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Blutdorf: Ein Eifel-Krimi
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eBook353 Seiten4 Stunden

Blutdorf: Ein Eifel-Krimi

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Über dieses E-Book

»Stirb in der Eifel, da kannst du was erleben«, philosophiert Roman Mülenberk. - Als er seinen alten Studienfreund nach Jahren unter merkwürdigen Umständen in einem Eifeldorf wiedertrifft, ahnen beide nicht, welche tödlichen Entwicklungen es schon bald geben wird, während das seltene Ereignis eines Blutmondes langsam näher rückt. Auch der Bonner Oberstaatsanwalt Westenhoff hatte sich seine Ermittlungen in der Idylle der Eifel gänzlich anders vorgestellt. Während die Ermittler in der verschwiegenen Dorfgemeinschaft zwischen Kriminellen, Hinterwäldlern, Jägern, Heilern und Schamanen jeden Stein umdrehen, mehren sich die Todesfälle und sie blicken schon bald in menschliche Abgründe. Die »Dorfhexe« prophezeit ein »Blutdorf« …

Das Manuskript zu diesem Buch entstand zu einer Zeit, als noch niemand etwas von Covid-19 gehört hatte, die Geschichte ist daher erfreulicherweise coronafrei.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Aug. 2020
ISBN9783347135529
Blutdorf: Ein Eifel-Krimi

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    Buchvorschau

    Blutdorf - Rolf Eversheim

    1. Kapitel

    Fassungslos beugte sich Julia Scheffer hinunter, um das Unvorstellbare besser betrachten zu können: Das satte Wiesengrün des Sommers war rot mit Blut getränkt. Sie betrachtete die geöffnete Bauchhöhle und musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden. Ihre feinen Hände, die so gar nicht zu der groben Tracht passen wollten, klammerten sich an den Hütestab aus Schwarzdorn, der ihr ein wenig Halt gab. Bis auf den Verdauungstrakt war der komplette Bauchinhalt verschwunden. Es gab nur eine logische Erklärung … Sie überwand sich und fühlte den Hals ab. Jetzt hatte sie völlige Gewissheit: Das Opfer war durch einen Biss in die Luftröhre getötet worden. Der Biss hatte so lange gedauert, bis das Opfer erstickt war. Dieser Drosselbiss war typisch für vom Wolf gerissene Schafe.

    Die Wanderschäferin musste sich setzen. Das Bild, das sie fast dreißig Jahre versucht hatte, aus ihrer Erinnerung zu löschen, war in seiner ganzen Erbarmungslosigkeit wieder da, so als wäre es gerade erst geschehen …

    Als junges Mädchen hatte sie wunderbare Sommerferien bei ihrem Großvater und seiner Schafherde verbracht. Was hatte er ihr nicht alles über die Schäferei beigebrach, über die Natur und das Leben da draußen, über Hütehunde … und über Wölfe.

    Sie hatte gelacht. »Großvater, Wölfe gibt es doch bei uns gar keine mehr. Das habe ich in der Schule gelernt. Du erzählst mir Märchen.«

    Der Großvater hatte sie lange schweigend angeschaut, so als würde er überlegen, ob er ihr sein Wissen mitteilen sollte; er wollte die Kinderseele nicht verstören. Doch schließlich hatte er mit seiner warmen und ruhigen Stimme geantwortet: »Julia, der Wolf ist hier. Ich kann ihn spüren. Ich merke es an der Unruhe der Schafe und Hunde. So ist es immer, wenn er da ist, der Wolf. Kein Tier ist gut oder böse. Diese Einteilung nehmen die Menschen vor, genauso wie die von nützlich oder schädlich. Allerdings wurden die Wölfe Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der Eifel zur regelrechten Plage. In harten Wintern wagten sich die Rudel bis ans Dorf, um Vieh zu reißen. Wovon sollten sie auch sonst satt werden?«

    »Großvater, es gibt doch ganz viel Wild in den Wäldern. Das hast du mir selber erklärt.«

