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Im Schatzfieber
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eBook305 Seiten4 Stunden

Im Schatzfieber

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Über dieses E-Book

Carolin steht gegenwärtig nicht auf der Sonnenseite … fürs Erste verkriecht die Mittdreißigerin sich bei den Eltern und hofft, dass alles anders wird. Tatsächlich stellt ein Buch ihr Leben schon bald auf den Kopf, sie erlebt einen Überfall, kommt einem Bankraub auf die Spur und begegnet einer ziemlich schrägen Unbekannten …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Sept. 2017
ISBN9783897419735
Im Schatzfieber

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    Buchvorschau

    Im Schatzfieber - Eike Bornemann

    Autor

    Prolog

    »Zur näheren Bezeichnung des Gewässers, in welchem Erich mit seinem Bruder die Bruchstücke der verschiedenen Schmucksachen versenkt haben wollte, ging die Fahrt über Heerstraße – Postfenn weiter zur Havel-Chaussee.«

    – Strafverfahren gegen die Gebr. Sass. Landesarchiv Berlin A Rep. 358-01 (5.1)

    »Wo liegt es?« Der Beifahrer hatte sich halb nach hinten umgedreht, um den hochgewachsenen dünnen Mann anzusehen. »Wo habt ihr’s versteckt?«

    Die Stimme war von gleichbleibender Freundlichkeit, dennoch nahm sich der Angesprochene in Acht. Dem forschenden Blick ausweichend, sah er aus dem Seitenfenster des schwarzlackierten Horch 400.

    Die Straße, über die sie fuhren, wand sich um einen Hang und verlief dann weiter geradeaus wie mit der Schnur gezogen. Linkerhand lag dichter, dunkler Wald. Zur Rechten fiel der Hang ab. Zwischen den Bäumen glitzerte Wasser.

    Als die Sonne durch die Blätter brach und das Gesicht des Mannes auf dem Rücksitz mit einem wechselnden Muster dünner Lichtstreifen überzog, kam Bewegung in ihn; doch blieb sie auf seine Hände beschränkt, die er hob, um sich an der Nase zu kratzen. Er musste dazu beide Arme heben, die Handgelenke waren zusammengekettet.

    Die Luft im Innern des Wagens roch stickig nach Leder und nach den Ausdünstungen der Männer. Der Gefesselte bat nicht darum, eines der Fenster herunterzukurbeln und Sauerstoff hereinzulassen, der vermischt sein würde mit dem Duft von Kiefernnadeln, Harz und Laub. Überhaupt hatte er in seinem Leben selten um etwas gebeten. Er nahm, was er wollte. Schien es unerreichbar, schlug er es sich wieder aus dem Kopf.

    Im Wald spazieren gehen müsste man jetzt. Einfach nur drauflos marschieren, ohne genaues Ziel, ohne festen Weg. Auf Bäume klettern. Oder da unten, wo der Fluss breit und träge dahinströmte, ins Wasser springen, ungeachtet der Kühle. Schwimmen, soweit es die Kräfte hergaben. Schwimmen, Angeln, Klettern, Atmen, sich an dem Geruch erfreuen, durch die Wälder stromern – nie war ihm das verlockender erschienen. Wie unbedacht war er früher mit seiner reichlich frei bemessenen Zeit umgegangen. Wie wenig hatte er mit ihr anzufangen gewusst.

    All das dachte der Hagere, ohne es auszusprechen. Er hatte nie viel reden können, schon früher nicht. Im Gegensatz zu den anderen in seiner Familie, den Eltern, den Brüdern. Die waren für ihr flinkes Mundwerk bekannt. Das Schweigen hatte sich bei ihm in den vergangenen Jahren noch vertieft, war zur Gewohnheit geworden. Es war der Trotz, der ihm den Mund schloss. Die Hilflosigkeit und unterdrückte Wut auf die Beschimpfungen, Drohungen und Schläge dieses Kommissars aus Kopenhagen, der sich im dänischen Gefängnis den Beinamen »Christian, der Reizbare« erworben hatte. Vier Jahre hatte der Hagere dort eingesessen, abgeurteilt zusammen mit seinem Bruder, aber getrennt eingesperrt. Sie hatte ihn verändert, diese Zeit. Er war noch schmaler geworden. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen.

