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das goldene Haus
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eBook296 Seiten4 Stunden

das goldene Haus

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Über dieses E-Book

nach einer Trennung von ihrem Mann begibt sich Eva auf eine Reise nach Irland. Eine Autopanne lässt sie unvermutet in einem kleinen irischen Ort stranden. Unorthodoxe Hilfe bekommt sie von einem Landsmann, der am Rande der Wellt an seinem persönlichen Projekt arbeitet.
Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte an wechselseitigen Orten - himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Und immer wieder steht Irland mit seinen ganz eigentümlichen Menschen und einer umwerfenden Landschaft im Mittelpunkt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Dez. 2018
ISBN9783742710321
das goldene Haus

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    Buchvorschau

    das goldene Haus - Sabina Ritterbach

    Widmung

    Für die Kinder

    Kapitel - Irland1

    Es gießt in Strömen, und der Scheibenwischer knackt leise bei jedem Hin und Her. Jedes Mal legt er für einen kurzen Moment die unendlich traurige Landschaft frei. Dichte, struppige Hecken, blattlose, schwarze Bäume säumen die Straße. Dahinter hügelige Weiden, auf denen noch immer Schafe grasen oder dicht zusammengedrängt liegen. Die geteerte Straße schlängelt sich schwarz glänzend die Hügel und Täler entlang. Wir fahren zu schnell für dieses Wetter. Meine Hände liegen verkrampft auf meinem Schoß. Dublin liegt hinter uns, ebenso die ersten kleinen Orte. Eine Tankstelle, ein attraktiv bemalter Pub, eine Handvoll kleiner Häuser, ich kenne hier alles. Ich weiß, gleich kommt das Kriegerdenkmal und kurz dahinter die ewige Baustelle, das verlassene Haus, fast ein Herrenhaus, hinter dem auf einem Hügelkamm Bäume so gekrümmt wachsen, als würde dort eine Prozession elender Menschen über den Berg ziehen.

    Meine erinnernden Gedanken sind schneller als das Auto, sie sind schon bei der großen Kurve mit der immer roten Ampel, und albernerweise flüstere ich in Gedanken, wenn sie wieder rot ist, ist es ein gutes Zeichen. Plötzlich hört der Regen und damit das Geprassel auf der Scheibe auf, noch ein paarmal knackt der Scheibenwischer, dann wohltuende Ruhe. Ich entspanne mich. Die Sonne bricht zwischen den dicken dunklen Wolken hervor und taucht alles in grell glänzendes Licht. Alles strahlt und blendet. Die Straße wird zu einem glänzenden Fluss, alles hat sich in Sekunden verwandelt.

    Da, die Kurve und die Ampel, rot, es freut mich. Ich mag diese Gegend und begrüße sie stumm. Ein Blick zu den Ruinen unter den großen kahlen Bäumen, ich brauche kaum hinzuschauen auf diese großen dunklen Mauern, so vertraut sind sie mir.

    Zehn Jahre und einige Wochen ist es her, dass ich meinen Wagen, einen kleinen roten hier parkte und die Anhöhe erstieg. Ich stand zwischen diesen Ruinen. Es war die erste Pause auf dieser Reise. Eine Reise, die ich mir aufgezwungen hatte. Es war meine erste Reise, die ich ganz allein unternahm, unternehmen musste. Es war meine erste Rast, und es waren die ersten großen Ruinen, die ich in diesem Land sah. Ich war es gewohnt, Historisches zu besichtigen.

