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Côte Sauvage: Die wilde Küste
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eBook294 Seiten4 Stunden

Côte Sauvage: Die wilde Küste

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Über dieses E-Book

In der Zeit der Umbrüche und Neufanfänge zu Beginn der 1990er Jahre beschließt der Berliner Max, seinem bürgerlichen Leben den Rücken zu kehren. Er packt seine Sachen und macht sich mit seinem klapprigen Mercedes auf eine ziellose Reise durch Europa. In der Bretagne trifft er seinen alten Freund und Mentor Otto, der dort zusammen mit ein paar Aussteigern die Strandbar "Chez Otto" betreibt. Auf der Suche nach dem verlorenen Lebensgefühl der alten Studentenzeiten realisiert er nicht, wie sehr er sich vom Leben entfernt hat. In seiner Welt aus Rausch und Depression gefangen, lässt er sich von einem Tag in den nächsten treiben und wird immer mehr zu einem emotionslosen Außenseiter - bis ihn eine Reihe tragischer Ereignisse wieder in die Realität zurückholen und er vor schweren Entscheidungen steht …
Tom Gapski entwirft mit seinem Roman ein dramaturgisch geschicktes, beinah philosophisch anmutendes Roadmovie, dessen Figuren sich - verloren in einer neuen, fremden Welt mit sich wandelnden Freund- und Feindbildern - neu orientieren und (er)finden müssen. Es ist nicht nur eine Geschichte über Verlust und Sehnsucht, sondern auch über die Kraft von Freundschaft und Liebe.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Apr. 2017
ISBN9783743910119
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    Buchvorschau

    Côte Sauvage - Tom Gapski

    1

    Inzwischen lenkte ich den Wagen in Richtung der untergehenden Sonne, so wie einer dieser Cowboys auf der Flucht vor der Zivilisation. Ich war nicht auf der Flucht, ich war auf dem Weg zu Otto, aber keiner konnte wissen, worauf das hinauslaufen würde. Vieles hing davon ab, welche Art von Behausung der alte Kauz hier unten bewohnte und mit was für Leuten er sich diesmal umgab. In den vielen Jahren, in denen ich ihn nun kannte, musste ich schon öfter aus seinen Höhlen fliehen, um nicht das letzte bisschen zivilisierten Lebensstils zu verlieren, der mir noch geblieben war. Zudem hatte ich kein treues Pferd unterm Hintern, das mit mir durch Dick und Dünn ging. Keinen treuen Freund, mit dem ich im gemächlichen Trab durch die Prärie ritt. Ich, ich hatte meinen alten Mercedes-Leichenwagen, ein in Ferrari-Rot übertünchtes Modell aus den Siebzigern, und der weigerte sich strikt, mir das Fahren angenehm zu gestalten. Das Ding hustete und furzte bei jeder Kurve und bei jedem Anstieg, als läge es in den letzten Atemzügen. Überall knatterte und knarrte es. Insgeheim rechnete ich jeden Augenblick damit, dass die Kiste in ihre Einzelteile zerfiel. Einst ein eleganter und auf den Friedhöfen dieses Kontinents viel gesehener Wagen, hatte das Fahrzeug unter meinen Fittichen annähernd jeden Lebenswillen verloren. Zugegeben – ich mache es meinen Autos nicht immer leicht. Ich wusste weniger über Motoren und deren Wartung als ein Dreijähriger und deshalb unterließ ich jede Anstrengung, gelegentlich einen Blick unter die Haube zu werfen. Einmal im Jahr besuchte ich einen Freund im Elsass, der gegen ein paar Scheine dafür sorgte, dass das Brummen dort vorn nicht völlig erstarb. Solange das Fahrzeug halbwegs vorwärts rollte, war mir alles andere egal.