    »Heute ist das so, Julia, heute. Damals war die Eifel ein karges Land. Die Wälder waren abgeholzt und Wild gab es kaum noch. Flurnamen wie die Wolfsschlucht, die du da drüben siehst, oder die Wolfsgasse im Dorf erinnern noch an diese Zeiten.«

    »Du machst mir Angst. Das Dorf macht mir Angst. Hör auf!«

    »Angst ist ein schlechter Ratgeber, meine Kleine. Ich wollte dich nur dazu anhalten, vorsichtig zu sein. Geh schon mal in den Wagen und mach uns einen Kräutertee. Ich habe den Eindruck, dass noch ein paar Schafe fehlen. Ich schaue mal nach ihnen.«

    Das waren die letzten Worte, die ihr Großvater zu ihr gesprochen hatte. Als die Dämmerung hereinbrach und der Großvater noch nicht zurück war, wurde sie unruhig. Sie war zur Schafherde gegangen und hatte nach ihm gerufen, doch er antwortete nicht.

    Nach einer Zeit kam Oskar, der Hütehund, mit eingezogenem Schwanz angelaufen. Wo war sein Bruder Anton? Die beiden waren doch unzertrennlich. Oskar hatte sie angeschubst, um sie aufzufordern, ihm zu folgen. Es würde bald dunkel sein. Sie war zum Wagen des Wanderschäfers gelaufen und hatte die große Taschenlampe geholt.

    Bangen Herzens war sie der sich nahenden Dunkelheit entgegengegangen. Oskar war immer nur so weit voran gelaufen, dass sie ihm folgen konnte. Sie bewegten sich Richtung Wolfsschlucht. Immer wieder hatte sie nach dem Großvater und nach Anton gerufen, doch es hatte niemand geantwortet. Sie hatte längst die Taschenlampe angemacht, um zu sehen, wo sie hintrat. Plötzlich war Oskar stehen geblieben. Ein Gefühl von Kälte und Angst hatte sie überkommen. Oskar hatte alle Haare gesträubt. Vorsichtig bewegte sie sich auf ihn zu. Dann sah sie im Schein der Taschenlampe das Bild, das sie seit dreißig Jahren wie ein Schatten verfolgte: Großvater und Anton lagen tot in einer großen Blutlache. Die Bauchhöhlen waren aufgerissen und die Innereien aufgefressen. – Wer wem zur Hilfe geeilt war, hatte sich nie klären lassen.

    Der Schock, den sie erlitten hatte, führte zu einem ihr heute noch absolut unverständlichen Handeln: Sie leuchtete mit der Taschenlampe in Großvaters Gesicht und sah seine weit aufgerissenen Augen, von denen sie nicht sagen konnte, ob sie vor Erstaunen, Wut oder Schmerzen den sonst immer gütigen Blick des alten Mannes ausgelöscht hatten. Sie hatte sich niedergekniet, die gebrochenen Augen geschlossen und ein kurzes Gebet gesprochen. In der rechten Hand hielt der Großvater seinen Hütestab aus Schwarzdorn fest umklammert und sie musste die erkaltenden Finger einzeln aufbiegen, um ihn an sich nehmen zu können. Erst dann hatten sich alle Angst, Trauer und Panik, die ein junges Mädchen überhaupt zu empfinden in der Lage ist, Bahn gebrochen. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte.

    Sie rannte los und hätte sich nicht gewundert, wenn auch ihre Beine versagt hätten. Doch die Beine trugen sie schneller, als sie es je getan hatten, fort von diesem grauenvollen Ort. Sie rannte immer weiter, ohne eine Richtung zu kennen. Oskar wich ihr nicht von der Seite. Ihr war egal, ob er sie beschützen wollte oder selber Schutz suchte, Hauptsache Oskar war da. Wenn sie fiel, stand sie sofort wieder auf. Sie spürte keinen Schmerz, nur den Wunsch, ganz weit fortzukommen. Fort von diesem schrecklichen Bild, das sich längst in ihre Seele eingebrannt hatte. Fort vom Wolf, dessen mögliche Existenz in der Eifel sie eben noch vehement bestritten hatte.