    Ich war am Morgen mit dem Taxi zum Flughafen gefahren und nutzte die Wartezeit bis zum Abflug, meine Mitreisenden zu beobachten. Ein buntes Gemisch aus Geschäftsleuten, Frauen mit Kindern, zünftig ausgerüsteten Jugendlichen und Touristen mit merkwürdig länglichen Taschen. Im Flugzeug saß ich mitten in einer Männergruppe, die sich ausgelassen auf die nächsten Tage freute. Es waren Angler, die zum Shannon unterwegs waren. Nun wusste ich, was ihre länglichen Taschen beherbergten. Der Flug war schnell vorbei, es war viel gelacht worden, eine lustige Bemerkung folgte der anderen, auch mich bezog man freundlich ein. Am Gepäckband standen wir noch zusammen, dann ein fröhliches und lautes Schönen Urlaub. Am Autoverleih meine ersten englischen Worte, vorsichtig formulierte Fragen, und dann hatte ich Mühe, die raschen Antworten zu verstehen. Nach Beendigung geringer Formalitäten bekam ich den Autoschlüssel über die Theke geschoben. Schöne Ferien, diesmal auf Englisch. Ich fand es sehr aufregend, lief in die verkehrte Richtung und auf den falschen Parkplatz und fand doch irgendwann das Auto, zu dem der Schlüssel passte. Ein Rotes, fast Neues. Volle Konzentration beim Verlassen des Flughafengeländes, immer vorsichtig hinter den anderen Autos her, und das erste Mal links in den Kreisverkehr. Nach dieser Aktion war ich klatschnass geschwitzt, und ich sprach mir ziemlich laut Mut zu. Mein Wunsch war, nur raus aufs Land. Nach Dublin wollte ich erst auf dem Rückweg. Die Straßenkarte hatte ich auswendig gelernt, nicht für die ganze Reise, ich hatte noch keine richtige Vorstellung, wohin ich eigentlich wollte, nur für diese Tagesetappe, und so fand ich die Straße, die nordwärts führte, auf Anhieb. Nun wurde das Fahren fast problemlos, ich fuhr nicht schnell, die Hecken, unübersichtliche Kurven, noch traute ich mich kaum, ein anderes Fahrzeug zu überholen. Außerdem wollte ich nichts von der Landschaft verpassen. In meinem Kopf stapelten sich die Fotos aus Bildbänden und Kalendern, und ich erwartete, dass sich nach der nächsten Kurve endlich das Irland auftun würde, das in meinem Kopf vorprogrammiert war.

    Als nächstes musste ein Fluss kommen und dann der Ort, in dem ich rechts abbiegen musste, und dort lagen so viele historische Stätten und Denkmäler, dass ich erstmal für Stunden beschäftigt sein würde. Ich fuhr in eine große Kurve, bremste an der roten Ampel und fasste den Entschluss, dort oben zu den Ruinen zu gehen.

    Es war Mittagszeit, Sommer, und alles war in hellgelb gefiltertes Licht gehüllt. Die Bäume umfingen mich mit ihren sanften Schatten, und die großen dunklen Mauern der Ruine ragten in den Himmel. Meine Nackenmuskeln entspannten sich, meine vor Anstrengung leicht feuchten Hände umklammerten kein Steuerrad mehr, ich stand allein zwischen den alten Mauern und hatte nichts zu tun. Ich hatte nichts zu besorgen, nichts zu organisieren, nichts. Ich war allein.

    Ich lehnte mich wie Halt suchend gegen eine der großen Mauern, und vom Boden durchs Gras, über meine Sandalen in die Fußsohlen wuchs dieses Einsamkeitsgefühl in mir hoch. Es ergriff Besitz von mir und aller Mut und alle Tüchtigkeit fielen von mir ab. Noch wehrte ich mich gegen die Tränen, die schon in meinen Augen brannten und meinen Körper auszufüllen schienen. Ich schüttelte den Kopf, ich wollte nicht weinen, aber ich weinte, ich weinte und sackte auf den Boden. Es war mir, als könne ich nie wieder damit aufhören. Ich weinte über alle Kränkungen, die mir zugefügt worden waren, ich weinte, weil ich am Ende meiner Jugend angekommen war, ich weinte über mein Verlassen- und Alleinsein. Mir fielen immer mehr Dinge ein, die ein paar Tränen lohnten. Ich sah durch meinen Tränenschleier auf den Fluss, den Boyne, gedachte der mörderischen Schlachten, die dort stattgefunden hatten, an die vielen Toten, und auch um die weinte ich.

