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4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018
4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018
4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018
eBook878 Seiten9 Stunden

4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

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Über dieses E-Book

Diese Anthologie begleitet den vierten Bubenreuther Literaturwettbewerb. Die Begeisterung fürs Schreiben ist offenbar ungebrochen. Auch in diesem wie in den vorigen Jahren kamen überraschend viele Einsendungen zusammen, an die 800. Die Anthologie enthält neben den Siegertexten ausgewählte Proben aus den Einsendungen. Insgesamt wurden 339 Kabinettstückchen zusammengestellt. Ausgewählt wurden sie nach dem Kriterium der Gefälligkeit. So ist diese Anthologie nicht als eine Parade der großen Namen gedacht, sondern ein Stelldichein gelungener Texte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Nov. 2018
ISBN9783746992471
4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018
Autor

Christoph-Maria Liegener

Christoph-Maria Liegener. Geboren 1954 in Berlin. Lebt heute in Bubenreuth bei Erlangen. Physiker. Viele Jahre Wissenschaftler an verschiedenen Universitäten, promoviert, habilitiert. Zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften. Familie, zwei Söhne. Inzwischen lyrische, philosophische und humoristische Texte.

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    Buchvorschau

    4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener

    Vorwort

    Die Begeisterung fürs Schreiben ist ungebrochen. Auch in diesem wie in den vorigen Jahren bin ich überrascht von der Vielzahl der Einsendungen. Es gibt offenbar viele Autoren, die diese lockere Form der Veröffentlichung mögen.

    Die Beurteilung erfolgt vor allem nach dem Kriterium des Gefallens. Lange wurde gepredigt, dass Literatur eine Aufgabe habe, etwas bewegen müsse. In der Moderne kam der Zwang zum Unorthodoxen hinzu. All das spielt hier keine Rolle. Meine ganz persönliche Einstellung beim Genießen von Literatur ist die, dass die Ästhetik vor der Originalität kommt. Es ist wie bei einem Wein. Auch der Rotwein vom Discounter kann gut schmecken – der Geschmack entscheidet, nicht das Etikett.

    So ist diese Anthologie nicht als eine Parade der großen Namen gedacht, sondern ein Stelldichein gelungener Texte. Wie schön, dass dennoch auch namhafte Schriftsteller diese Sammlung bereichert haben, als Gleichgesinnte und, ohne Ansprüche zu stellen.

    Wie im letzten so bleibt auch in diesem Jahr die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Mit Korrekturen wurde sparsam umgegangen. Der ursprüngliche Eindruck sollte erhalten bleiben.

    Wieder wurde mit den Siegertexten begonnen. Die weiteren ausgewählten Texte erscheinen in der Reihenfolge ihres Einganges. Auch diesmal konnten nicht alle eingereichten Texte aufgenommen werden. Mit einer Ablehnung ist jedoch keine Wertung verbunden. Verschiedenste Kriterien spielten eine Rolle.

    Leider ist es bei der Vielzahl der Einsendungen wie immer nicht möglich, jedem, der es nicht in die Anthologie geschafft hat, eine entsprechende Begründung zu geben. Auf der Webseite des Wettbewerbs werden dazu Hinweise gegeben. Von ca. 800 Einsendungen konnten nur 339 Eingang in die Anthologie finden. Es kann jedoch gesagt werden, dass alle, auch die nichtveröffentlichten, Beiträge etwas Eigenes hatten, keiner achtlos verworfen wurde.

    Ausdrücklich war die Möglichkeit eingeräumt worden, mehrere Texte einzureichen, solange die Gesamtlänge unter dem Limit blieb. Mehrere Autoren nutzten diese Möglichkeit, die die Auswahlmöglichkeiten erhöhte. Dennoch wurde nur maximal ein Text pro Autor in die Anthologie aufgenommen, auch wenn die anderen noch so gut waren. Durch die Einhaltung dieses Prinzips konnte einer größeren Zahl von Autoren Zugang zur Anthologie gewährt werden.

    Meiner Familie und der Gemeinde Bubenreuth möchte ich für die Unterstützung danken. Auch den vielen Einsendern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ihre Teilnahme machte diese Anthologie erst möglich.