    Irgendwann hatte sie die Lichter des Dorfes gesehen und das Dorf, das ihr nie geheuer gewesen war, wurde zu ihrem Zufluchtsort. Doch sie klopfte nicht an die erste Haustür, die sich ihr anbot. Einem ganz tiefen Instinkt folgend, so als würde sie jemand leiten, lief sie bis zum Haus der Zauberin, wie Großvater sie immer genannt hatte. Sie hatte seinen Hütestab an die Hauswand gestellt und mit ihren kleinen Händen so lange an die Tür geklopft, bis geöffnet wurde.

    Die Frau mit den wallenden roten Haaren, die sie jetzt wild hochgesteckt hatte, und den geheimnisvollen grünen Augen schien keinesfalls überrascht, als sie die beiden erblickte, sondern sagte nur: »Da seid ihr ja endlich.« Dann hatte sie den Hütestab reingenommen und die Tür geschlossen.

    Weinend hatte Julia sich in die Arme der Zauberin, deren richtigen Namen sie nicht kannte, fallen lassen und nach kurzer Zeit hatte sie zu ihrer großen Überraschung gespürt, wie eine tiefe Wärme und Geborgenheit sie umhüllte. Der Großvater war da und strich ihr über ihr Haar und sie wusste nicht, was Traum und was Wirklichkeit war. Dann war sie sicher, dass es ein Traum war, denn sie träumte, dass sich Oskar gerade mit wedelndem Schwanz eine große Schüssel Futter einverleibte. Doch als Oskar sich schnauzeleckend neben sie gelegt hatte, dachte sie, dass es unmöglich ein Traum sein könnte.

    Nun saß sie dreißig Jahre später hier, neben ihrem gerissenen Schaf, Großvaters Stab in den Händen. Schon wieder war sie zu spät gekommen.

    2. Kapitel

    Roman Mülenberk hatte seinen Wagen neben der Landstraße auf einem kleinen Feldweg stehen lassen. Er war mit seinem alten Freund Jupp Boergaard verabredet, den er seit ihren gemeinsamen Studentenzeiten in Bonn kannte. Danach hatte er Boergaard über dreißig Jahre nicht mehr gesehen. Mülenberk hatte keine Ahnung, ob die alte Freundschaft noch trug. Und er hatte auch keine Ahnung, warum Jupp Boergaard sich mit ihm in ausgerechnet diesem Dorf treffen wollte.

    Boergaard hatte Philosophie studiert und war damit in ihrer Studentenverbindung, dem Corps Tartarus, ein Exot gewesen. Was hatten sie eine jugendliche Begeisterung gehabt, wenn der Philosoph auf ihren Kneipentouren zu seinen berühmten Reden für Normalsterbliche ausgeholt hatte. Das hörte sich dann ungefähr so an: »Die chemische Verbindung von Mensch und Alkohol kann sich auf tiefem wie auf hohem Niveau stabilisieren. Studenten üben das oft fleißig, erhalten aber zunächst keinen Schein dafür, später den Krankenschein, soweit sie wenigstens vorübergehend arbeitsfähig geworden sind. Das ist philosoffich betrachtet, ganz im Widerspruch zum Streit unter den Professoren nicht ziemlich unwahr, sondern vielmehr wahrhaft scheinheilig gemäß den Wahrscheinheiligen. Was zunächst hindert, ist der Verstand. Ist er versoffen, hindert nichts mehr am geradezu kamelhaften Saufen.«

    Mülenberk lächelte, als er das Bild dieses schmächtigen langen Kerls mit seinen verschmitzten, stets wachen Augen und den scharfen Gesichtszügen, die an einen Greifvogel erinnerten, vor sich sah. Weiß der Teufel, woher er seine Reden hatte, die heutzutage in den üblichen Zitatesammlungen ergoogelt werden können. Er musste sich wohl noch klassisch aus alten Schmökern zusammengesucht haben. Sie hatten jedenfalls eine gute Zeit mit Jupp Boergaard gehabt, der nach seinem Studienabschluss von der Bildfläche verschwunden war. Was mochte er aus seinem Leben gemacht haben?