    Nun blicke ich auf den Hügel, die kahlen Bäume und die schwarzen Ruinen und sehe mich wie ein Schattenbild dort hocken. Die Ampel zeigt Grün, und wir fahren über den geschichtsträchtigen Fluss. Ich wende mich zur anderen Seite und schaue den Mann neben mir an. Ich sehe sein Profil, sehr konzentriert, eine steile Falte zwischen den blauen Augen mit den harten kleinen Pupillen. Das dunkle Haar mit den wilden Locken fällt in die gerade Stirn. In den letzten Jahren haben sich die grauen Haare an seinen Schläfen stark vermehrt, und auch in den dichten Bart mischen sich unübersehbar die silbernen Fäden. Ich sehe es mit tiefer Befriedigung, so, als würde jedes einzelne graue Haar die Jahre, die zwischen uns liegen, vermindern.

    Jäh bremst er im Ort vor einem kleinen Laden und brummelt etwas von zu trinken kaufen. Ich steige schnell aus, laufe die zehn Meter zur Kreuzung und stehe vor dem Wegweiser. Dem Wegweiser, der alle die Orte aufzeigt, die ich damals vor zehn Jahren aufsuchen wollte. Und wieder sehe ich mein Schattenbild vor diesem Wegweiser stehen. Die dunkle Sonnenbrille vor den geschwollenen Augen, unfähig auch nur das kleinste Besichtigungsprogramm in Angriff zu nehmen.

    Ein kurzer Pfiff, ich sehe ihn ins Auto verschwinden, ich renne, denn schon hat er den Motor angelassen, aber meine Gedanken bleiben bei dem Tag vor zehn Jahren.

    Todmüde und schlaff fühlte ich mich damals und war nur von einem Wunsch beseelt, möglichst zu schlafen. Ein ziemlich absurder Wunsch, denn die Sonne stand hoch am diesigen Himmel. Ich beschloss, beim ersten Bed and Breakfast anzuhalten. Die Gegend war lieblich. Hügelig, von Hecken umsäumt, Blumen an den Wegrändern, wenig Häuser und kein Schild mit dem Hinweis, dass dort ein Bett für mich gerichtet sein könnte. Die Wegweiser lockten mit Ganggräbern und Hochkreuzen, aber ich wollte und konnte mir nichts ansehen, und so fuhr ich langsam nordwärts. Mitten auf einer kleinen Kreuzung standen zwei alte Männer. Sie hatten ihre Fahrräder dabei und stützten sich auf die Lenker. Trotz der Wärme trugen sie Schiebermützen, alte Jacken und verbeulte Hosen. Vier Hosenbeine wurden von roten dicken Gummis zusammengehalten. Nur widerwillig gaben sie den Weg frei, freuten sich aber, als ich ausstieg und mich ihnen näherte.

    Nice day, isn‘t it? erklang es wie aus einem Munde. Ich fragte nach einer Unterkunft. Erst verstanden sie mich nicht, dann aber, als ihnen klar wurde, was ich wollte, gaben sie mir sehr gern Auskunft, nicht jedoch, bevor sie sich ein wenig stritten. Und so zeigte der eine mit großer Überzeugungskraft nach rechts, und der andere stand ihm um nichts nach und zeigte eindringlich nach links. So fuhr ich erst nach rechts, dann nach links an Hecken und Schafen vorbei und landete auf einem holprigen Weg. Straße ohne Wiederkehr, dachte ich und schon stand ich auf dem Vorplatz eines Bauernhofes. Ich musste wenden. Eine Frau erschien in der Tür, sie blickte abwartend zu mir herüber. Ich wollte gern aussteigen, aber der Hund, schwarzweiß gefleckt, jagte wie verrückt um mein Auto. Er sprang es an, pinkelte in wilder Hast an die Räder, und sein Bellen überschlug sich. Die Frau trat auf den Wagen zu, packte den Hund, gab ihm einen festen Klaps, und er verkroch sich sofort in einen Schuppen. Jetzt konnte ich fragen, wo hier in der Gegend eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden wäre. Ja, sie hätte ein Gastzimmer, aber ich möchte doch so lieb sein und noch eine halbe Stunde am Strand Spazierengehen, dann wäre das Zimmer fertig. Ich solle gleich durchs Gatter über die Weide gehen.