    Dr. Dr. Christoph-Maria Liegener

    Die Siegertexte

    Erster Platz: Wolfgang Rinn

    Abschied

    Mich dünkt, als ob ein fernes Meeresrauschen

    dir Kunde gibt von jener andern Welt,

    die nah dir ist, und bald wirst du vertauschen

    das Lebenskleid, wenn nun der Schleier fällt.

    Und Blicke werden uns zu stummen Zeichen,

    so groß und weit und über uns hinaus,

    vergebens suchen Hände zu erreichen,

    was nun verlassen will das Erdenhaus.

    Sehr leise ist der Abschied vorbestimmt,

    behutsam lenkt ein Wesen deine Schritte,

    der Weg, er führt hinaus aus unsrer Mitte,

    indem er deine Spuren mit sich nimmt.

    Ein stilles Leuchten rückt an dieser Stelle

    dein Bild in uns in ungeahnte Helle.

    Kommentar: Der Abschied eines Menschen von dieser Welt, empfunden von den Zurückbleibenden. Treffend und tröstlich. Passend auch die Form des Sonetts: In den Quartetten die Ankündigung des Ereignisses, nach der Zäsur in den Terzetten das Ereignis in seinem Vorgang und seiner Wirkung.

    Zweiter Platz: Thomas Rackwitz

    weil du mich müde machst geh ich dir nah

    bist nacht mir überm meer bist stimme allem kalten

    du gleichst der tiefsten luft die ich je sah

    ich brandete an händen die mich halten

    wie lieb ich dich da du dich mir entziehst

    sobald in deinen armen ich erwache

    glaub ich zu sehn was du vor mir verschließt

    ergründe zügig ich der zungen sprache

    an deinem hafen unweit fremder zwänge

    verstecke ich die zeit um hier zu bleiben

    und fühle nur die ferne die mich führt

    im mund die früchte früherer gesänge

    vergessen wir das licht und lassen leicht uns treiben

    auf dass ein traum den anderen berührt

    Kommentar: Ein Sonett in ungewohnter Form. Tiefgründige Beobachtungen zur Liebe.

    Dritter Platz: Walther (Werner Theis)

    Das Mädchen

    Du liegst auf einer Wiese, meine Schöne,

    Und übst mit mir ganz lustvoll Spiegelfechten.

    Ich will aus Gänseblümchen Kränze flechten:

    Das ist ein Spaß, an den ich mich gewöhne.

    Wir jagen Schmetterlinge, folgen Spechten,

    Bis ich mich atemlos an Bäume lehne

    Und mich nach deiner warmen Nähe sehne.

    Du suchst nach Schlüsselblumen, nur den echten,

    Die bloß an diesem Hang gefunden werden.

    Ich eile mit dir, folge deiner Suche

    Und muss mir meine losen Bänder binden.

    Ich bücke mich trotz meiner Kreuzbeschwerden,

    Die ich zum vielzuvielten Mal verfluche,

    Und kann das Mädchen nachher nicht mehr finden.

    Kommentar: Ein Sonett von Walther, der ein Meister dieses Faches ist. Diesmal ganz fröhlich – bis zum überraschenden Schluss. Der Autor spendet seinen Preis wieder dem Projekt zugetextet.com.

    Vierter Platz: Barbara Gase

    Zerrissenes Buch

    Die Kindertasse schepperte über den Terrazzoboden. Die verschüttete Milch roch schwach säuerlich und nach Unheil. Ein kleines Mädchen presste ihre Hand auf den Mund.

    „Das war aber laut!", rief sie.

    Zaghaft lächelnd tänzelte sie von einem Bein auf das andere und zupfte sich am Pferdeschwanz.

    Ein schmaler Sonnenstrahl wanderte über die Wand und erweckte Staubpartikel zum Leben.

    Der Vater saß am Küchentisch und blätterte in der Zeitung. Er runzelte die Stirn, die trotzdem steinern wirkte. Seine Augen waren blau. Gletscherblau.

    „Ich mach es ja weg, bemerkte sie, „später! Aber jetzt lese ich weiter, es ist so spannend.

    Sie schob trotzig die Unterlippe vor und ging zum Tisch, um das Buch zu holen.

    Der Vater stand langsam auf. Er war nicht groß, aber breitschultrig und hatte ein Grinsen im Gesicht, das keines war. Er griff nach dem abgelesenen Schmöker und hielt ihn über den Kopf.

    Die Küche vibrierte. Ein LKW fuhr in der engen Straße am Mietshaus vorbei. Gläser zitterten und klirrten leise im Schrank. Sonst war es still.