    Es war noch eine Stunde bis zum Treffen und Mülenberk genoss die überbordende Natur der Sommertage, das emsige Treiben der Vögel und den unverwechselbaren Duft nach neuem Leben. Wie oft würde er den Sommer noch erleben dürfen? Er war fast sechzig Jahre alt und die perspektivische Endlichkeit des Lebens machte ihm gelegentlich zu schaffen. Bevor die Melancholie ihn einholte, beschleunigte er lieber seine Schritte und beschloss, einmal um das Dorf herumzugehen. Zeit hatte er genug.

    Er war zwar schon ein paarmal durch das Dorf gefahren, aber immer nur, um von A nach B zu kommen. Das Dorf selber war heute zum ersten Mal sein Ziel, das er sich nun ganz bewusst anschaute. Es lag in einem schmalen tiefen Tal, das seinen frühen Ursprung in den nahen Vulkanausbrüchen hatte. Während die ersten Bauern und Jäger ihre Häuser weit unten im Tal gebaut hatten, vermutlich um Schutz und Zuflucht vor den Elementen zu finden, waren einige Häuser weiter oben neu gebaut worden, wo Sonne und Ausblick ein deutliches Plus an Wohnqualität versprachen. In den Dorfkern drang die Sonne nur an wenigen Stunden durch und bis vor Kurzem entsprachen Internet und Fernsehempfang der frühen Steinzeit. Deshalb wurde das Dorf in der Umgebung immer noch das Dorf der Ahnungslosen genannt, auch wenn es mittlerweile über das Internet mit dem Rest der Welt verbunden war.

    Es hätte ein malerisches Dorf sein können, doch je mehr Mülenberk sich ihm näherte, desto mehr beschlich ihn ein Unbehagen, das er weder näher beschreiben noch deuten konnte.

    Zögernd trat er in das kühle dunkle Labyrinth der wenigen kleinen Straßen ein. Das Dorf war definitiv zu klein, um sich darin zu verlaufen, trotzdem kam es ihm so vor, als könnte er die Orientierung oder besser gesagt seine Sicherheit hier verlieren.

    Längst verblasste Schriftzüge an einigen Häusern ließen erkennen, dass es hier früher zwei Gaststätten, einen Lebensmittelladen und eine Schmiede gegeben haben musste. Was es allerdings gab, war eine kleine Dorfkirche, die sich mit ihrem frischen weißen Anstrich von den dunklen Farben der Umgebung abhob. Mülenberk hatte gar nicht damit gerechnet, dass die Tür sich öffnen ließ. Die rostigen Scharniere knarzten ein wenig und deuteten darauf hin, dass Besucher eher selten waren.

    »Kann ich Ihnen helfen?«

    Mülenberk zuckte zusammen, denn er hatte den alten Dorfpfarrer Lamprecht, der betend in der Bank kniete, nicht bemerkt.

    »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber wenn schon mal jemand in das Haus des Herrn kommt …« Lamprecht sah Mülenberk mit einem Blick an, der fragte, was um Himmels willen er denn hier in dem Dorf suche.