    Auch wenn mir klar war, das bringt nicht viel, trat ich aber das Gaspedal trotzdem voll durch. Der Motor wurde noch lauter, aber der Wagen rollte unbeeindruckt in seinem gemächlichen Tempo weiter. So durchfuhren wir beschauliche Ortschaften oder baumgesäumte Landstraßen der nördlichen Bretagne, nicht weit von der Küste, und ich widmete all dem keine größere Aufmerksamkeit. Pittoreske Landschaften übten schon lange keinen größeren Reiz mehr auf mich aus. Den Bereich meines Herzens, der sich davon früher mal hatte beeindrucken lassen, den hatte ich schon vor vielen tausend Kilometern aus dem Fenster geworfen und sich selbst überlassen.

    Ich schnappte mir ein Bier aus der Kühlbox auf dem Rücksitz und drehte das Radio voll auf. Ich wollte das Stück hören, und vor allem wollte ich dem Klopfen und Klappern dort vorne etwas entgegensetzen. Das melodische Klicken der leeren Bierdosen vor dem Vordersitz reichte nicht mehr aus, um die Misstöne des Aggregats unter der Motorhaube zu übertönen. Mitten in Zappas »Stinkfood« entdeckte ich das Hinweisschild hinter dem Geäst eines Baumes und hätte beinahe die richtige Abfahrt verpasst. Ich musste die Bremsanlage des Wagens bis zur Belastungsgrenze strapazieren, um zum Stehen zu kommen. Komisch, dachte ich mir, eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass Otto sich so nahe der Zivilisation eine Behausung suchen würde. Er bevorzugte in der Regel ziemlich abgelegene Gegenden, um sich niederzulassen. Diesmal schien das anders zu sein. Was ist los mit dir, Otto, wirst du langsam träge oder alt oder sowas? Mann, was zum Teufel hat dich dazu gebracht, dich so nahe einer Ortschaft anzusiedeln, in der noch Menschen wohnen?

    Die Strecke wurde zunehmend steil und kurvenreich und in der Mitte einer ziemlich scharfen Linkskurve platzte mir der linke Vorderreifen. Der Wagen schoss von der Straße und wir wären fast von den Klippen geknallt, hätte ich das Fahrzeug nicht rechtzeitig in meine Gewalt gebracht. Dabei fiel mir die Dose aus der Hand und landete auf der Hose und das Bier breitete sich dort aus, als hätte es niemals woanders sein wollen. Ich hasse solche Momente. Ich hasse es, ein gutes, einigermaßen kühles Bier zu verschütten, ich hasse es, in einen Straßengraben zu knallen. Ich hasse es, keinen Ersatzreifen dabei zu haben und vor allem hasse ich unzuverlässige Autos!

    Ich versuchte, die Kiste irgendwie an den Straßenrand zu bugsieren, ließ sie ausrollen, stieg aus, öffnete eine neue Büchse, starrte wütend in den Sonnenuntergang und trat dem Müllhaufen an den Kotflügel. Das hob meine Stimmung auch nicht, aber dafür schmerzte mir jetzt auch noch der Fuß. Ein störrisches Pferd hätte ich wenigstens erschießen können! Ich setzte mich ins Gras und trank erst mal in Ruhe aus, sollen sie doch warten, wozu all die Hektik, was soll der Mist? Erst mal einen kleinen Joint und die Welt sieht wieder gut aus!

    Mein Zippo war nass geworden und wollte nicht mehr zünden. Und ich wusste, dass der Anzünder von dieser Schrottreuse schon lange seinen Geist aufgegeben hatte. Ich unterließ es, mein Gepäck nach einem Feuerzeug zu durchsuchen, das wäre ebenso aussichtslos wie die Suche im Auto nach einem neuen Reifen. Keine Chance, den Glimmstängel mit Feuer zu versorgen! Also fasste ich einen Entschluss: Ich schnappte mir das Nötigste und latschte los, um vielleicht irgendwo Hilfe zu finden. Die Tatsache, während dieses zwangsverordneten Spaziergangs noch nicht mal in Ruhe rauchen zu können, führte die Liste der Dinge, die mir an diesem Tag auf die Nerven gingen, fort. Zum Glück hatte ich noch ein paar Bierchen dabei!