    „Gib mir mein Buch zurück!", schrie das Kind, stieß mit dem Fuß gegen das Schienbein des Vaters und sprang an ihm hoch. Dessen Augen waren in die Ferne gerichtet. Sein breiter Mund zuckte.

    Er stand regungslos da und hielt die Lektüre fest in den Händen. Er sprach dabei nicht.

    Seine behaarten großen Hände fanden Worte. Lautstarke Worte. Er riss das Buch in der Mitte durch, aus einem Impuls heraus. Und noch einmal, einzelne Seiten. Und noch einmal. Das Geräusch zerschnitt den Raum. Es hätte die Haut aufritzen können.

    Der Vater ließ sich Zeit.

    Sie jammerte und brüllte. Einzelne Tränen flossen an ihren Wangen hinab. Sie stampfte mit den Füssen auf.

    Er legte das verletzte Geschriebene und Geliebte auf den Tisch und verließ die Küche.

    Das Kind streichelte über den zerstörten Einband und sammelte die Seiten ein. Das Mädchen weinte nicht mehr. Sie starrte vor sich hin und zog sich zurück in eine innere Kammer, ging zu einem unsichtbaren Ort, zu dem keiner Zutritt haben würde.

    Tage später saß der Vater abends am Tisch und klebte die Seiten zusammen. Der Buchrücken wurde notdürftig mit Pappe verstärkt.

    Schweigen dehnte sich in der Wohnung aus wie Bauschaum. Es dauerte sechs Wochen. Beharrlich blieb er stumm, tagein, tagaus.

    Unbeholfen plapperte das Mädchen drauflos. Morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen. Meistens verkroch sie sich in ihre Spielecke. Das Buch versteckte sie unter dem Bett.

    Nach den vielen Tagen mit finsterer Miene und einem strengen Tagesrhythmus, fing er plötzlich wieder zu sprechen an:

    „Gibt es heute keinen Kaffee? Es ist doch schon halb vier!"

    Er schaute seine Tochter dabei an und nicht seine Frau.

    „Doch, doch, Mutti hat Kuchen gebacken", antwortete sie erleichtert.

    Er schaute auf die Uhr. „Dann lass uns den Tisch decken", sagte er, betont leicht.

    Sie holte die Tischsets aus dem Schrank, die statt einer Decke das empfindliche Holz schützen sollten. Dann die zwei Becher mit dem Aufdruck ‚Sie‘ und ‚Er‘ und ein Glas für ihren Kakao.

    Er trank seinen Kaffee mit Dosenmilch, immer zwei Becher. Danach ging er ins Badezimmer und wusch sich ausgiebig die rissigen roten Hände. Er strich sich über die längliche raue Narbe am Kopf.

    *

    Der Vater saß im Lehnstuhl und rieb die Altersflecken seiner Hand. Einzelne Finger waren gekrümmt. Seine Tochter reichte ihm die Tasse mit Milch. Er zitterte. Sie saßen lange schweigend nebeneinander. Vor dem Fenster war es dunkel geworden.

    Die Frau sah auf die Staubflocken unter dem Tisch, die sich sanft hin und her bewegten. Sie sagte:

    „Nachher werde ich staubsaugen, da liegt schon wieder etwas. Wo kommt es bloß her?"

    Der Vater nickte und fragte:

    „Liest du mir wieder vor?"

    Sie nahm das alte Exemplar ‚Ronja Räubertochter‘ aus der Tasche.

    „Warum ist das Buch so ramponiert?", erkundigte er sich.

    Die Frau zögerte.

    „Weißt du es nicht mehr?"

    „Nein, was soll ich wissen?"

    Sie stand auf und scharrte mit den Füßen. Sie lief unschlüssig zum Fenster und schaute hinaus. Ein Kind lief über den Gehsteig, es trug ein grünes Kleid und zog einen Hund hinter sich her. Ein Mann ging mit großen Schritten neben ihr, gestikulierte beim Sprechen und lachte so laut, dass es bis in die Wohnung schallte.

    Die Tochter setzte sich, ganz vorne auf den Rand des Stuhls und zog den Pullover über die dünnen Narben an den Armen. Sie sagte leise:

    „Du weißt doch, ich war ein wildes Kind. Ich hab es zerrissen."