    Mülenberk zögerte. Einerseits ging es niemanden etwas an, was er hier wollte – zudem er es selber ja nicht wusste, andererseits wollte er dem alten Pfarrer gegenüber nicht unhöflich sein. Dann beschloss er, das Höfliche mit dem Nützlichen zu verbinden: »Vielen Dank der Nachfrage, Hochwürden …«

    »Hochwürden? Hochwürden … Na und ich dachte schon, dieses Wort wäre längst ausgestorben, für alle Zeiten in Vergessenheit geraten.« Verbitterung war in seiner Stimme zu hören. »Würde«, fügte er mit zitternder Stimme hinzu, »Würde hat dieses Dorf längst verlassen.« Pfarrer Lambrecht hatte in Zeiten zunehmender Priesterknappheit nicht nur das Dorf zu betreuen, vielmehr war sein Zuständigkeitsbereich im Laufe der Jahre immer weiter auf die umliegenden Orte ausgedehnt worden. Lambrecht war, wie viele seiner Mitbrüder, zunehmend ausgebrannt. Priester wurden immer mehr wie selbstverständlich als Dienstleister wahrgenommen. Das Sorgen um die Seele, weshalb er ja Seelsorger geworden war, rückte auch bei den Katholiken oder, wie er sich mit zunehmender Bitterkeit ausdrückte, mit Taufwasser Begossenen, immer weiter in den Hintergrund.

    Mülenberk vermied es, auf die Bitterkeit in den Worten einzugehen. »Ich suche das Haus von Kassiopeia.«

    »Kassiopeia?« Der alte Pfarrer schaute ihn plötzlich interessiert an. »Was wollen Sie von Kassiopeia?«

    »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ein alter Freund bat mich, dort hinzukommen.«

    »Ein alter Freund? Was für ein alter Freund?«

    Lambrechts Interesse wuchs, was Mülenberk die ganze Situation nicht angenehmer machte. »Ein alter Freund eben«, wich er aus. »Wir wollen uns dort treffen.«

    »Und der Freund sagte: Komm ins Haus von Kassiopeia

    »Ja. Er sagte: Komm ins Dorf und komm ins Haus von Kassiopeia!«

    »Mehr sagte er nicht? Nur: Komm ins Haus von Kassiopeia?«

    »Komm ins Dorf und frage nach dem Haus von Kassiopeia. Sei um zwölf Uhr dort. Mehr sagte er nicht.«

    »Dann sollten Sie jetzt gehen, sonst kommen Sie zu spät.«

    »Wo finde ich denn nun das Haus?«, fragte Mülenberk irritiert.

    »Das Haus … das Haus werden Sie sofort erkennen. Gehen Sie einfach die Straße ein Stück weiter hoch.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ er Mülenberk stehen.

    Als Mülenberk die Kirche verließ und auf die Straße trat, läutete die kleine helle Glocke zwölfmal.

    3. Kapitel

    Wie ein gieriges Monster fraß sich die schwere Maschine lautstark durch den Wald. Mit ihrer Riesenfaust packte sie die vierzig Meter hohen Fichten wie Schnittblumen am Stamm, sägte sie in Sekundenschnelle ab und entastete sie, um sie dann behutsam abzulegen und auf Länge zu sägen. Ludwig Meier liebte seine Arbeit. Früher hatte er sich mit der Motorsäge durch die Fichtenbestände gekämpft. Dann hatte er einen Holzvollernter, einen sogenannten Harvester bei der Arbeit gesehen, der am Tag problemlos zweihundert Bäume schaffte, wofür Meier, wenn es gut lief, zehn Tage gebraucht hatte. Er hatte nicht eher geruht, bis er sich einen gebrauchten Harvester leisten konnte. Fast hunderttausend Euro hatte er zahlen müssen.