    Während ich der Straße folgte, fluchte ich vor mich hin, als wäre das der einzige Sinn meines Lebens. Keine Angst, versprach ich mir im Stillen, sobald ich bei Otto angekommen bin, werde ich der Kiste ein angemessenes Ende bescheren und mir einen Schrottplatz suchen oder besser noch: sie direkt von den Klippen am Cap Ferrat ins Meer stürzen! Konzentriert, ohne Joint, ohne Musik und wütend über all den Mist erreichte ich schließlich den kleinen Ort, den ich eigentlich schon hinter mir gelassen hatte. Ich fand eine Garage, fand einen Typen, der mit einem neuen Rad und mir zurückfuhr und mir das Ding montierte, wurde eine Menge Geld los und rollte schließlich weiter. Inzwischen war es Nacht. Nimm einfach die Küstenstraße, hatte mir Otto geschrieben, direkt hinterm Ortsausausgang, von dort geht irgendwann, nach etwa zwei Kilometern oder so, ein kleiner Weg in Richtung Strand; nimm den. Du kannst das Schild eigentlich nicht übersehen, »Chéz Otto – Bar Diskothéque«, bieg ab und du bist schon fast da.

    Ich war weder überrascht darüber, dass es offensichtlich keine Küstenstraße gab, noch dass kein Schild existierte, wie der alte Knabe es mir geschrieben hatte. Wie würden es wohl die anderen Gäste anstellen, ihr Ziel zu finden? Ich jedenfalls beschloss, sollte ich nicht bald mein Ziel finden, einfach irgendwo heranzufahren und erstmal eine Runde zu pennen. Dann aber entdeckte ich ein paar kleine Lichter, direkt in Richtung Küste.

    Der Laden lag eng an die Felsen geklammert und seine Beleuchtung warf ihr mattes Licht auf eine kleine Bucht, die außer einem steinigen Miniaturstrand nur zerklüfteten Fels und riesige Findlinge zu bieten hatte. Ich konnte nicht erkennen, wie weit die Bucht sich erstreckte, es war bereits zu finster und es herrschte Neumond, aber ich ahnte nichts sonderlich Berauschendes. Nur Otto konnte auf die Idee kommen, an einem solchen Ort eine Strand-Disco zu eröffnen.

    Ich nahm nicht an, dass er an einem florierenden Geschäft interessiert war, denn auf den ersten Blick schien es sicher, dass er hier seine Ruhe haben würde. Es roch nach Tang und Meer, nach totem Fisch und nach irgendetwas anderem – undefinierbar und unangenehm. Vor einer großen eingeschossigen Hütte auf Stelzen und mit einer enormen Terrasse befand sich das »Chéz Otto«. Es gab einen kleinen Parkplatz und genau hier endete meine Fahrt fürs Erste. Ein paar Autos waren willkürlich abgestellt worden, und ich entschloss mich, den Daimler einfach irgendwo dort stehen zu lassen, wozu sich die Arbeit machen, das Ding unnötig zu manövrieren? Ich dachte nicht darüber nach, wo die Fahrzeuge, die hier rumstanden, herkommen mochten. Ich wusste, hier läuft demnächst ein Fest, wahrscheinlich war ich nicht der erste Gast, wozu sich Gedanken machen? Außerdem war ich völlig erledigt und wollte so schnell wie möglich an ein kaltes Bier. Mein Vorrat war nun doch noch zu Ende gegangen und meine Körper lechzte förmlich danach, wieder auf sein gewohntes Niveau gebracht zu werden. Ich schnappte mir das Nötigste und machte mich auf den Weg. Je näher ich der Hütte kam, umso intensiver wurde der Kneipenlärm, es hörte sich an, als ob dort schon gefeiert wurde. War ich etwa zu spät dran? Ich hatte geplant, mindestens vier Tage vor dem Fest hier zu sein, und ich war mir sicher, das hatte ich auch geschafft. Hatte ich vielleicht ein paar Tage verpasst oder sonst irgendwas nicht mitgekriegt? Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, was los war.