    Und nun war er hier. Zurück in dem Land, in der Stadt, aus der sie damals aufgebrochen waren – jung, unternehmungslustig, die Köpfe voll ehrgeiziger Pläne. Eine dumpfe Ahnung begleitete die Rückkehr: Das Schlimmste stand ihnen noch bevor. Man hatte Geschichten munkeln hören, dort im dänischen Gefängnis, über dieses Land, in das sie nach der Haft überstellt werden sollten, über die Veränderungen, die es in den letzten Jahren durchgemacht hatte. Deshalb hatten sie sich gegen die Auslieferung gesträubt, er und sein Bruder. Umsonst.

    In seinem Inneren war der wortkarge Mann auf dem Rücksitz geschwätzig wie eine Elster. Er hielt lange Monologe, stellte Fragen, gab sich Antworten, führte Rede und Widerrede, stritt mit sich selbst.

    Das Jackett schlotterte um seine knochigen Schultern. Er zog sie ein, um so wenig Berührung wie möglich mit den beiden Männern zu bekommen, zwischen denen er auf der Rückbank eingepfercht saß. Schweigsam waren auch sie. Nur der Fahrer und der Beifahrer tauschten hin und wieder halblaute Worte, wenn es um die Strecke ging, die sie entlangfuhren.

    Jetzt wandte der Beifahrer erneut den Kopf. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf seiner Glatze. »Rede mit mir«, forderte er über das Brummen des 80 PS starken Achtzylinders hinweg. »Wo genau habt ihr es versteckt?«

    Wie oft hatten sie ihm diese Frage schon gestellt? In diesem Winter vor beinahe zehn Jahren war es das erste Mal gewesen. Seitdem hatten sie immer und immer wieder danach gefragt. Es ließ ihnen keine Ruhe. Sie würden niemals aufhören. Sie wussten viel.

    Nur eines, das wussten sie nicht.

    »Das habe ich Ihnen doch alles erzählt«, sagte er leise. »In einem Keller liegt’s.«

    »Da war’s aber nicht«, erwiderte der Mann auf dem Beifahrersitz. »Wir waren dort. Nichts haben wir gefunden. Du wolltest uns die Stelle zeigen, hast du gesagt. Wie lange willst du uns noch hinhalten?«

    Der Gefesselte schloss die Augen. »Es ist so lange her.«

    »Der Ausflug hierher war deine Idee«, blaffte es zu seiner Rechten. »Sag uns, wo ihr’s vergraben habt, und du kriegst deine Ruhe.«

    »Totenruhe«, flachste der Fahrer.

    »Überlassen Sie das Reden mir und konzentrieren Sie sich auf die Straße!« Ärger färbte die Stimme des Glatzköpfigen. Von den harten Bandagen, die sich seine Kollegen in den letzten Jahren zugelegt hatten, hielt er nichts. Das war nicht seine Art. Dennoch schwang bei ihm noch ein anderer Unterton in der Stimme mit. Resignation. Sie, seine Kollegen, hatten Gewinn verbuchen können, wo ihm mit seiner Gutmütigkeit der Erfolg verwehrt geblieben war. Widerstrebend musste er es zugeben.

