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Reginald: ein Eichhorn und seine Geschichten
Reginald: ein Eichhorn und seine Geschichten
Reginald: ein Eichhorn und seine Geschichten
eBook352 Seiten5 Stunden

Reginald: ein Eichhorn und seine Geschichten

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Über dieses E-Book

Der Lebensweg des zu Beginn jungen Eichhorns Reginald und seines Freundes Enno Adler wird in zwölf inhaltlich geschlossenen Geschichten erzählt. Auf teils heitere, teils traurige, teils naive Weise werden philosophische und moralische Kategorien wie Freundschaft, Treue, Umgang mit Krankheit und Tod, Egoismus und Altruismus und weitere zum weiteren Nachdenken nahe gebracht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Nov. 2014
ISBN9783738004113
Reginald: ein Eichhorn und seine Geschichten

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    Buchvorschau

    Reginald - Johs. Georget

    Das Dankeschönfest

    Noch lag Ruhe über dem Wald und Dunkelheit und leichter Nebel, doch unbeirrbar begann das Erwachen, angeregt von den winzigen Quäntchen des Lichtes, die die Leben spendende Sonne verschwenderisch und ohne Unterlass in das Universum hinaus sandte und die eine langsam zur Gewissheit werdende rosige Ahnung des neuen Tages an den östlichen Horizont zeichneten. Nur ein verschwindend geringer Anteil der unermesslichen Energiemenge, die die Sonne seit Äonen Tag für Tag ins All herausschleuderte, traf auf unsere Welt, und auf unseren Wald davon nur ein ganz winziges Kontingent. Und von dieser fast homöopathischen Dosis nur ein einziges, winziges, fast unsichtbares Lichtstäubchen stahl sich, als das erste Leuchten der Sonne es endlich über den Horizont geschafft hatte, in Reginald Eichhorns Kobel zunächst und dann in seine Schnuppernase und ließ ihn schließlich mit einem kräftigen „Haaaa-ruwaschi" erwachen.

    Ach, sagte er sich, nachdem er sich zusammengerappelt, den Schaf aus den Augen gerieben, noch einmal wohlig gegähnt und sich ausgiebig gereckt hatte, ach, was wird das wohl heut wieder für ein wunderschöner Tag. Dann streifte er seinen buschigen Schwanz so oft über den stachelichten Fichtenzweig, den er eigens zu diesem Zweck direkt neben der Kobeltür aufgestellt hatte, bis er mit Genugtuung feststellen konnte, dass sein bestes Stück heute einen so sonnigrotsamtseidigen kupfernen Glanz hatte, wie schon seit langem nicht mehr.

    Die Menschen liebten die Eichhörnchen als possierliche, lebendige Tierchen. Aber sie begehrten sie auch ihrer Felle wegen, die sie als Feh oder Fehhaar bezeichneten und die sie sowohl für hochherrschaftliche Mantelbesätze und als auch für Pinselhaare für die Aquarell- und Porzellanmalerei besonders schätzten, und sie veranstalteten solcher buschigen Pelzchen wegen, besonders wegen denen seiner sibirischen Verwandten, die ob der dort vorherrschenden Kälte ganz besonders fein und buschig waren, regelrechte Massaker, die alljährlich vielen seiner Artgenossen zum Verhängnis wurden und ihnen den Garaus machten.

    Da er dies allerdings nicht wusste, war seine Freude ungetrübt, und so konnte nichts und niemand seinem Stolz auf die wie patiniertes, poliertes Kupfer glänzende Rute etwas anhaben. Reginald sprang hinaus auf seinen Wohnast und turnte vergnügt und „ke-ke-kek" seine Freude hinauskeckernd, den Wohnbaum am Stamm hinauf, den er sich mit seinem Freund Enno, dem Adler, und vielen anderen Mitbewohnern teilte.

    Hier fragt sich, wer’s nicht besser weiß: Was soll denn das: Ein Eichhorn – eines Adlers Freund? Ja, ja, so kann die Wirklichkeit sein! Kein Räuber jagt so nah beim eignen Nest, dass er die Rache der Opfer fürchten müsste. So mancher alte Förster weiß davon zu berichten, dass die spinnuse Volksweisheit, nach der der Fuchs dem Hasen gute Nacht sagt, keine Lüge ist.