    Im Laden saßen allerhand Leute, vor allem Jugendliche. Irgendwo wurde gekifft. Rockmusik übertönte das Gemurmel der Gespräche in der perfekten Lautstärke. Ich mochte Led Zeppelin schon immer und wiegte im Schritt mit dem Rhythmus des Songs. »Dazed and Confused« – das passte! Die Luft war stickig und heiß, das Licht gedämpft. Ich konnte kaum das andere Ende des Raumes sehen. Von den Leuten, die ich sehen konnte, kannte ich keinen. Die meisten sprachen Französisch. Ich war ziemlich überrascht. Die Atmosphäre hier war gut, das war keineswegs etwas, das man von Otto erwartet hätte. Otto war kein geselliger Mensch, hatte es während der letzten zehn Jahre gehasst, mit allzu vielen Leuten zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein. Ich hatte wirklich nicht die geringste Vorstellung davon, was hier passiert sein konnte, warum im »Chéz Otto« derart viele Leute rum saßen und dabei auch noch den Eindruck machten, sich wohl zu fühlen. Ich latschte durch den Nebel aus Zigarettenrauch hindurch zum Tresen, und nachdem ich mir einen Hocker ergattert hatte, versuchte ich herauszufinden, wie ich hier an ein Bier kommen konnte. Plötzlich stand er mir gegenüber und ich fiel fast vom Sitz. Scheiße! Otto hatte einen gestutzten, gepflegten Bart, die langen weißen Haare sauber in einem Zopf nach hinten gebunden, klarer Blick und gesunden Teint. Er trug eine neue Jeans und ein buntes Hemd, das ich erst vor kurzem auf einem großen Plakat eines sauteuren Modelabels gesehen hatte. Und er roch nach Parfum! Ich kannte den Mann jetzt schon seit etwa 12 Jahren – seit meinem ersten Semester Germanistik an der FU Berlin – aber so hatte ich den sonst verknitterten und ungepflegten Typen noch nie erlebt.

    - Was ist los, Mann, Salût, schön, dich endlich mal wiederzusehen. Hey, schön, dass du da bist! Comment ça va?

    Ich rappelte mich auf, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber vor allem versuchte ich, zu antworten. Ich war ziemlich geplättet. Schon seit Jahren hatte ich kein deutsches Wort mehr von Otto gehört und es war mir unbegreiflich, jetzt von ihm in dieser Sprache begrüßt zu werden. Seit seinem Rausschmiss von der Uni 1988 hatte er dem Land und seiner Kultur den Rücken gekehrt und war nie wieder da gewesen. Meist sprach er Französisch oder Englisch, konnte aber auch noch ein paar andere Sachen ganz gut. Wahrscheinlich sprach er zudem tote Sprachen besser als die meisten Lebenden ihre Muttersprache. Wir beide unterhielten uns immer in Französisch, denn das hatte ich drauf, kein Wunder nach all den Jahren hier unten.

    - Salût mon ami! Comment ça va?

    Er lächelte, etwas, das ich auf diese Weise noch nie gesehen hatte, da sein Lächeln sich gewöhnlich unter dem dichten Gestrüpp eines struppigen Bartes versteckt hielt. Er knallte mir eine Hand auf die Schulter, so fest, dass ich glaubte, das Schulterblatt ist hin, und erst jetzt wusste ich, hier bin ich richtig, bestimmte Gewohnheiten, die legt man nicht ab, die bleiben an einem Menschen kleben wie eine Narbe, die sind immer da. Hey, sagte ich zu ihm, was in aller Welt ist hier los?

    - Mann, hast du noch nie `ne volle Kneipe gesehen? Was soll schon los sein? Wie du siehst, verdiene ich mir hier einen geruhsamen Lebensabend.

    - Klasse, Otto verdient sich einen geruhsamen Lebensabend!

    Ich zog die Worte in die Länge wie eine alte Snob Lady, die über ein verstopftes Klo spricht, und schnitt eine ziemlich angewiderte Grimasse. Ich konnte und wollte das alles nicht glauben. Otto und ein geruhsamer Lebensabend – das passte zusammen wie George Bush und die Friedensinitiative. Irgendetwas musste hier passiert sein, das dem armen Kerl komplett das Gehirn gewaschen hatte. Wer auch immer mir da gegenüber saß, das war nicht Otto, das war vielleicht noch nicht mal die Realität. Klar, das war die Lösung, du bist eigentlich gar nicht hier angekommen, du liegst irgendwo in der Nordbretagne mit deiner Kiste im Straßengraben oder auf dem Grund des Ärmelkanals, dein Schädel ist aufgeplatzt wie eine reife Tomate, du phantasierst im Koma oder im Todeskampf; logisch, das ist die Lösung!