    »Du tätest gut daran, dich wieder zu erinnern«, fuhr er gereizt fort. »Du wirst entweder mit mir reden, oder du redest mit denen da.« Er nickte mit dem Kinn zu den beiden Begleitern. »Besser, du redest mit mir. – Also?«

    »Friedhof«, sagte der Gefangene mürrisch. »Es liegt auf ’nem Friedhof.«

    »Wo genau?«

    »In Charlottenburg.«

    »Nicht im …«, der Beifahrer zögerte unmerklich, »im Grunewald?«

    Der Mann auf dem Rücksitz antwortete nicht mehr. Aus dem Fenster schauend, betrachtete er die Natur so konzentriert, als wollte er den Anblick mit seinen Augen für immer festhalten: das Licht auf dem Wasser dort unten, die knorrigen Stämme der Eichen und Kiefern, das Grün des Mooses und der jungen Triebe. Es war Frühling im Jahr 1938.

    1. Kapitel

    »Arm am Beutel, krank am Herzen

    Schleppt ich meine langen Tage.

    Armut ist die größte Plage,

    Reichtum ist das höchste Gut!

    Um zu enden meine Schmerzen,

    Ging ich einen Schatz zu graben.

    Meine Seele sollst du haben!

    Schrieb ich hin mit eignem Blut.«

    – Goethe

    Fünfundsiebzig Jahre später. – Der Zug rumpelte über eine Weiche, Schneereste stäubten herab, als er die Zweige eines Baumes streifte. Ab da trat der Wald zurück und gab die Sicht frei. Der Blick ging weit über die weiß und grau gefleckte Landschaft, fing sich an vereinzelten Kiefern, an Gruppen von kahlen Birken und Sträuchern. Hoch oben im Geäst saß unbeweglich ein Raubvogel. Ein Rudel Rehe setzte in langen Sprüngen in die Deckung des Waldes. Das Spätnachmittaglicht ging in Abenddämmerung über. Die Sonne stand tief und ließ die Landschaft in allen Einzelheiten plastisch hervortreten. Baumwipfel schimmerten rotgolden, Stämme warfen lange Schatten.

    Die Frau, die im einsetzenden Dämmergrau aus dem Zugfenster schaute, interessierte sich nicht für die karge Schönheit der Umgebung. Ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt. Als der purpurne Sonnenball hinter dem Horizont verschwunden war, begann sich ihr Spiegelbild immer stärker auf der Scheibe abzuzeichnen.

    Carolina Barnim hatte einiges getan, ihr Alter zu verbergen. All die Cremes, Lotionen und Masken, von denen die Werbung versprach, sie würden die Haut glätten, die Krähenfüße an den Augen mildern – sie hatten nichts gegen die unbarmherzige Schwerkraft tun können und auch nichts gegen all das andere, was im Laufe der Jahre Spuren in ihr Gesicht gegraben hatte: Ehrgeiz, Enttäuschungen, Kränkungen, Verbitterung. Die Mundwinkel, fand sie, hingen herab, und wenn sie ihren Kopf senkte, trat ein leichtes Doppelkinn unvorteilhaft hervor. Hingegen fielen die wenigen grauen Strähnen im rotblonden Haarschopf kaum auf. Die leicht schräg stehenden, grünen Augen und hohen Wangenknochen hatten seinerzeit auf der Schule und später während der Ausbildung für nicht wenig Aufsehen gesorgt. Noch Jahrzehnte später konnten sich Klassenkameraden genau an ihr Aussehen erinnern. Doch das spielte in Caros Selbstwahrnehmung keine Rolle mehr.

    Inzwischen hatte der Intercity die zerklüfteten Steinwaben der Vorstadt erreicht. Häuserquader sausten vorbei, hell erleuchtete leere Bahnhöfe, durch die der Zug raste, ohne anzuhalten.

    Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Übelkeit. Sie stürzte aus dem Abteil zur Zugtoilette. Der Pessimismus, den sie in den letzten Jahren ausreichend gepflegt hatte, erwartete halb, eine verschlossene Tür vorzufinden, doch die Kabine war frei.

    Die folgenden Minuten verbrachte Caro damit, sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen zu lassen und anschließend in den unergründlichen Tiefen ihrer Handtasche nach den Tabletten zu schürfen.