    „Du warst so wild wie eine richtige Räubertochter, aber ich hab alles wieder heil gemacht." Der Vater lächelte und schaute sie an. Sein Blick war trüb.

    „Ja, Vater, das hast du", sagte sie und tätschelte seine Schulter.

    Er schloss die Augen.

    „Fang an zu lesen, es ist so spannend."

    Kommentar: Das ist Liebe.

    Fünfter Platz: Armgard Dohmel

    Der große Tag

    Schon beim Aufwachen durchzuckte sie wie ein Blitz der Gedanke: Heute ist ein besonderer Tag! Doch sie musste erst überlegen, warum das so war. Es fiel ihr in letzter Zeit immer schwerer, sich richtig zu konzentrieren und beim Nachdenken nicht in diese vage Zeitlosigkeit abzudriften, die wie zäher Nebel alle Konturen verschwimmen ließ.

    Ach ja, nun wusste sie es wieder: Heute war Sonntag und sie hatte sich vorgenommen, das neu eröffnete Café im Erdgeschoss des Pflegeheims zu besuchen – und sich dort ein richtig schönes Stück Sahnetorte zu leisten! Auf dieses „Abenteuer" musste sie sich gut vorbereiten: Chic anziehen wollte sie sich dafür und ihre Handtasche mit etwas Geld im Portemonnaie mitnehmen.

    Es würde anstrengend werden, sich mit dem Rollator den langen Flur im ersten Stock entlang bis zum Aufzug zu schleppen, einzusteigen, ins Erdgeschoss zu fahren, wieder auszusteigen und sich dort unten zu orientieren. Sie musste gut aufpassen, um nicht zu stolpern oder in die falsche Richtung zu gehen.

    Das war ihr sogar in ihrem Stockwerk schon einmal passiert: Ganz in Gedanken hatte sie das Wägelchen nicht zum nahen Speisesaal, sondern in die Gegenrichtung geschoben. Plötzlich war ihr alles fremd gewesen; sie hatte nicht mehr gewusst, wo sie war, und Angst bekommen. Zum Glück war gerade eine der Pflegerinnen in der Nähe und hatte sie zurückbegleitet. Danach hatte sie sich wegen ihrer Hilflosigkeit und Panik geschämt.

    All diese Dinge gingen in ihrem Kopf durcheinander und türmten sich zu einem riesigen Berg, so dass sie fast der Mut verließ. Sollte sie es überhaupt wagen? Aber ihr Leben war so festgelegt und überschaubar – und langweilig. Ein Tag war wie der andere: Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Die Zeit dazwischen verbrachte sie meistens auf ihrem bequemen Bett in ihrer Lieblingshaltung: halb sitzend, halb liegend. Manchmal versuchte sie zu lesen. Das ging natürlich nicht ohne ihre Brille – doch die lag nie dort, wo sie liegen sollte. Und lange konnte sie sich sowieso nicht konzentrieren. Sie ertappte sich oft dabei, dass sie kurz eingeschlafen war und beim Aufwachen nicht mehr wusste, was sie gelesen hatte.

    So machte sie sich auch heute wieder an die anstrengenden Tätigkeiten, die mit dem Tagesbeginn einhergingen: sich waschen, kämmen, anziehen, zum Frühstücksraum gehen. Das alles dauerte immer länger und wurde immer mühsamer. Aber sie wollte sich so wenig wie möglich helfen lassen und allein zurechtkommen – dieses bisschen Selbstständigkeit war ihr wichtig und sie war stolz darauf. Sie fürchtete sich davor, so verwirrt und hilflos zu werden wie die Frau im Zimmer gegenüber: Die lag nur noch im Bett, schrie und jammerte den ganzen Tag vor sich hin und wusste offenbar nicht mehr, wer und wo sie war. Dann lieber sterben … Aber man hatte ja keine Wahl, musste Leben und Tod passiv hinnehmen.

    Nach dem Frühstück brauchte sie wieder eine Ruhepause. Oft gingen ihre Gedanken jetzt zurück in die Vergangenheit und sie döste in zeitlosem Halbschlaf vor sich hin. Rief man sie dann zum Mittagessen, hatte sie manchmal das Gefühl, von ganz weit her zu kommen, und musste erst überlegen, wo sie war und was man von ihr wollte. Nach dem Mittagessen schaltete sie den Fernseher ein – doch immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie einnickte. Egal, wie „spannend" die Sendung war.