    Das Geld dafür konnte er allerdings nicht mit der Motorsäge verdienen, deshalb hatte er begonnen, mit Holz zu handeln. Er hatte schnell heraus, dass den meisten Kleinwaldbesitzern in der Eifel jegliche Erfahrung beim Holzverkauf fehlte. Er zahlte einen besseren Preis als die großen etablierten Forstunternehmen und er zahlte immer einen gewissen Anteil bar aus, was die anderen mit ihren Warenwirtschaftssystemen nicht konnten. Die konnten allerdings auch beim Aufmaß und der Abrechnung keine Stämme vergessen. Wenn Bargeld vorbei am Fiskus lachte, fraß die Gier den Eifelern das Hirn auf. Mit ein paar Gesprächen unter vier Augen, ein paar Bier hier und ein paar Schnäpsen da, hatte Ludwig schnell das Vertrauen der Leute gewonnen. Außerdem saß sein Handelspartner in Belgien. Wenn sie erst einmal das Bargeld in der Tasche hatten, war es den Leuten egal, was mit ihrem Holz passierte. Von seinem Vater hatte er gelernt, wie man mit Viehhändlern umzugehen hatte, Menschen einer Branche, die seit Jahrhunderten mit einem schlechten Ruf lebten. Er hatte sich ihnen vieles abgeschaut und beherrschte die gesamte Klaviatur der Händlerpsychologie, ohne jemals an einer Schulung teilgenommen, geschweige denn einen Hörsaal von innen gesehen zu haben. Sein Traum vom Harvester rechtfertigte die Mittel. Und warum sollte er etwas ändern, das funktionierte? Der Wald und sein Holz waren zu Ludwigs Lebensinhalt geworden. Er liebte seine Arbeit und die Einsamkeit, die sie mit sich brachte, denn die meiste Zeit war er in der Steuerkabine des schweren Gerätes auf sich gestellt. Nur ab und zu schaute mal der Förster oder ein Waldbesitzer vorbei. Das waren dann immer gute Gelegenheiten, um das nächste Geschäft einzufädeln.

    Die Elektronik zeigte ihm an, dass eine Sägekette stumpf war. Sein bestens ausgestatteter Werkstattwagen, ein schwarzer Ford Transit, dem man seine harten Einsätze ansah, stand immer in der Nähe. Ludwig schaltete den Motor des Riesen aus, legte Gehörschutz und Helm ab und stieg die eisernen Stufen des Monsters hinunter, um das Spezialwerkzeug zu holen.

    Auf dem Weg zum Werkstattwagen stellten sich die Haare an seinen muskulösen und braun gebrannten Armen auf. Er blieb abrupt stehen, lauschte angestrengt und tastete mit seinen geschulten Augen die Umgebung ab. Doch außer Vogelstimmen und dem leisen Wehen des Windes vermochte er nichts auszumachen. Er konnte sich aber auf seine Instinkte verlassen und blieb unschlüssig stehen. Aber was sollte schon sein? Da! Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, eine leichte, nicht dorthin gehörende Bewegung im Unterholz ausgemacht zu haben. Nein … er hatte sich wohl getäuscht. Kopfschüttelnd ging er weiter.

    Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er den Kopf sehen können, der jede seiner Bewegungen sorgfältig verfolgte. Wenn sich das Monster mit seinen bedrohlichen, Zerstörung verkündenden Arbeitsgeräuschen durch den Wald fraß, ergriff alles, was Beine oder Flügel hatte, die Flucht. Niemals im Leben wäre Ludwig auf die Idee gekommen, dass ein Wolf aus kurzer Distanz jede seiner Bewegungen registriert hatte.

    4. Kapitel

    Es war so, wie der alte Pfarrer es gesagt hatte: Das Haus von Kassiopeia erkannte er direkt. Selbst wenn es sich mit seinem schmucken Fachwerk, den bunten Fensterläden und der üppigen Blumenpracht in den vollen Farben des Sommers nicht von den düsteren Häuserfronten abgehoben hätte, wäre er nicht daran vorbeigegangen. – Das Haus strahlte eine unglaublich positive Energie aus.

    Mülenberk betätigte den Türklopfer, den ein schwarzer Metall-Wolfskopf fest in seinem Maul hielt.