    Schließlich erinnerte sie sich an die Notfallration im Portemonnaie. Die teure Geldbörse aus rotem Leder war ein Geburtstagspräsent von Henning gewesen – praktisch wie so ziemlich alles, was er verschenkte. Immer war es etwas, das einen unmittelbaren Nutzen bot; nie etwas, das sie sich wünschte, weil es ihre Sinne ansprach. Für Henning, dem nüchternen Pragmatiker, musste jeder Gegenstand einen Zweck erfüllen. Der Gedanke, Dinge könnten ihrer Schönheit wegen begehrt werden, ging ihm völlig ab.

    Blanke Sentimentalität hatte sie bislang davon abgehalten, das Portemonnaie in den nächstbesten Mülleimer zu feuern. Außerdem wusste sie nicht, wohin dann mit dem Geld, den Quittungen, Kreditkarten, Ausweis, Führerschein – und natürlich den Pillen. Es war, wie sie innerlich seufzend feststellte, eben ein ganz und gar praktisches Geschenk.

    Ein Schluck aus dem Flachmann, um die Tablette herunterzuspülen, ein Pfefferminz gegen die Schnapsfahne – fertig.

    Als sie den Blister ins Fach zurückschob, fiel ihr Blick auf die hinter einer Folie steckende Aufnahme von Henning. Aufs Neue überkamen sie Schmerz und Wut.

    Hastig zog sie das Foto heraus in der Absicht, es in kleine Schnipsel zu zerreißen und die Toilette hinunterzuspülen. Im letzten Moment besann sie sich, glättete das Bild und schob es zurück. Eine fast abergläubische Furcht hatte sie davon abgehalten, es zu zerstören, so als wäre die Fotografie eine Art VoodooPuppe und sie würde mit deren Vernichtung endgültig die letzten Verbindungen zerstören.

    Nach einem letzten Blick in den Spiegel kehrte sie in ihr Abteil zurück, wo sie Jacke und Schal überzog und sich daran machte, den Koffer von der Ablage zu heben.

    Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und kam zum Halten.

    Caro wuchtete den Trolley auf den Bahnsteig und schaute sich suchend um.

    Dort hinten stand er. Als er auf sie zukam, spürte sie in der Herzgegend einen schmerzhaften Stich.

    Ihr Vater schien in den letzten Jahren kleiner geworden zu sein. Allerdings war es nicht so sehr das Alter, das seine Schultern beugte. Von der Krankheit hatte sie auf See erfahren. Per Skype. Im Zeitalter der elektronischen Kommunikation entfiel die Notwendigkeit persönlicher Besuche, zumal sie die meiste Zeit des Jahres über ein ganzer Ozean trennte.

    Wie viele Silvester- und Weihnachtsfeiern hatte sie mit den Arbeitskollegen auf hoher See verbracht? Caro wusste es nicht mehr. Fernweh hatte sie früh aus der elterlichen Wohnung getrieben, die Romantik der Seefahrt. In ihren Mädchenträumen brandete die See gegen ferne Küsten, wölbte sich ein mit Sternen übersäter dunkelblauer Himmel über gebauschten Segeln. Schon damals, während ihrer Schulzeit, hing ihr der Ruf einer Träumerin an, die selbstvergessen Palmen und Schiffe unter schwellender Takelage an die Ränder des Geografiebuches malte und heftig zusammenfuhr, wenn sie der plötzliche Aufruf eines Lehrers aus ihren Tagträumen schreckte.

    Zu dumm nur, dass die Geschichten der großen Entdeckungen immer von Männern handelten. Frauen kamen darin kaum vor, und wenn, dann als Objekte männlicher Sehnsüchte, als Geliebte, selten als Gefährtinnen. Magellan, Marco Polo, James Cook, William Dampier … Wo blieben da die Frauen? War es wirklich so, wie einige Bücher immer behaupteten? Waren sie als ängstliche Bedenkenträgerinnen auf ewig dazu verdammt, zu Hause die Brut zu hüten, während die Männer seit eh und je durch die Welt reisten und Geschichte schrieben?