    Ich ging über die Koppel und hatte Angst, denn alle schwarzen Kühe hörten gleichzeitig auf zu grasen und folgten mir. Ruhig, flüsterte ich mir zu. Sie, die Frau, würde mich doch nicht in den sicheren Tod schicken. Am Ende der Koppel war natürlich kein Gatter. Es war mir ungemütlich, vor mir der Stacheldraht, hinter mir die Kühe. Ich suchte einen Trittstein, der mir helfen sollte, den Draht zu überwinden und sah keinen, und somit war es das erste Mal in diesem Land, dass ich ziemlich flach am Boden lag, um unter einem Zaun hindurchzukriechen. Ich hoffte, dass mich niemand beobachtete.

    Feiner weißer Sand, Dünen, blaues, kaum bewegtes Wasser, alles für mich allein. Ich ließ mich in eine Dünenmulde fallen und nach hinten sinken, der Sand rieselte angenehm durch meine Finger, und ich spürte, wie mein noch immer tief inneres Schluchzen verebbte. Und das, was ich erhofft und ersehnt hatte, traf ein: ich schlief, schlief traumlos und fest, und wer weiß, wann ich wiedererwacht wäre, hätte mich nicht dieser schwarzweiße Hund mit seinem Gebell geweckt.

    Ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge standen verlegen lächelnd über mir und sahen auf mich herunter. Ich verstand das Wort mother und ready und dann noch das herrliche Wort tea. Steif erhob ich mich und hatte Mühe, in die Gänge zu kommen. Die Kinder warteten auf mich, und zusammen bewältigten wir den Zaun, denn da gab es doch einen großen Stein, der ein Hinüberklettern ermöglichte. Die Kühe drehten uns den Rücken zu. Der Hund kannte mich nun und bellte freundlich, er sprang in immer enger werdenden Kreisen um mich herum, und der kleine Junge stürzte sich mit mutigem Rittergesicht über ihn. Wir betraten die riesengroße Küche, und sofort fühlte ich mich wie ein Fisch im Aquarium. Decke und Wände waren grellgrün gestrichen, grellgrüne Lackfarbe. Die Neonbeleuchtung verschärfte den Unterwassereffekt. Den dargebotenen Stuhl erreichte ich sozusagen schwimmend. Auf dem Tisch stand der Tee und ein gut riechendes, noch ein wenig warmes Gebäck. Auf einmal hatte ich Hunger. Das letzte Mal hatte ich im Flugzeug gegessen. Ich ließ meine Augen durch den Raum schweifen. Im Herd knackte das Feuer, und ungewöhnlich große Töpfe standen darauf. Viele Stühle und eine Bank um den Tisch. Tonlos flimmerten bunte Bilder auf der Mattscheibe des Fernsehers. Darauf stand eine Miniaturgrotte von Lourdes.

    Die Wände waren gleichmäßig mit frommen Kalendern, Muttergottes- und Herz-Jesu-Bildern dekoriert. Bilder, die ich seit meiner Volksschulzeit nie mehr gesehen hatte.

    Lächelnd setzte sich die Frau mit an den Tisch, die Kinder drückten sich an sie. Und nun wurde ich vorsichtig ausgefragt nach woher und wohin und ob ich auch nach Nordirland wolle. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht, verneinte aber, weil ich dachte, das wäre wohl besser.

    Ich schaute mir mein Gegenüber gut an, sie wird wohl mein Alter gehabt haben, vielleicht auch jünger, bestimmt jünger, der Junge war höchstens vier Jahre alt. Hübsch sah sie aus, sehr dunkle Haare, sehr helle Haut, aber müde Augen.