    - Schau nicht so ungläubig! Es ist wahr, ich habe vor Kurzem beschlossen, endlich mein Leben zu ändern, mich niederzulassen, den alten Omnibus in eine Scheune zu stellen und etwas dafür zu tun, dass ich mit Siebzig nicht von irgendwelchen Wohlfahrtsgeschichten abhängig bin. Hey Alter, ich werde in ein paar Tagen fünfundsechzig, was meinst du, wie lange mir das Glück noch hold bleibt und mich mit dem Nötigsten versorgt? Mach dir da mal keine Gedanken, Otto ist der Alte geblieben, nur die Umstände haben sich geändert. Junge – wir werden bald ein neues Jahrtausend haben, da heißt es »umdenken oder untergehen«. Und ich werde ja schließlich nicht jünger, oder!?! So, jetzt hältst du dein Maul und trinkst erst mal einen Schluck mit mir, sonst muss ich auf meine alten Tage noch kleine Jungs verprügeln! Ich sag dir, da hab ich echt keinen Bock drauf!

    Er schüttete zwei Wassergläser halbvoll mit irgendeinem weißen Schnaps, der roch, als wäre er ein ganzer Obstgarten, und wir ließen die Gläser klirren und kippten das Zeug runter. Sofort änderte sich meine Wahrnehmung und so ziemlich alles war mir mit einem Mal gleichgültig. Ich schwebte auf einer Wolke aus purer Entspannung. Ich war froh, hier unten zu sein, alles andere spielte keine Rolle, Prost Leben, auf dein Wohl!

    Ich schaute dem Typen, der mir gegenüber saß, in die Augen, und wieder war ich begeistert von der mysteriösen Ausstrahlung, die hinter diesem Blick verborgen lag. Ich war schon immer gefangen von dieser traurigen, wissenden, klaren, unergründlichen Gedankenwelt, die in Ottos Schädel zuhause war. Er war nicht einfach ein alter Mann, nicht einfach einer von den Typen, die sich in ihrer Lebenserfahrung baden, die aufgehört haben, über das Leben nachzudenken, wozu noch lernen, was soll das bringen? Ich hab’s bald hinter mir, jetzt sollen doch andere das Lernen übernehmen, die Zeiten, die sind für mich vorbei! Otto konnte nie genug lernen. Vom ersten Moment an, als er mir über den Weg gelaufen war, war mir das klar geworden; er war der, der die Fragen stellte, er war der, der neugierig wie ein Kind, mit offenem Mund und fasziniertem Blick, meinen kühnen philosophischen Gedanken gelauscht hatte, nur selten kritische Fragen einwarf und immer wieder nachhakte, immer wieder tiefer ging, in mich hineinzuschauen schien wie einer, dem meine Gedanken offen dargelegt würden, wie ein Buch, das du nur zu lesen brauchst.

    Damals war er einer meiner ersten Professoren gewesen. Da hatte mein Alter noch Hoffnungen in mich gesetzt und mir ein Studium finanziert. Ich saß in Ottos Vorlesungen und hörte dem Typen dort vorne zu, und auch wenn seine Worte verständlich waren, auch wenn mir dessen offensichtlicher Sinn klar schien, wusste ich, dass Ottos Thesen einen tieferen Sinn verbargen, den zu entdecken er uns selbst überließ. Er stellte uns auf die Probe. Ich hatte ihn nach einer dieser Vorlesungen aufgesucht, um über diese Dinge zu reden und er hatte mich nur am Arm gepackt und mitgeschleift.

    - Keine Zeit! Wir müssen los! Bist du im Besitz eines Motorradhelms?