    Später, während ihrer Lehrzeit, entdeckte sie dann endlich die weiblichen Weltreisenden: Alexandra David-Néel, die als erste Europäerin die verbotene Stadt Lhasa betrat, Jeanne Baré, die 1766 als Mann verkleidet die Welt umsegelte, Grace O’Malley, die »Seewölfin«, Jane Franklin, die auf der Suche nach ihrem Mann in der Arktis spurlos verschwand, die trinkfeste Mary Kingsley …

    Das war längst Vergangenheit. Die Faszination für Seeabenteuer ging mehr und mehr im Bordalltag verloren. Nach fünfzehn Berufsjahren fragte sich Caro, was zum Teufel denn bloß so romantisch sein sollte an der ganzen Seefahrt. Die ewiggleichen Strände, die dahinter aufragenden Bettenburgen, bei denen der Blick aufs Meer im Preis inbegriffen war, die Restaurants, Spielcasinos und Ladenreihen, wo gut betuchte Touristen ihr Reisegeld lassen konnten – es begann sie zu langweilen. Und immer öfter überkam sie Ekel angesichts des Mülls, der mitunter kniehoch den Spülsaum der einstigen Paradiesstrände bedeckte: kilometerlange Reihen angeschwemmter Schuhe, Plastiktüten, Kondome, zerdrückter Bierdosen, Glühbirnen, Styropor. Hinzu kam das tägliche Einerlei auf dem Schiff, das sich nicht viel von einem Hotel auf dem Festland unterschied.

    Wo waren sie, die weißen Flecken auf den Karten, die großen ungelösten Rätsel? Wo auch immer sie warteten – an Bord eines Kreuzfahrtschiffes jedenfalls nicht. Dessen Kiel durchschnitt Saison für Saison das ewiggleiche Fahrwasser. Da blieb kein Raum für Fremdes, für Faszinierendes mehr.

    Dabei hatte es viele Wochen gedauert, ehe sie sich in diesem architektonischen Labyrinth zurechtgefunden hatte, das aus dreizehn Decks, vier Restaurants, drei Kinos, einem Theater und über tausendachthundert Kabinen bestand, die Platz für mehr als viertausend Menschen boten. Hin und wieder, wenn sie an ihrem Arbeitsplatz vom Laptop aufschaute, fiel ihr Blick auf zerklüftete Fjorde, Küstenstreifen und Häfen. Die meiste Zeit über sah sie jedoch durchs Fenster auf eine endlose blaue, dunkelgrüne oder graue Wasserödnis hinaus, auf gischtbesetzte Wellenkämme, auf Öltanker, Container-Frachter und Patrouillenkreuzer der Küstenwache, die in der Ferne den Kurs kreuzten.

    Das Schiff war ihr zweites Zuhause geworden. Dort arbeiteten ihre Freunde, dort hatte sie ihren Partner kennengelernt.

    Und nun die Rückkehr. Gestrandet an dem Ort, wo sie aufgewachsen war.

    Die Umarmung ihres Vaters war so fest wie eh und je, doch seine Stimme klang etwas rauer, als Caro sie in Erinnerung hatte. »Was machst du nur für Geschichten.«

    »Papa«, flüsterte sie. Gerne hätte sie ein paar Minuten so dagestanden, gestützt und gehalten von seinen Armen.

    Doch er löste sich zuerst. »Komm ins Auto. Es ist kalt.«

    Es waren Belanglosigkeiten, die sie während der Fahrt austauschten, über Arbeiten am Haus, die anstanden, über Bekannte, die zu Besuch gewesen waren, über das Wetter, den langen, harten Winter, den Frühling, der auf sich warten ließ. Die wirklich wichtigen Themen mieden sie, allerdings aus verschiedenen Gründen. Lars Barnim war klug genug, seiner Tochter die Entscheidung zu überlassen, wann sie davon anfangen wollte. Mit den Jahren hatte er lernen müssen, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlte, wenn er zu viele Fragen über ihr Leben stellte.