    Er hatte sich auf dem Weg vielfach vorgestellt, wie eine Frau mit dem geheimnisvollen Namen Kassiopeia wohl aussehen würde, aber die Erscheinung, die ihm jetzt die Tür öffnete, nahm ihm den Atem: Die stramm sitzende Jeans und das weiße Männerhemd standen ihr einfach fantastisch, die Clogs passte zu dem Outfit, aber der Blick in ihre grünen Augen traf ihn völlig unvorbereitet, Augen, die seinem Blick standhielten, nicht wie im Kampf um die Überlegenheit, sondern gefühlvoll und anregend. Augen, die er zu kennen glaubte, aber schon lange nicht mehr gesehen hatte. Grüne Augen die Erotik, Sinnlichkeit und Mystik ausstrahlten. Es war ihm, als schaute er in die Augen seiner viel zu früh verstorbenen großen Liebe Esther … Esther Hansen, die ihm ihre gemeinsame Tochter Marie geschenkt hatte, von deren Existenz er dreißig Jahre lang nichts wusste. Bilder begannen in seinem Kopf zu kreisen, immer schneller, immer bunter, immer wirrer. Es hatte den Eindruck, als würde seine Seele aus seinem Körper herausgezogen – hin zu Esther, die ihn an die Hand nahm und ihn durch eine Welt leitete, die er nicht kannte oder längst vergessen hatte.

    Als die warmen Hände von Kassiopeia sich auf seine Schultern legten und sie völlig unverständliche Worte in einer nie gehörten Sprache flüsterte, kam er wieder zu sich, es war, als kehre er zurück in seinen Körper … als ob er weg gewesen wäre. Aber nein, das war völlig unmöglich, sagte er sich, vermutlich eine Kreislaufschwäche. Vielleicht sollte er vorsichtshalber einen Zuckertest machen lassen.

    Er blickte sich um. Er befand sich in einem ganz normal eingerichteten Zimmer; kein Altar, keine Kugeln, keine Voodoo-Puppen, kein Zauberstab und auch kein Hexenbesen. Neben den Blumen und Getränken auf dem Tisch fiel ihm lediglich ein hauchdünner Tablet-PC modernster Bauart auf.

    Plötzlich stand Jupp Boergaard vor ihm – er erkannte ihn nach all den Jahren sofort. Lange sahen sie sich nur an, musterten sich von oben bis unten und schauten sich tief in die Augen. Es war gerade so, als sei jeder von ihnen in die Vergangenheit eingetaucht, um ein Band zu finden, mit dem sie sich in der Gegenwart neu verknüpfen konnten.

    Schließlich schienen sie es in ihren Erinnerungen gefunden zu haben. Langsam und schweigend bewegten sie sich aufeinander zu und nahmen sich in die Arme. Kassiopeia sah ihnen die ganze Zeit zu, während sie leise das alte deutsche Lied aus ihrer Studentenzeit sang:

    Wahre Freundschaft soll nicht wanken,

    wenn sie gleich entfernet, ist;

    Lebet fort noch in Gedanken

    und der Treue nicht vergisst.

    Keine Ader soll mir schlagen,

    wo ich nicht an dich gedacht,

    ich will für dich Sorge tragen

    bis zur späten Mitternacht.

    Wenn der Mühlstein träget Reben

    und daraus fließt kühler Wein,

    wenn der Tod mir nimmt das Leben,

    hör ich auf getreu zu sein.

    »Jupp«, krächzte Mülenberk ergriffen.

    »Roman.«

    Langsam lösten sie ihre Umarmung.

    Kassiopeia sprach aus, was sie fühlten: »Tja, Freunde, eure Körper sind älter geworden, aber eure Freundschaft ist sehr lebendig. Was für ein kostbares Geschenk.« Sie war völlig aufgekratzt und strahlte. »Setzt euch, ihr habt bestimmt viel zu erzählen. Ich besorge was für unser leibliches Wohl. Das Wiedersehen wollen wir feiern.« Sie verschwand durch die Tür in die Küche.