    Reginald hatte, als er vor Jahresfrist als junges Eichhörnchen auf der Suche nach einem Revier für sich und seine Zukunft gewesen war, nach langer Wanderung durch eine Welt, die ihm ob ihrer nie zuvor gesehenen Wunder unablässig Staunen abverlangte, seinen neuen Heimatwald gefunden und den allergrößten Baum inmitten dieses wunderschönen Waldes mit seinem Herzen als sein neues Heim erkannt. Großes Glück war dabei im Spiel gewesen. Keinen Gedanken an die Nahrungskette und seine Position darin verschwendend, hatte Reginald sich den Adlerhorst als Wetterschutz auserkoren für die Zeit, in der sein eigener Kobel noch der kunstvollen Vollendung harrte.

    Der Adler, der schon vor undenklich langen Jahren seinen Wohnsitz dort hoch oben in der Baumkrone genommen hatte und dieses keinesfalls geduldet hätte, war für einige Tage außer Horst gewesen um seiner Verwandtschaft einen Besuch abzustatten – die Eier seiner Schwester waren getauft worden – und musste bei seiner Rückkehr verblüfft zur Kenntnis nehmen, plötzlich einen neuen Nachbarn zu haben. Eine Grundregel im Reiche des Fressens und Gefressen-Werdens, in der Wildnis also, war, sich in der Umgebung des eigenen Nestes eine Ruhezone, eine Zone des Friedens ohne Feinde zu schaffen, in der jegliche Form der Jagd tabu war. Dass es nun ausgerechnet ein Nager gewagt hatte, ihn während seiner Abwesenheit zu überrumpeln und so vor vollendete Tatsachen zu stellen, war dermaßen ehrverletzend, dass er jedem der dies wissen – oder auch nicht – wollte, vorkrächzte, solche haarigen Wesen wären einerseits von Übel, insbesondere der fusselige Schwanz und dieser wiederum insbesondere für die Verdauung, weswegen man tunlichst von deren Verzehr ablassen möge, andererseits aber doch ein nützliches Utensil für jeden Adlerhorst, zögen sie doch mit ihrem vielen Fell das Ungeziefer geradezu magisch an und damit fort aus jeglichem – und insbesondere seinem eigenen, nun seither überaus reinlichen – Nest. Darüber hinaus sei er ohnehin ein Seeadler, der nur in äußerster Not etwas anderes, als mageren, eiweißhaltigen, fell- und federlosen und daher äußerst bekömmlichen Fisch zu genießen pflegte. Nicht zuletzt auch darum, was er allerdings nicht erzählte, weil der stumm war und Enno – nur ein ganz klein wenig sensibel – schreiendes Futter überhaupt nicht gern mochte.

    Schon bald musste Enno zudem erkennen, dass Reginald mit seinem offenen, stets freundlichen Wesen für sein sonst doch oft leeres, manchmal gar trauriges Leben eine Bereicherung war und schließlich eine für die Gemeinschaft des gesamten Waldes. Stets war Enno, Herr der Lüfte und der Nahrungskette, von allen nur ängstlich und ehrfürchtig gegrüßt worden, Reginald aber keckerte immer freundlich und fröhlich und ausgeglichen drauf los, schwärmte davon, wie schön das Leben doch wäre und wie viele und welche guten Taten er doch vollbringen wolle, wohl, ja sicher, auch um selbst glücklich zu sein, vor allem doch aber, um alle anderen zu beglücken.

    Wenn Enno seinen kleinen, selbstlosen Freund so aus der Ferne betrachtete, kamen ihm oft merkwürdige Gedanken. Ein anderer Adler an Ennos Stelle hätte nicht lange gefackelt und sich diesen kleinen Nager schon längst einverleibt. Enno war das von Beginn an nicht rechtens erschienen – schlecht erklärlich, warum. Bei keinem Fisch hatten Enno je ähnliche Skrupel befallen. Futter ist Futter, und wenn es noch so zappelt. Basta! Schließlich hatte die Natur ihm seine Natur gegeben, und nach der hatte er ein Jäger zu sein. Demzufolge war es rechtens, sich am Fisch zu laben, und zwar so oft und so reichlich, wie es ihm gefiel, bis nämlich sein Hunger gestillt war. Da gab es überhaupt keine Diskussion. Das war sein naturgegebenes Recht, sein ureigenster Anspruch. Also war es gerecht und also war es auch gut.