    Caro dagegen wollte erst einmal zu Hause ankommen und dann mit der Mutter reden, seit Urzeiten ihre Vertraute und Trösterin – mehr als der Vater, der ohne Zweifel eine große Hilfe war, wenn es um die praktischen Dinge des Lebens ging, etwa um einen Finanzplan oder um handwerkliche Fragen, in Gefühlsdingen dagegen oft unbeholfen wirkte.

    Vor ein paar Tagen am Telefon, da hatte Caro viel geredet. An die Einzelheiten ihres Gespräches konnte sie sich nicht mehr genau erinnern; sie hatte getrunken an jenem Abend, in der Einsamkeit ihres Apartments. So wie auch an den Abenden davor. Die Stille in der Wohnung erstickte sie. Die Wände schienen näher zu rücken, je länger man sie anstarrte. Irgendwann, schon spät in der Nacht, hatte Caro zum Telefon gegriffen und die Nummer der Eltern gewählt.

    Ihr Vater war rangegangen. Da die Mutter außer Haus mit Freunden aus der Stadt verabredet war, hatte er sich die Endlosschleife aus Klagen und Selbstvorwürfen anhören müssen, die Litanei aus alkoholvergifteter Bitterkeit und Zynismus. Als sie irgendwann erschöpft und den Tränen nahe innehielt, hatte seine leise Antwort nur aus drei Worten bestanden. Drei einfache Worte: »Komm nach Hause.«

    Nach Hause. Es hatte wundervoll geklungen, nach Heimat, Geborgenheit, Nestwärme. Und jetzt war sie also hier: ein verwundetes Wild, das sich ins Unterholz verkroch. Heimkehr, so also sah sie aus. Nicht etwa als gefeierte Abenteurerin, als Karrierefrau, die etwas aus sich, aus ihrem Leben gemacht hatte. Sondern als Verlassene, Gedemütigte, als Verliererin.

    Den Rest der Fahrt über schwiegen sie.

    Die Mutter musste den Wagen von weitem gehört haben, denn sie stand schon unter der Laterne in der geöffneten Haustür, als er in der Garageneinfahrt hielt.

    Nach der Begrüßung brachte Caro ihre Sachen in ihr altes Zimmer unter der Dachschräge. Ungeachtet des Frühlingsanfangs hatte sich der Winter noch einmal mit Schneeschauern zurückgemeldet. Da war es gut, dass im Kachelofen die Scheite glühten. Die anderen Zimmer des Hauses waren längst an eine moderne Gasheizung angeschlossen. Nur in den beiden Dachzimmern standen noch die alten Öfen. Ein großes Bett nahm fast die gesamte Hälfte eines der Räume ein, bedeckt mit Decken, Kissen und – Caro spürte einen Kloß im Hals aufsteigen – mit ihren alten Puppen. Die Eltern hatten ihr Spielzeug aufgehoben, in der Hoffnung eine Enkelin würde es einmal benutzen.

    Das Thema Kinder war ein wunder Punkt in ihrer Beziehung mit Henning gewesen. Caro wäre gerne Mutter geworden. Henning hatte jedoch bereits zwei Kinder, für die er Unterhalt zahlte. Er vertrat die Auffassung, damit seiner Verpflichtung, was das Weiterbestehen der Menschheit anging, Genüge getan zu haben. Die Spirale war seine Idee gewesen, nachdem Caro die Pille abgesetzt hatte. Das Benutzen von Kondomen empfand er als lästige Unterbrechung des Liebesaktes.

    Caro nahm ihre Lieblingspuppe aus Kindertagen auf und strich ihr durchs Haar. In den letzten Jahren hatte es ihr immer öfter einen Stich versetzt, wenn sie auf Facebook die Chroniken ihrer ehemaligen Schulfreundinnen und -freunde anklickte, die Bilder von Brautkleidern, pausbäckigen Babys und niedlichen Kleinkindern zeigten. Mit einem Seufzer ließ sie die Puppe aufs Bett fallen und ging hinunter.