    Heute achtete sie darauf, nach dem Mittagessen nicht einzuschlafen, denn heute hatte sie ein Ziel: das Café im Erdgeschoss – und die Sahnetorte! Zur Eröffnung waren Einladungen verteilt worden. Sie hatte den Brief aufgehoben und sich vorgenommen, einmal ganz allein „auszugehen". Und heute war dieser große Tag!

    Sie schlurfte zum Kleiderschrank: Ganz hinten hatte sie die Handtasche mit ein wenig Bargeld versteckt – man wusste ja nie … Und eine saubere Bluse musste sie auch anziehen, weil ihr vorhin etwas Suppe daneben gegangen war. Die alten Schuhe? Sie hatte keine besseren. Ach ja, die Kette mit der Uhr, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, fehlte noch. Zum Schluss fuhr sie sich mit dem Kamm durch ihre schütteren weißen Haare. Dann öffnete sie die Tür und steuerte ihren Gehwagen hinaus in den Flur. Halt – vorher noch auf die Toilette! Beinahe hätte sie es vergessen. Einmal, auf dem Rückweg vom Speisesaal … Wie peinlich ihr das gewesen war! Sie mochte gar nicht daran denken. Wenn so etwas öfter passierte, bekam man Windeln – und verlor wieder ein Stück vom kläglichen Rest seiner Würde. So, nun kann das Abenteuer beginnen! Mühsam schleppt sie sich mit ihrem Rollator den langen Flur entlang bis zum Treppenhaus, neben dem sie den Aufzug weiß. Wenn ihre Beine nur nicht so schwach wären! Immer fürchtet sie, dass sie ihr plötzlich den Dienst versagen könnten. Nach unten will sie – also drückt sie den Knopf, auf dem „EG steht, und rollt hinein, als sich die Aufzugstür öffnet. Kurze Unsicherheit, als die Tür sich schließt und sie in dem „Käfig eingesperrt ist. Aber gleich steht sie im hellen Flur des Erdgeschosses – und sieht vor sich im Eingangsbereich schon das Café, es ist nicht zu verfehlen!

    In dem Hochgefühl, ihr Ziel erreicht zu haben, schiebt sie ihr Wägelchen stolz durch die sich automatisch öffnende Tür. Sie steuert den nächsten freien Tisch an, schiebt den Rollator auf die Seite und sinkt erschöpft in einen erstaunlich bequemen Sessel. Am Nebentisch sieht sie einen gebrechlichen alten Mann im Rollstuhl und neben ihm eine jüngere Frau – wohl seine Tochter. Auch an anderen Tischen sitzen alte und junge Menschen beisammen: Manche Besucher führen nun ihre Angehörigen ins neue Café aus. Sie bekommt keinen Besuch und muss sich selbst helfen, denn sie hat keine Angehörigen mehr. Nur manchmal schaut ihre Betreuerin kurz vorbei, die sich von Amts wegen um die Regelung der finanziellen Dinge kümmert.

    Als die Bedienung nach ihren Wünschen fragt, bestellt sie eine Tasse Kaffee und ein Stück Sahnetorte. Während sie darauf wartet, schweifen ihre Gedanken zurück in ihre Jugend. Sie sieht sich im Geiste mit ihren Freundinnen, wie sie an einem ihrer Geburtstage in fröhlicher Runde im Café sitzen und genüsslich Sahnetorte verzehren. – Dieses Bild kehrt immer wieder, wenn sie von früher träumt.

    Und jetzt steht tatsächlich ein großes Stück Sahnetorte vor ihr! Sie fühlt sich wieder wie das junge Mädchen von damals – die vielen Jahre dazwischen haben sich in Luft aufgelöst – und taucht voll Vorfreude den Löffel in den Sahneberg auf ihrem Teller. Sie ist zeitlos und wunschlos glücklich.

    Kommentar: Für viele eine völlig neue Welt.

    Weitere ausgewählte Werke

    Reinhold Kusche

    Peterle´s Abenteuer - Im Grundbuchamt

    Eine satirische Kurzgeschichte

    „Es ist schon ein Kreuz mit dem Alter", brummte Peter Petersen, während er einen sehnsuchtsvollen Blick durch das Terrassenfenster in seinen verwilderten Garten schickte.

    „Wenn erst mal die Goldene Hochzeit droht, ist nichts mehr, wie es war."