    Verdutzt folgte ich ihm und wir landeten auf einer nicht genehmigten Demo. Arm in Arm marschierten wir in der ersten Reihe und schrien unseren Protest in die Welt hinaus, bis die Bullen mit ihrem Tränengas und ihren Schlagstöcken zum Einsatz kamen und dem Ganzen ein jähes Ende setzten. Otto war dabei von einer Gasgranate umgehauen worden, die ihn mitten auf die Brust traf, also schnappte ich mir den riesigen, schweren Typen und schleppte ihn irgendwie in eine Toreinfahrt, wo wir uns versteckt hielten, bis alles vorbei war. Das war quasi der Beginn unserer Freundschaft. Wir wurden richtig aktiv im Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt. Immer wieder bildeten wir politische Aktionsgruppen, gingen zu jeder Demo, die es uns wert schien, überall in Europa, und kriegten öfter auch mal eins in die Fresse. Und wir diskutierten viele Nächte lang über den Sinn des Lebens, den Sinn der Politik und den ganzen anderen Scheiß. Schließlich flog er von der Uni und ich schmiss hin. Ein kleiner pickliger Erstsemestermacho hatte ihn letzten Endes zu Fall gebracht. Er hatte den Typen dabei erwischt, wie er versuchte, auf dem Damenklo einer Frau gegen ihren Willen an die Wäsche zu gehen. Ein einziger Uppercut hatte den Wichser auf die Bretter gelegt und Otto aus der Uni gekickt. Was all die politischen Aktivitäten nicht geschafft hatten, hatte der Schwanz eines Triebtäters innerhalb eines Augenblicks erledigt. Und die Bosse an der Uni rieben sich die Hände vor Freuden, dass sie diesen unbequemen Politaktivisten endlich von ihrer Gehaltsliste streichen konnten.

    Otto verbrachte 30 Monate im Knast in Tegel und ich schmiss mein Studium hin. Keiner der Leute, mit denen wir gekämpft hatten, interessierte sich für Ottos Schicksal. Er war sozusagen nicht im Kampf gefallen und war somit aus ihrem Blickfeld verschwunden. Ein Typ, der einem unschuldigen Studenten die Fresse einhaut, ist es nicht wert, sich um ihn zu kümmern, und das bisschen Gefummel kann ja nicht so schlimm gewesen sein, dafür sind die Weiber doch da! Selbst einige der Frauen aus unserem ehemaligen politischen Block klagten die Gewalttat gegen den Typen an und ignorierten das Schicksal der beinahe vergewaltigten Frau. Ignoranz und Intoleranz waren schon immer große Stärken der linken Blöcke, das sah ich nun auch ein. Also beendete ich meine Zeit als Politaktivist. Ich überließ die Szene sich selbst und stürzte in ein tiefes Loch aus Dumpfheit und Antriebslosigkeit. Ich besuchte gelegentlich Otto, widmete mich dem Lesen und meinen Gedanken und ließ die Zeit sinnlos an mir vorbeiziehen. Regelmäßig kam genug Kohle von meinem Alten und ich behielt meinen neuen Status ihm gegenüber für mich. Er hatte mehr als genug auf dem Konto und ich wollte ihn nicht mit meiner neuen nihilistischen Weltanschauung nerven. Ich verdrängte jeden Gedanken daran, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte. Es war mir einfach egal. Bis auf die üblichen Barfliegen in meinen Lieblingslokalen hatte ich kaum sozialen Kontakt. Wenn es sich ergab, ließ ich mich auf Bettspielereien mit irgendwelchen Frauen ein, aber das hellte meine Stimmung auch nicht wirklich auf. Ich suhlte mich in meiner Depression und wartete auf das Ende der Welt. Den Fall der Mauer und das Ende von West-Berlin, wie ich es kannte, erlebte ich nur verschwommen, wie einen finsteren Traum, und während Deutschland sich im Freudentaumel in den Armen lag, lag ich auf der Couch und versuchte mich am Gesamtwerk von Thomas Mann, dessen Bücher sich wie ein papiernes Mahnmal neben meinem Bett stapelten. Ich lebte von Pizza und Bier, gelegentlichen Joints und den Geschichten in meinen Büchern. 1989 verbrachte ich viel Zeit damit, drüber nachzudenken, wie ich die alljährliche Weihnachtsfeier mit meiner Familie umgehen konnte, die in diesem Jahr ein wahrer Albtraum zu werden versprach. Mein Erzeuger hatte einiges zu feiern, garantierte die neue Weltordnung doch einiges an weiteren Milliönchen auf seinem Konto, denn endlich würde er mit seiner Firma in die neuen Länder expandieren können.