    Beim Verspeisen seiner Beute hatte er allzu oft erlebt, dass die es zuvor nicht anders gemaulhabt hatte. Im Inneren vieler Fische waren angedaute Reste kleiner Fischlein vorzufinden. Eines seiner Opfer, ein Hecht, hatte sich unmittelbar bevor er ihm in die Fänge geraten war, einen Hecht fast gleicher Größe einverleibt! Dies, so meinte Enno, konnte nun ganz und gar nicht rechtens sein. Obwohl, das wusste er leider, selbst wenn er es vehement zu verdrängen suchte, Brudermord in mageren Jahren selbst auch in adligsten Adlerfamilien von bester Gesellschaft vorkam. War das nun Böse? Wo es doch dem Überleben wenigstens eines der Adlerjungen diente? Oder war es Gut? Weil sonst nämlich die gesamte Brut jämmerlich verhungert wäre?

    Der Inbegriff des Bösen, war Enno sich sicher, war er selbst für alle Fische, stoben sie doch in alle Richtungen auseinander, sowie sein Flugschatten über die Wasseroberfläche glitt. Die kranken, die schwachen, die unvorsichtigen blieben als mögliche Beute zurück. War er vielleicht dazu gut? Dass er die Auslese in der Natur unterstützte? Für wen sonst er gut war (Reginald mal ausgeklammert) wusste er nicht so recht, aber zumindest für eine Adlerin war er es einst gewesen. Und für seine Eltern natürlich. Und für sich selbst.

    Ist Gut, meinte Enno, also immer das, was dem, der diesen Begriff zu definieren hat, gut tut? Demnach würde also niemand sich selbst für böse halten? Auch der, der mutwillig etwas zerstört, ohne dass er daraus Nahrung zieht? Wer war es überhaupt, der Gut als Gut und Böse als solches und damit Recht und Unrecht definierte? Wer war der Schöpfer der Moral? Und war Moral gleich Recht?

    War denn der Storch nicht gut, der einen Frosch von der Wiese auflas, um seine Jungen zu füttern? Und was sagte der Fuchs dazu, der dann und wann auch gern ein Fröschlein vertilgte, und darum den Storch mit Futterneid beargwöhte, ihn nach Möglichkeit gar aus seinem Revier vertrieb? Und was sagte der Frosch dazu? Und waren Storch und Fuchs, aus Sicht der Mücke, die nun den Frosch nicht mehr zu fürchten hatte und sich zudem, je nach Gefallen, am Blut von Vogel oder Säuger laben konnte, nicht geradezu ein Sinnbild höherer Gerechtigkeit?

    Nun, Störche, Füchse, Frösche, Mücken unter sich würden dies wohl jeweils ähnlich werten, weswegen es unter den Störchen sicherlich eine stillschweigende Übereinkunft, eine spezifische Moral gab, dass Frösche ihre naturgemäße Nahrung seien. Unter Fuchsens war die Anwesenheit der Storchs im Allgemeinen unbeliebt und deren Vertreibung daher moralisch zulässig. In jeder Familie Frosch wurden die schauerlichsten Geschichten von Fuchs und Storch erzählt, die endeten mit „... und die Moral von der Geschicht: Vertraue Storchs und Fuchsens nicht", so dass die Jungen, als Quappen bereits, beim Anblick eines jeden nur ähnlich wirkenden Schattens sofort das Weite suchten um sich zu verstecken, oder aber in Totenstarre verfielen.

    Lag Gerechtigkeit denn etwa einzig und allein im Auge des Betrachters? Gab es also Gut und Böse gar nicht wirklich? Gibt es da überhaupt eine absolute Trennung? Oder war diese Frage obsolet? Weil einfach nur Ausdruck subjektiver Wertung? Gab es denn dann gar keine höhere Moral? Legte die nur der fest, dem sie selber gut bekam?

    Wahrscheinlich. Und so hatte Enno beschlossen, dass dieser kleine, wuschelige Nager seinem Gemüt gut bekam und so war es gekommen, dass Enno sich Reginald insgeheim zu seinem Schützling auserkoren hatte. Immer hatte er ein Auge auf ihn und ein Ohr für seine Stimme und war schon beim kleinsten Anschein von Bedrängnis wie zufällig zur Stelle, so dass Reginald häufig gar nicht einmal bewusst wurde, welche Gefahr über ihm geschwebt hatte.