    Mülenberk spürte, dass sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Die irritierenden Umstände waren geradezu irrelevant und er sah zu seinem eigenen Erstaunen ohne mit der Wimper zu zucken darüber hinweg. »Es kommt mir so vor, als hätte ich dich gerade gestern gesehen.«

    »Das ist wahre Freundschaft. Sagt man.«

    Wie immer an der Stelle, kam jetzt auch bei Mülenberk und Boergaard der Zeitpunkt, an dem ein langes Schweigen entsteht, weil zwei Menschen, die sich nach vielen Jahren wiedersehen, soviel vom anderen hören und soviel über sich mitteilen wollen, dass das Gehirn erst mal darüber nachdenken muss, was es denn nun Wert wäre, erzählt zu werden. Und da erst einmal alles unwesentlich zu sein schien und keiner dem anderen mit Belanglosigkeiten die Kostbarkeit des Augenblicks nehmen wollte, waren beide erst einmal sprachlos. Es war ein beredtes Schweigen, das tiefer drang, als Worte es vermochten.

    Kassiopeia beendete es mit ihrem Erscheinen. Sie deckte schnell den Tisch.

    Mülenberk war einmal mehr erstaunt, wie völlig naturbelassenes Essen sich geschmacklich von der Fertignahrung abhob, die er sich in seinem Wohnmobil, das ihm als Hauptwohnsitz diente, aus reiner Bequemlichkeit viel zu oft einverleibte. Er dachte ganz kurz darüber nach, seine Gewohnheiten umzustellen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder; sein Essen hatte ihn noch nie krank gemacht und es sparte ihm ganz einfach viel Zeit. Mit halb vollem Mund machte er seiner Neugierde Luft. »Jupp, wo hast du denn all die Jahre gesteckt? Und warum möchtest du mich jetzt wiedersehen?«

    »Willst du die Lang- oder Kurzfassung hören?«

    »Heute bin ich mit der Kurzfassung zufrieden. Aber zu gegebener Zeit möchte ich viel mehr erfahren.«

    »Okay«, sagte Jupp, »dann wollen wir mal. Aber erst noch eine Tasse von Kassiopeias unvergleichlichem Grünen Tee.« Er trank seine Tasse langsam und genussvoll leer, dann seufzte er und fing an: »Die Zeit in Bonn und die Zeit bei Tartarus war gut, doch ich sehnte mich nach Neuem. Ich wollte Grenzerfahrungen machen, mich den Grenzen der irdischen Existenz nähern … sie vielleicht sogar überschreiten und in andere Welten und anderes Wissen vordringen. Auf diesem Weg, auf dieser Suche verlieren sich viele junge Menschen in Drogen, doch nach einigen experimentellen Erfahrungen war mir klar: Drogen würden das Bewusstsein niemals in der von mir gesuchten Weise erweitern, sondern in kürzester Zeit Leib und Seele zerstören. Erinnerst du dich noch an unseren Bundesbruder Konrad Eiden, der Physik studierte und den wir deshalb Einstein nannten? Er kommt hier aus der Eifel. Seine Mutter wird oft als Heilerin gerufen. Die Eifel ist ja eine Hochburg der Gesundbeter. In fast jedem Dorf leben Menschen, von denen es heißt, sie könnten Blutungen stillen, Schmerzen lindern oder Verbrennungen heilen. So ist es wohl auch.«

    »Das wusste ich gar nicht. Die Mutter unseres Bundesbruders eine Heilerin? Der Einstein war schon eine besondere Type. Der hat tatsächlich das schwere Physikstudium geschafft und rechnet jetzt für die Mobilfunkanbieter aus, wo die Masten stehen müssen und so einen Kram.«

    »Er hätte Besseres verdient. Schade. Mit Einstein habe ich viele Nächte trinkend und vor allem diskutierend verbracht. Er erzählte mir von der neuen Physik und dass sich die Erfolge der sogenannten Geistheilung auf Quantenphänomene zurückführen lassen. Ich war wie elektrisiert, doch je mehr ich darüber las, desto mehr wuchs die Erkenntnis, dass ich in die ursprüngliche Welt der Schamanen und Heiler eintauchen müsste, wenn ich Antworten auf meine ganzen Fragen erhalten wollte.«

    Mülenberk war sichtlich irritiert. »Geistheilung? Schamanen? Quantenphysik? Ich kann dir nicht

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