    Der Tee tat gut, er war heiß und dunkel, und ich ertappte mich beim zweiten Stück Kuchen. Es wurde mir auch noch ein Drittes angeboten, ich wehrte ab und bedankte mich, und da erst schauten die Kinder die Mutter an, und sie gab jedem ein halbes Stück. Als sich die Tür öffnete und gleich drei Mädchen lachend die Küche betraten, wusste ich, warum die übrigen Stücke geteilt wurden. Die Mädchen, Teenager, verstummten, als sie mich sahen. Schweigend setzten sie sich aufs Sofa, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder leise kicherten.

    Zwei von ihnen gingen noch zur Schule, aber jetzt hätten sie Ferien. Die Ältere, 17 Jahre, dunkelhaarig, hellhäutig, blass, hatte einen Job im nächstgrößeren Ort.

    Ich werde meine Koffer holen, sagte ich und erhob mich, fünf Kinder und ein Hund stürzten gleichzeitig zum Auto. Die Mädchen nahmen den Koffer und die Tasche, ich nahm meinen Rucksack und folgte ihnen ins Haus. Wir durchquerten die Küche und betraten einen Flur. Licht flammte auf: Grün. Selbst der Teppichboden hatte grüne, wilde Blumenornamente. Ich schwamm durch den Flur in mein Zimmer, ich durfte dort weiterschwimmen, ich werde unter Wasser schlafen. Man zeigte mir die Badezimmertür und wünschte mir eine gute Nacht.

    Eine kleine Wette mit mir selbst, es ging um die Badezimmerfarbe, ich habe die Wette gewonnen. Grün. Auf dem Bord über dem Waschbecken standen becherweise Zahnbürsten, ich zählte, ich zählte noch einmal und noch einmal, einundzwanzig, das glaubt mir nie jemand zu Hause. Ich war sehr müde, glitt zwischen die Laken und ließ das Grün in der Dunkelheit verschwinden.

    Na, du träumst ja mit offenen Augen, brummte er leise neben mir, hoffentlich ist es was Schönes. Ich tauche einen Moment in der Gegenwart auf und sehe, dass die Sonne verschwunden ist; macht nichts, Hauptsache es regnet nicht mehr.

    Sofort sind meine Gedanken wieder in jenem Bauernhaus, welches gar nicht so weit entfernt von hier liegt. Auch dort ist ein kleiner Teil von mir geblieben, der Schatten von einem Schatten.

    Dort schlief ich in diesem grünen Zimmer, dort träumte ich von Stefan und Sonja. Es war das erste Mal, dass wir eine so lange Zeit getrennt sein sollten. Ich hatte mich von ihnen getrennt, trennen müssen. So war es vereinbart worden. Die Ferien beim Vater. Sie wollten nicht, ich wollte nicht, aber sie glaubten mir nicht und waren böse auf mich. Tagelang schwiegen sie beharrlich, und ihre Augen schauten mich nicht an. Diese wilden Kinder wurden zahm und still, als könnten sie durch ihr Verhalten eine Änderung der Pläne, die ihnen die Erwachsenen aufdrängten, erzwingen.

    Ich träumte vom Krieg und donnernden Panzern und erwachte von dem Lärm, den ein Traktor vor meinem Fenster machte. Ich lag still und befreite mich von meinem Traum. Ich hörte Kindergelächter und versuchte, meine beiden fröhlichen Kinder vor die geschlossenen Augen zu projizieren. Ich fand es abwegig, in einem fremden Zimmer zu liegen und dem Lachen fremder Kinder zuzuhören. Hund, Traktor, Kinder, draußen war die Hölle los. Wie spät mochte es sein? Wann steht ein Bauer auf? Früh, also musste es früh sein. Ich blinzelte, die Sonne schien in mein Aquarium. Ein Blick zur Uhr, ein kleiner Schrei, fast zehn Uhr.