    Hoch hinauf also turnte Reginald eilig am Wohnbaumstamm bis in die Wipfelspitze, die höchste des ganzen Waldes. Oben angekommen betrachtete er wonnig, wie sich die Sonne fast unmerklich aber unaufhaltsam über den Horizont hievte und versank in der ergötzlichen und philosophischen Betrachtung, dass, wenn ein Schöpfer dieses Szenario habe planen können, ohne vorher selbst etwas so schönes je gesehen zu haben, er ja wohl überdies auch noch ein großer Künstler müsse sein.

    Nachdem der Sonnenball nun vollkommen und rund geworden war, riss er sich mit einem Glucks-Glücks-Seufzer von diesem Anblick los und ließ seinen Blick das ganze Panorama aufnehmen. Von hier aus konnte er den Blick schweifen lassen und rundum alle Horizonte sehen, alle Baumwipfel des ganzen Waldes und noch viel weiter darüber hinaus und die vielen anderen Wälder und die fernen und die nahen Gewässer und die ganze große weite Welt. Und den ganzen großen Himmel, der die große weite Welt beschützte. Und ganz besonders steigerte seine Freude, was er nicht erblickte. Kein einziges Wölkchen war nämlich zu sehen und der Himmel so blau, dass man einfach vor Wonne vergehen musste, und das nicht nur, wenn man ein Eichhorn war. Dies heute würde wohl der erste richtig warme Tag des neuen Frühjahrs werden und, wenn der Schein und die Wetterregeln nicht trogen, würde es bis hin zum Abend allerschönstes Wetter bleiben. Die Vöglein hatten das anscheinend schon vor ihm bemerkt und jubilierten vor Freude auf den Tag, ein jedes sich selbst übertreffend, um die Wette. Reginald sog geräuschvoll von der aromatischen Frühlingsluft so viel ein, wie er konnte, ließ ein wohliges „Hääächchch seiner Kehle entströmen, holte nochmals tief Luft, die wundervoll nach Veilchen, Anemonen und Bärlauch duftete, nahm dann Anlauf und sprang mit einem weithin hallenden Jauchzer und fühlte sich so frei wie die Vöglein und steuerte mit seinem prächtigen Schwanz von Ast zu Ast, nur jeweils ganz kurz aufsetzend um von neuem so weit zu springen, wie es ihm nur irgend möglich war. Unterwegs, etwa auf halber Höhe des Baumes, machte er halt bei Frau Amsel, die ihn zu sich gerufen hatte „Guten Morgen du Eichhörnchen

    „Guten Morgen, Frau Amsel. Aber Bittebittebitteschön, sehen Sie’s denn nicht? Ich bin doch schon groß, ein richti-ke-ke-s Eichhorn und ke-ke-kein Hörnchen mehr. Über den Winter bin ich ke-ke-gaaanz gaaanz groß gewachsen und hab schon Pinsel auf den Öhrchen!"

    „Ja, ja, verehrter Herr Eichhorn Reginald, du bist ja völlig aus dem Kobelchen! Möchtest du vielleicht ein Frühstücksei? Aus Versehen hab ich eins zu viel gelegt, und du weißt doch wie der Herr Amsel im Vorjahr genervt war, als wir mehr als sechs Junge hatten, weil er sich doch immer die vielen Namen nicht merken kann."

    „Oh gerne, Frau Amsel, das krönt mein Frühstück, so ein Frühstücksei, wo’s das doch so selten gibt. Das macht aus diesem Silbertag einen richti-ke-ke-ken Goldtag! Ich will eure Jungen dann auch vor der Schlange schützen und ihnen die besten Ke-ke-Käferstellen zeigen, die es im ganzen Wald gibt, und die allerfettesten Würmerchen und die saftigsten Raupen. Und hier er griff in seine Futterbackentasche „hier habe ich noch ein paar Fichtensamen. Bitteschön!