    Am 12. Dezember 1989 tauschte in Kreuzberg ein 19jähriger Typ aus Pankow seinen Trabi und einen riesen Batzen Bargeld aus ungeklärter Herkunft gegen einen schrottigen 1978er BMW 635csi und machte sich damit auf den Weg nach Hamburg. Endlich auf der Westautobahn angekommen, gab er Vollgas, verlor die Kontrolle über den Wagen und schoss über die Leitplanke direkt in einen kleinen Lancia Ypsilon. Meine Mutter hatte sich aus ihrem Sylter Domizil auf den Weg zu mir gemacht, um mir endlich mal die Leviten zu lesen, mir wieder auf die Beine zu helfen, und für meine Anwesenheit am Weihnachtsschmaus zu sorgen. Der Ypsilon war nur noch ein Blechhaufen, sie war sofort tot. Direkt nach dem Anruf meines Vaters kaufte ich mir meinen ersten Kombi, füllte ihn mit Bier und Büchern und durchpflügte seither die Straßen Europas ohne ein wirkliches Ziel. Neben diesen und ein paar Klamotten, ein paar Tapes und meinen Drogen- und Bargeldvorräten ließ ich alles zurück. Das ist nun sechs Jahre her. Bis heute weiß ich nicht, was aus meinem ganzen Krempel geworden ist, und es ist mir auch scheißegal. Mithilfe seiner findigen Anwälte ließ mir mein Alter meinen Erbanteil nur als monatliche Überweisung zukommen, damit ich nicht alles verprassen würde. Ich akzeptierte das Arrangement gerne und verschwand aus dem Leben meiner restlichen Familie wie ein unangenehmes Jucken nach einem Mückenstich. Nur selten war ich seither nüchtern, und das angenehme Alkoholniveau, das ich stets anstrebte, erlaubte es mir, so ziemlich allem und jedem gegenüber gleichgültig zu sein. Doch den Kontakt mit Otto hatte ich nie aufgegeben.

    - Du bist ein interessanter Mann mit interessanten Gedanken, hatte er irgendwann gesagt, ich werde deinen Weg verfolgen. Werde endlich aktiv und schreib all den Scheiß auf, der dir durch den Schädel geht, schreib es auf, mach eine Geschichte draus, erhalte es der Nachwelt und scher dich einen Dreck drum, ob die sich auch wirklich für deine Gedanken interessiert.

    Inzwischen donnerte das Blood, Sugar, Sex Magic Album von den Chili Peppers über die Kneipenlautsprecher. Otto goss die Gläser wieder voll.

    - Was machen deine Schriften, fragte er wie beiläufig, ich habe immer noch nichts davon gehört, dass dir irgendwer einen Literaturpreis oder sowas verliehen hat?

    Keine Antwort. Ich hasste es, wenn er dieses Thema zur Sprache brachte, und er wusste genau, dass ich es hasste. Es interessierte ihn nicht im geringsten, dass er immer wieder offene Wunden mit Salz bestreute, es schien ihm egal, ob ich damit fertig wurde, von ihm zur Schnecke gemacht zu werden. Du musst stark sein, pflegte er dann zu sagen. Für Leute, die vor sich selbst und ihrer Courage wegrennen, ist in der Welt der Literaten kein Platz, glaub mir das. Krieg endlich deinen Arsch hoch und schreib!

    Ich nahm den letzten Schluck Bier aus dem Glas, spülte den Schnaps die Kehle runter, und versuchte das Thema zu wechseln.

    - Wo ist eigentlich Annie, wie geht’s ihr? Oder hast du sie inzwischen vergrault!

    - Die ist noch unterwegs, kommt wahrscheinlich

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