    Während des Essens erging sie sich in einer Aufzählung von Afterreden über Henning und seine neueste Errungenschaft: Er wird bald merken, was er an der Schnepfe hat … Wer sich so schnell hingibt, der betrügt auch … Und viel zu jung ist sie! Was will er mit so einer? Was kann die ihm schon erzählen?

    Am Schweigen der Eltern merkte sie, wie sie sich verlor.

    Plötzlich überkam sie eine heillose Wut. Ihre Eltern würden es nie verstehen, nie ihren Schmerz und die Wut nachvollziehen können! Wie auch! Die hatten einander seit – genau wann? Waren es vierzig Jahre? Und schrieben sich immer noch Liebesbriefe! Besonders der Vater legte dabei überraschend viel Kreativität an den Tag. Soweit Caro wusste, hatte es keine Affären gegeben. Keine verräterischen Rechnungen, keinen Lippenstift am Kragen, keine heimlichen Telefonate. Sie kamen aus einer Zeit, in der man sich ganz altmodisch kennenlernte, miteinander ausging, sich verliebte, verlobte, heiratete, Kinder in die Welt setzte und so lange das Leben teilte, bis die Welt zu Staub zerfiel.

    Konnten sie überhaupt nachvollziehen, wie es war, wenn man jahrelang mit einem Menschen zusammengelebt hatte, der sich am Ende als völliges Arschloch herausstellte? Und den man trotzdem nicht aus dem Kopf bekam, weil er mit der Zeit zu einem Teil der eigenen Geschichte geworden war? Wie sollte man all die Jahre so einfach vergessen, all die gemeinsamen Feste, Partys, Geburtstage, Weihnachten, die kleinen und großen Erinnerungen? Wie konnte man seine Arbeit machen, wo einem der Andere ständig über den Weg lief? Wie sollte man noch durch die Stadt gehen, ohne an jeder Ecke von Erinnerungen überfallen zu werden? Dort war ihr Lieblingsrestaurant; dort war’s, wo er mit seinen Freunden zum Kegeln hinging; dort, wo sie sich nachts im Park geliebt hatten … Wie das vergessen können? Wie?

    Etliche Minuten lang herrschte betretenes Schweigen.

    »Du kannst hierbleiben, so lange du willst«, sagte ihr Vater schließlich leise.

    Caro quittierte es mit einem wehmütigen Lächeln. »Wolltet ihr mein Zimmer nicht vermieten?«

    Mit den Finanzen der Eltern stand es nicht zum Besten. Caro wusste das. Noch kurz vor der Währungsunion hatte die Familie in der Doppelhaushälfte lediglich zur Miete gewohnt. Dann war jedoch die betagte Vorbesitzerin gestorben. Deren Erben hatten dem Ehepaar Barnim das Vorkaufsrecht eingeräumt. Die Raten für den Kredit würden nicht vor Caros fünfundvierzigsten Lebensjahr abbezahlt sein. Schon bald jedoch hatte sich die schnelle – manche Bekannte sagten, überstürzte – Entscheidung als Glücksfall herausgestellt, denn auf dem Grundstück lagen keine Ansprüche eines westdeutschen Altbesitzers.

    Inzwischen hatte die Welle der Gentrifizierung auch Potsdam überrollt. Ihre einstigen Nachbarn, die sich die Mietforderungen nicht länger leisten konnten, waren längst ausgezogen. Keinen Monat lang hing im Fenster der aufgegebenen Orthopädie-Praxis das Angebot mit der Nummer des Maklers, dann hielten schon die Möbelwagen vor der Tür, hatte der Vater Caro auf der Hinfahrt erzählt. Und wo einst die Buchhandlung gewesen war, befand sich jetzt ein Feinkostgeschäft. Das Viertel hatte sich verwandelt. Kunstvolle schmiedeeiserne Gitter umgaben

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