    „Bitte sagte auch die Amsel und gab Reginald das Ei und „Danke sagte Reginald und nun begann das Ritual, das Reginald mit seiner Freundlichkeit im ganzen Wald verbreitet hatte. „Bitteschön, „Dankeschön, „Bittesehr, „Dankesehr, „Bitteschönsehr, „Dankeschönsehr, „Bittesehrschön und „Dankesehrschön lösten einander ab und sie klopften einander bei jedem Wortwechsel auf die Schultern, bis sie schließlich in unbändiges Gekicher ausbrachen, sich vor Lachen die Bäuchlein halten mussten und so lange Tränen lachten, bis es wieder gut war.

    Für den Unkundigen war das allerdings als aufgeregtes Gekecker und Gepiepe zu vernehmen, so dass der annehmen musste, hier sei der allertollste Streit einer beraubten Vögelin mit einem bösen Eierdieb im Gange.

    Doch dies war nur das ständige Geben und Nehmen der Natur, die ständig und unaufhaltsam, scheinbar planlos im Überfluss schuf, wo eines, das sich ungehemmt und unvermindert mehrte schon bald so überhand nahm, dass es sich selbst Feind werden musste. Was wohl, würden all die hunderttausenden Fallschirmsamen einer Butterblumenwiese neue Butterblumen mit wieder neuen Fallschirmsamen? Was, würde jede Eichel ein neuer Baum, der wieder Eicheln würfe? Was, würde jede Maus ein Methusalem mit fünf Würfen im Jahr und jeweils fünf Jungen, die ihrerseits schon bald selbst jungen würden?

    Nein, nein. Darin lag schon ein Plan. So war der Verlust des einen – hier der des überzähligen Amseleies – das Aufgehen in der Erhaltung und dem Wachstum des anderen – Reginalds Bäuchlein.

    Reginald nahm sein Frühstücksei, stopfte es sich in seine Futtertasche und begab sich schwungvoll hinab auf den Waldboden, zu einem der Futterverstecke, die seinem Gedächtnis noch nicht entfallen waren und gönnte sich ein himmlisches, diesem Goldtag angemessenes Frühstück, bestehend aus ein paar Kiefernsamen, zwei Eicheln und einer, weil es doch heute ein so wunder-wunder-schöner Tag zu werden versprach, extra solchen Anlässen vorbehaltenen Haselnuss. Wegen der Vitamine – Reginald lebte gern gesund – stand bei ihm, sofern der Wald dies hergab, ein Salat als Beilage auf dem Speiseplan. Heute ein besonders herzhafter aus scharf duftenden Bärlauchblättchen. Dazu gab es frische Tautropfen mit Anemonengeschmack, was ihn ganz besonders erfreute, weil diese zarten Gewächse den Wald erst seit wenigen Tagen wieder verschönten. Und nun auch noch zudem, als ganz besondere Köstlichkeit, das auserlesene Amsel-Frühstücksei.

    Genüsslich nagte er mal an dem einen, knabberte an dem anderen oder schlürfte vom nächsten und freute sich über das Frühstück, über das Sein, über den schönen Tag und darauf, was er heute noch so alles spannendes, lustiges und freundliches würde erleben dürfen. Und ahnte nichts von dem, was bald darauf geschah.

    Nach dem Frühstück gab er sich innigst der Lieblingstätigkeit aller Eichhörnchen hin und putzte sich blitzeblank, so dass auch kein einziges Krümelchen oder Flecklein oder Ungeziefer an ihm haften blieb. Gut gelaunt, gesättigt und geputzt legte er auf der nahen, nun schon sonnenbeschienenen Lichtung ein Päuschen ein und träumte, auf dem Rücken liegend, sich zusammen, wie er diesen wundervollen Goldtag zu etwas machen könne, was dieser allerdings seit Anbeginn der Zeit ohnehin schon war, nämlich einzigartig.

    Weil nun aber Eichhörnchen so einen klitzekleinen Kopf haben, noch dazu mit so riesengroßen Knopfaugen, bleibt darin nicht viel Platz für ein Gehirn. Und wenn dann das klitze-klitzekleine Gehirn auch noch immerzu damit beschäftigt ist, sich zu freuen und glücklich zu sein, bleibt nicht mehr viel Platz zum Denken und schon gar nicht zum Merken. Deshalb sind die Eichhörnchen nämlich so vergesslich und deshalb fiel Reginald auch nichts Einzigartigeres für diesen einzigartigen Goldtag ein, als das, was er ohnehin schon jeden Tag tat, nämlich sich selbst und alle anderen zu erfreuen.