    Frühstück allein für mich am großen Tisch. Auf meine Bitte hin leistete mir die Hausfrau mit einer Tasse Tee Gesellschaft. Mit einfachen Sätzen wagte ich ein Gespräch. Es fing natürlich mit dem Wetter an. Dann meine Frage nach ihren Kindern.

    „Wie viele?"

    Elf, sieben noch zu Hause, die drei Großen in England. Sie seufzte über die harte Arbeit auf dem Hof und die Hausarbeit. Sie hatten sehr viel Land, Kühe und Schafe, Kartoffeläcker auch, und den Garten, den sollte ich mir gleich anschauen.

    Ich hatte Angst vor ihren Fragen. Sie sah mich an, ich sah sie an. Sie sah gut aus mit ihrer weißen Haut und den hohen Backenknochen. Ob ich ganz allein wäre und ganz allein unterwegs? Nein, versicherte ich, nicht allein, aber allein unterwegs. Ich sah ihrer Miene an, dass sie mich nicht verstand, aber sie nickte eifrig. Und dann sagte ich einen Satz, nur um das Gespräch nicht versiegen zu lassen. Ich müsste mich auch einmal von den Kindern erholen. Schon während ich diesen Satz formulierte, wusste ich, wie blöd sich das anhörte.

    Ach, wie viele?

    „Zwei!"

    Da lachte sie laut mit weit zurückgebogenem Hals. Und ich sah das Geheimnis ihrer hohen Wangenknochen. Es fehlten ihr sämtliche Backenzähne. Plötzlich wollte ich fort, ich wollte keine Auskünfte geben, ich wollte mich nicht mehr unterhalten. Pläne wollte ich im Auto machen.

    Gleich sind wir an der Grenze. Suchst du mir mal meinem Pass in der Jacke. übrigens redest du heute ein bisschen viel. Freust du dich nicht?

    Natürlich freue ich mich, ich freue mich, und ich habe Angst, und über diese Angst kann ich nie, nie mit ihm reden.

    Wir stehen am Grenzfluss, diesem Rinnsal mit dem Namen Blackwater, ein Bach, auch an dem gab es blutige Kriege. Bloodwater wäre ein angemessenerer Name und hätte heute noch Aktualität. Morde und Anschläge hören an dieser Grenze nicht auf. Wir stehen in einer längeren Warteschlange, einzeln werden die Autos durch die Ampelanlage über die großen Schwellen zur Passkontrolle vorgelassen. Perfekt ist diese Grenze ausgebaut. Betontürme mit schmalen Sehschlitzen in denen Männer, ach Männer, fast noch Knaben stehen. Unter tiefgezogenen Stahlhelmen Kindergesichter. Stacheldraht, Betonmauern und Maschinengewehre. Jedes Mal habe ich ein ungutes Gefühl in der Magengrube, und ich weiß, ihm geht es auch so.

    Wo kam ich vor zehn Jahren das erste Mal über diese Grenze? Es war nicht hier, ich hatte damals nicht die Hauptstraße benutzt. Dort war alles provisorisch, so, als könnte man alles - Häuschen, Schlagbaum und Stacheldraht - in einer Stunde forträumen.

    Er muss nun sehr achtgeben, denn wir durchfahren eine Stadt, in der es vor in Schuluniform gekleideten Kindern nur so wimmelt. Alle Schultore müssen sich gleichzeitig geöffnet haben. Alle Argumente für diese Art von Bekleidung sind mir egal, ich finde, die Kinder sehen scheußlich aus. Kurze Röcke für die kleinen Mädchen, längere für die Älteren, selbst zu dieser Jahreszeit viele Söckchen, das gibt blaurot gefrorene Beine. Die Jungs tragen lange Hosen. Die ganze Stadt wird von dunkelblauen Klamotten, weißen Hemden und roten Krawatten beherrscht.

