moos belegte Wurzelgeflecht einer Buche, das sich so faserig, aber auch so verspielt über den Höckern ausfranste, erhielt vom Bäumling bei Tag eine andere Deutung als in der Nacht. Es erhielt eine andere Deutung, aber auch einen anderen Namen, welchen er für sich mit Genauigkeit aussprach und den er ab dem Zeitpunkt, da er ihn in seinem Sinn geformt hatte, unverwechselbar und auch für alle Zeiten in der Erinnerung zu verankern wusste.
Gerade eben lief sirrend ein Fädchen Luft über den Waldboden. Wie schön sich das anhörte! Mittlerweile war es für den Jüngling allerdings an der Zeit, den Wald zu verlassen. Er entfernte sich vom Standort der Mutter, immer staunend und immer beglückt über das viele Neue, das er sehen durfte. Der Wald wurde weiter und lichter, die Bäume vom Wuchs her kümmerlicher, fast schien es dem Jüngling, als neigten sie sich zur Erde nieder, als seien sie etwas niedergedrückt. Er verstand nicht, dass und warum sie darbten.
Nach einem weiteren Tagesmarsch gelangte er schließlich an ein von Apfelbäumen gesäumtes Feldstück. In den Bäumen hingen Mistelbüsche mit weißen, perlengleichen Früchten.
Der Bäumling wusste nicht, was Misteln waren, aber er erkannte sie durch Vergleich stets wieder. Wie große beblätterte Sterne mit lustigen Platzknospen sahen sie für ihn aus!
Mit geraden Schritten lief er über eine weiche, in Richtung Bächlein abfallende Wiese, deren Gras noch taufeucht war vom Morgennebel. In der Nacht hatte er gut geruht und so lief er also beglückt durch den nächsten Tag. Bald brannte die Sonne wieder schön auf seiner Holzhaut, es knisterte das Gras unter seinen Füßen.
Der Bäumling badete im Wechselspiel der Farben. Am Bachlauf unterlag er zunächst einem Trugspiel: Er dachte erst, die Luft über dem Wasser sei weiteres Wasser. Denn immer webten dort zarte Schleier hin und her. Endlich aber bemerkte er seinen Irrtum,