    So hoppelte er denn auf der Suche nach etwas Schönem auf der Waldlichtung umher und fand alsbald ein Gänseblümchen. Da kam der dicke Herr Igel angeigelt, mit einem dicken Schneck im Maul, auch er war guter Dinge. Um sich gegenseitig eine Freude zu machen, beschenkten sie einander mit dem, was ein jeder gerade besaß, und was ihm wert gewesen war, es selber zu besitzen. Das ging natürlich nicht ohne das Waldritual, bei dem dem „Bitte das „Danke folgte und dem „Bitteschön das „Dankeschön und dann „Bittesehr und „Dankesehr und „Bitteschönsehr und „Dankeschönsehr und „Bittesehrschön und „Dankesehrschön einander ablösten, und Eichhorn und Igel einander auf die Schultern klopften bei jedem Wortwechsel – Reginald musste sich dabei sehr in Acht nehmen, um sich an den Igelstacheln nicht so doll zu pieken – und in unbändiges Gekicher ausbrachen und sich vor Lachen die Bäuchlein halten mussten und so lange Tränen lachten, und lautes Gekecker und Gefiepe den Wald erfüllte, bis es wieder gut war.

    Die Schnecke war dem Eichhorn suspekt – was gäbe es wohl auch daran zu nagen – doch ging es guter Dinge weiter, weil, sicherlich ist dies doch ein irgendwo willkommenes Geschenk, und traf dann auch bald die Ente, verschenkte die Schnecke und bekam dafür ein Kalmuswürzelchen geschenkt, wieder mit gleichem Ritual unter lautem Gekecker und Gegackere. Der Kalmus ging dann an den Hasen, von dem Reginald im Gegenzug einen alten, noch nicht ganz abgeknabberten Maiskolben bekam und Gekecker und Gemuckere schallte durch den Wald. Der Maiskolben ging für eine Nuss an die Maus, wobei Gepiepe und Gekecker die Waldgeräusche belebten und so ging es fort den ganzen lieben, langen Tag. Und Reginald war’s dabei niemals um Gewinn zu tun.

    Damals zu Hause, von seiner Mutter, lange war es schon her und in einem fernen, fernen anderen Wald gewesen, hatte er zusammen mit dem Segen den Spruch mit auf den Weg seines weiteren Lebens bekommen:

    Zwei Schlüsselchen öffnen dir jedes Herz,

    zwei liebliche, kleine, blanke,

    bewahre sie gut

    und vergiss sie nie.

    Gib gut acht auf:

    Bitte und Danke.

    Schon seit Ewigkeiten war es so gewesen, dass sich die Eichhörnchen-Söhne neue Reviere hatten suchen müssen, wenn sie erwachsen wurden, während die Töchter in der Nähe der Mutter blieben, bis sie selbst einen Horn-Mann gefunden, Hochzeit gehalten und eine Familie gegründet hatten. So war er denn voller Erwartung und ohne Groll losgezogen und hatte nach einer Wanderung von siebeneinhalb Tagen seine neue Heimstatt gefunden und Freunde fürs Leben und wollte sein selbsterwähltes Reich nie, niemals nicht und nimmer mehr, verlassen.

    Und so hatte er denn, dem Segen und Wahlspruch seiner Mutter folgend, „Bitte und „Danke zu seinem Lebensinhalt und zu seinem Markenzeichen gemacht und in die weite Welt hinaus getragen und schließlich in seiner neuen Heimat so für ein neues Ritual gesorgt. Niemand konnte sich seiner Freundlichkeit entziehen.

    Und so schenkte Reginald und ließ sich beschenken, keckerte in einem fort und regte alle anderen zum Kichern an. Stets bot er seine Gabe mit der galanten Geste eines Rosenkavaliers längst vergangener Zeiten dar und zu keiner Zeit war es ihm um seinen Vorteil zu tun. Stets war ihm doch nur daran gelegen, ein Bitte oder ein Danke zu verschenken oder als Geschenk zu erhalten und mit diesen beiden kleinen Schlüsselchen Herzen zu öffnen, Freude und Glück in die Türen hereinzubringen, durch die er trat.