    Arme Kinder, kommt es vom Nebensitz, und wir müssen beide lachen. Das ist mein Satz, den ich auszusprechen pflege, sobald wir diese uniformierten Kids sehen. Ich erzähle ihm von einem kleinen Jungen, der öfter zum Lehrerpult gebeten wurde, damit die ganze Klasse seine abenteuerliche Garderobe begutachten konnte. Er liebte karierte Hosen im Winter, und im Sommer trug er Jeans mit Herz- und Wolkenmustern. Er bastelte gern an seiner Kleidung herum, setzte Reißverschlüsse ein, nähte dekorative Flicken übereinander und trug die alten Stiefel von Sonja auf.

    Ach, das war Stefan?

    Ja, aber es ist alles fort, irgendwann hat er damit aufgehört, ich hab‘s erst gar nicht bemerkt, als er anfing seriös zu werden.

    Eigentlich schade, meint er. Ich nicke, sehe auf seine zerschlissenen Jeans und den zu kleinen geringelten Pullunder, den er trägt.

    Deine Anziehsachen scheinen auch noch aus dieser Zeit zu stammen, lache ich. Er grinst.

    Nein, die sind älter.

    Einen recht wohlhabenden Eindruck machen die Orte, die wir durchfahren. Die Straßen sind in einem sehr guten Zustand, und jede Menge ordentlicher Autos sind unterwegs. Große Bungalows stehen schmucklos und repräsentativ auf den Rasenflächen, davor asphaltierte Autoauffahrten, nur wenig schmaler als Flugzeuglandebahnen. Ja, die Engländer lassen sich ihr Irland etwas kosten. Hier wird viel Geld hineingepumpt.

    Mist, sagt er und gleichzeitig knackt wieder der Scheibenwischer. Aber wir sind zügig vorwärtsgekommen. Ich komme so gern im Trockenen nach Hause. Im Trockenen nach Hause. Wenn es damals vor zehn Jahren trocken gewesen wäre, hätte ich ihn nie kennengelernt.

    Wie ein verwirrtes Huhn sauste ich damals in der Gegend herum, so, als suchte ich etwas. Ich glaube, ich suchte einen Platz, wo ich solange friedlich bleiben konnte, bis ich mich traute, über alles nachzudenken, über alles, was in dem letzten halben Jahr geschehen war. Ich musste über meine Zukunft nachdenken. Ich suchte also einen Platz, wo ich im wahrsten Sinne des Wortes zu mir kommen konnte. Mein ganzes Leben und besonders diese letzten Monate waren mit Aktivitäten vollgestopft gewesen. Man ließ mir keine Wahl, es musste so vieles geordnet und bewältigt werden. Der Tränenausbruch, der mich vor einigen Tagen überrascht hatte, zeigte mir, dass ich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ziemlich am Ende war.

    Ich machte Rast in einem Pub, saß auf einem Plastiksofa, vor mir der typisch winzige Tisch, trank Tee und aß ein Käsesandwich. Ein Paar betrat den Pub, setzte sich an die Bar und bestellte Bier. Sie unterhielten sich, und erst nach einer Weile wurde ich gewahr, dass es Deutsche waren. Neugierig hörte ich etwas genauer hin, und auf einmal hörte ich den Satz: In Donegal gab es die wenigsten Touristen.

    Dieser Satz setzte sich sofort in meinem Gehirn fest. Ich kaute auf meinem Brot herum, und meine Phantasie begann zu arbeiten. Sie flog über ein leeres weites Land, über Wiesen und Felder, Moore und Klippen, ich sah weiße Strände und das Meer. Ich hatte ein Ziel.

    Auch unser Ziel ist nur noch eine Stunde entfernt, der englische Teil liegt hinter uns. Wir stehen an der Grenze, und Augenblicke später in Donegal. Das erste Mal auf dieser langen Fahrt berührt er meine Hand, biegen seine Finger meine Fingerspitzen leicht nach oben. Rasch bedecke ich seine Hand mit der meinen, so lange, bis er in den vierten Gang schalten muss.

    Ich will mir das erhalten, ich brauche das, geht

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