    Jedes Mal, wenn ihm das gelungen war, hüpfte er vor lauter glucksender Glückseligkeit ein wenig im Kreis herum oder keckerte vor lauter Glück ein bisschen in sich hinein oder kletterte geschwind auf eine der vielen Baumwipfelspitzen, machte an einem Zweiglein in irrsinnigster Höhe ein paar Umschwünge und sprang dann, lauthals jauchzend, mit weiten Sätzen von Ast zu Ast, seiner nächsten guten Tat entgegen und schließlich auf den Waldboden zurück.

    Die Waldbewohner übernahmen die Gepflogenheit, Freude miteinander zu teilen und beschenkten einander bei jeder nur möglichen Gelegenheit. Drossel, Fink und Star, Frosch und Eidechse, Hirsch und Reh, Fuchs und Wildschwein, jeder schenkte Freude, und jeder wurde mit Freude beschenkt. Freundliche Geräusche erfüllten weithin den Wald und alle kicherten oder lachten, jauchzten oder jubilierten, alle waren glücklich. Solch ein schöner Tag sollte allen für lange Zeit im Gedächtnis bleiben. Besonders aber, obwohl doch so vergesslich, Reginald Eichhorn.

    Weil dies nämlich für lange Zeit sein letzter glücklicher Tag sein sollte.

    Mit stolz geschwellter Brust und stolz gewelltem Schwanz tänzelte Reginald seiner nächsten guten Tat entgegen, noch nicht ahnend, welche es wohl sein würde und wie gut sie ihm gelänge.

    So aus dem Augenwinkel bemerkte er da, noch ganz entfernt, ein Leuchten, ein kupfernes Glimmen, ein kleines güldenes Nuancchen heller, als sein eignes Kupferrot. Das machte ihn neugierig und aufmerksam und bald ahnte, spürte, fühlte er schließlich die Existenz eines Wesens seiner Art. Und richtig – er wandte sich dem Leuchten zu und sah einen kleinen Eichhörnchenrücken, bebend, wohl, so wie alle hier im Walde, vor Lachen. Hier, dachte er, wächst meine nächste gute Tat heran und ging stracks auf seinen Artgenossen zu. Am Waldesrand sah er da im Sonnenlicht eine einsame Huflattichblüte stehen und pflückte sie geschwind.

    Die ist zu beidem gut, meinte er bei sich, als Anblick für die Seele und für den Leib als Tee, als Hustentrunk, und dachte, das wäre doch ein schönes Bitteschön-Dankeschön-Geschenk. So näherte er sich, schnell noch seine Erscheinung einer kritischen Prüfung unterziehend, dem Wesen und war viel mehr als überrascht, als er sich einem kleinen, zuckend weinenden Eichhörnchenmädchen gegenüber sah, das so voller Unglück war, dass es sein Herz erbarmte.

    „Oh, schönstes Fräulein, mit dem ke-ke-güldnen Ke-ke-Glanz bei seiner Verbeugung übertraf er sich selbst um ein etliches, einen solch schönen Katzbuckel hatte der ganze Wald noch nicht gesehen „ist’s Herzelein ke-ke-gebrochen? Ich mach’ es wieder ke-ke-ganz! und überreichte ihr die Huflattichblüte mit einer Grazie, als wenn’s das allerschönste Waldorchideen-Bukett sei und sagte dazu „Bitte und reckte ihr, als ihm die Antwort versagt blieb, das rechte Ohr entgegen. Als er dann noch immer nichts als Schluchzen vernahm, blickte er sie wieder an und artikulierte, deutlich und laut „Bitteschön. Doch auch das blieb ohne Erfolg. Als ihm aber dann, nach seinem dritten Anlauf, dem schon sehr deutlich akzentuierten „Bitteschönsehr, noch immer nichts anderes als Schluchzen und Tränen zuteilwurde, schwand ein ganz kleines Bisschen das Glucksen aus seinem Bauch und machte einem ganz kleinen bisschen Groll Platz. Das Mädchen weinte noch immer bitterlich und wollte damit gar nicht aufhören. Schließlich war’s für Reginald nicht mehr auszuhalten, vor lauter Neugier und aus Entrüstung, wie denn nur jemand das Ritual nicht würdigen könne und so fragte er, ganz den Galan in sich vergessend „ Was heulste’n so?

    Nun endlich fasste sich das Mädchen etwas und gab zur Antwort „Ich..., ich weiß..., ich weiß nicht..." und schon war die mühsam gewonnene Fassung wieder dahin und brach sich in einer erneuten Sturzflut Bahn.

    „Nu ke-ke-komm man schon sagte Reginald ganz gesetzt und, angesichts dieses Häufleins wirklichen Unglücks, wieder einigermaßen mit sich und seinem Stolz im Reinen. „Bis zur Hochzeit wird alles wieder gut tätschelte er ihr die Backe „das wird schon bald häkelte sich ihren Vorderlauf unter und ging mit ihr im Kreis spazieren. „So, Fräulein, tief Luft holen, Einatmen, Ausatmen, wird schon alles wieder. Das nehmen wir jetzt alles Mal ganz feste in die Pfoten, ke-ke-kek und trug so tatsächlich zur Beruhigung des Mädchens bei.

    Schließlich erzählte sie ihm, sie sei, weil ihr Vater früh am Morgen ganz fürchterlich geniest habe – das kam dem Reginald doch irgendwie bekannt vor – vor Schreck aus ihrem Kobel gefallen und hätte sich, statt brav wieder nach oben zu klettern, auf eigene Faust auf den Weg gemacht, um an diesem schönen Tag den Wald zu ergründen, und habe aber dabei eine der Grundregeln der Wildnis nicht bedacht, nämlich nur ja auf den Weg zu achten. So habe sie sich denn verirrt, sei in einen ganz fremden Wald gelangt, würde nie wieder nach Hause finden und stattdessen in der finsteren, finsteren Nacht, die nun ganz gewiss bald käme, ganz bestimmt von einem Drachen oder einem sonstigen, noch viel fürchterlicheren Getier, vielleicht sogar einer Eule, gefressen werden, wie das ihre Großmutter ihr und ihren lieben Geschwisterchen aus dem dicken Gutenachtgeschichtenbuch immer wieder vorgelesen hatte.

    Hier nun war Reginalds große Stunde für eine neue gute Tat gekommen. Oh ja, ganz gewiss würde das junge Fräulein den großen, starken Reginald für immer als einen Helden in ihrem Innersten bewahren. „Nichts sagte er mit leicht nach links versteiftem Hals, heruntergezogenen Schultern, aufwärts geöffneten Pfotenflächen, links hochgezogener Augenbraue und rechts angehobenem Mundwinkel „ke-ke-kleines Fräulein, nichts leichter, als das und stieß einen kurzen Pfiff aus. Augenblicklich ertönte ein lang gezogener, grauenvoller von A zu Gis abgleitender Pfeifton, der von allen Nagetieren dem dräuenden Weltenende gleichgesetzt wurde. Es verdüsterte sich der Himmel über ihnen und ein grausiges Rauschen hub an, ein fürchterlicher Sturm brach los, das Mädchen drückte sich an Reginald...

    ...und Enno Adler war gelandet. Das Mädchen verging vor Angst und hatte vor lauter Schreck das Weinen ganz vergessen, starrte wie hypnotisiert offenen Mundes auf den riesigen Schnabel, der sie nun bestimmt zuerst zerhacken, als nächstes zerfetzen, dann zerfleischen und schließlich verschlingen würde, stattdessen aber nur krächzte „Eh, hallo Regi, haste dir ’ne Krume angelacht?"

    „Quatschkopp, Enno, alter Geier. Bin doch nicht pädophil, man, mit solchen Ke-ke-Kinkerlitzchen geb’ ich mich doch nicht ab. Das ist ein ke-ke-kleines Mädchen, fast noch ein Baby, ich hoffe, das ke-ke-kannst du mit deinen Adleraugen auch noch ohne Lesebrille er-ke-ke-kennen, oder wirst du langsam alt, Alter? Also, das Mädchen braucht Hilfe, und das sollte doch für dich ein Ke-ke-Klacks sein. Du ke-ke-kennst doch alle Wälder hier in der Gegend und ke-ke-kannst bestimmt alle Eichhornkobel ausmachen. Was meinst du, machen wir fix eine gute Tat?"

    Das Mädchen ließ sich in der winzigen Hoffnung auf ein Überleben und mangels besserer Chance überreden und stieg mit Reginald dem Adler ins Genick. Dem Sturm dort oben während des Fluges waren sie gewachsen, weil sie bei ihren

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