    Dabei war es nicht nur der Garten, den er nicht mehr bewirtschaften konnte. Auch für seine ausgedehnten Spaziergänge, die zunehmend kürzer wurden, musste er einen ständigen Begleiter in Kauf nehmen. Es half nichts, dieses Utensil als Wanderstock zu deklarieren. Die schmerzliche Wahrheit war, dass der Handstock fortan zu ihm gehörte, wie der Knochen zum Hund. Zu allem Unglück versuchte sein Zahnarzt verzweifelt, seine neuen Kukident-Beißerchen – bisher vergeblich – zu einem halbwegs praktikablen Mahlwerkzeug zu formen.

    Seine Olga, eine gebürtige Schwäbin, die ihn liebevoll Peterle nannte, überzeugte ihn schließlich davon, ihr Heim gegen einen gemütlichen Platz im Seniorenstift zu tauschen. Ein kompetenter Makler war schnell gefunden, der dem Ehepaar Hoffnung auf ein schnelles Ergebnis machte. Dieser nahm die vorliegenden Unterlagen an sich und wies darauf hin, dass ein aktueller Grundbuchauszug erforderlich sei.

    Gesagt, getan. Am nächsten Morgen nahm Peterle seinen ständigen Begleiter aus dem Schirmständer, setzte seine neue Prinz-Heinrich-Mütze auf, die Olga ihm zu Weihnachten geschenkt hatte und machte sich auf den Weg zur Busstation. Ein Fahrzeug der Verkehrsbetriebe brachte ihn fast vor die Tür des Amtsgerichtes der norddeutschen Kleinstadt. Dort wies ihm ein freundlicher Justizbeamter den Weg zum Grundbuchamt. Kurz darauf klopfte er an der schweren Tür der Behörde, erhielt aber keine Antwort. Auch der zweite Versuch scheiterte. Beim dritten Klopfen vernahm er ein gähnendes Geräusch aus dem Büro und wertete dies als Aufforderung zum Eintreten, was er dann auch tat. Zielsicher steuerte er einen überdimensionalen Schreibtisch an, hinter dem sich ein Mann um die vierzig verschanzt hatte und begrüßte ihn mit einem herzlichen Moin Moin. Der Angesprochene erwiderte den Gruß mit einem genervten Brummen, gähnte herzerfrischend und richtete seinen starren Blick auf den Computermonitor vor ihm. Peterle wartete geduldig, aber der Beamte zeigte kein Interesse, ihn zu bedienen. Schließlich machte Peterle durch ein dezentes Räuspern erneut auf sich aufmerksam, aber der strenge Blick seines Gegenübers ließ ihn augenblicklich verstummen. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm der Mitarbeiter Blickkontakt mit ihm auf und deutete stumm auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Höflich trug Peterle sein Anliegen vor. Mürrisch verlangte der Beamte seinen Ausweis und unterzog diesen einer eingehenden Prüfung, die nach Peterle´s Armbanduhr volle 6 Minuten in Anspruch nahm. Danach schaltete er umständlich seinen Computer ein und machte darauf aufmerksam, dass dieser Vorgang einige Zeit dauern würde, bis das System hochfährt.

    Peterle fragte sich, worauf der Beamte gestarrt haben mag, wenn bei seinem Eintritt der Computer ganz offensichtlich ausgeschaltet war.

    Nach insgesamt 16 Minuten spuckte der Laserdrucker endlich fünf Blätter aus. Der Mitarbeiter überprüfte diese, forderte 10,--Euro und griff nach dem Tacker.

    „Oh, bitte nicht, protestierte Peterle. „Ich brauche eine Kopie davon. Könnten Sie vielleicht …

    „Ich bitte Sie, fuhr ihn der Beamte an. „Wo denken Sie hin. Dies ist ein amtliches Dokument.

    Peterle erklärte ihm die Situation: „Sehen Sie, meine Frau und ich wollen unser Haus verkaufen. Der Makler braucht einen Grundbuchauszug und ich möchte das Original gern behalten. Vielleicht haben Sie einen Kopierer?"

    Der Beamte lehnte dieses Ansinnen vehement ab, reichte den getackerten Grundbuchauszug über den Schreibtisch und bot mit strengem Blick an: „Ich könnte Ihnen das Dokument noch einmal ausdrucken, wenn´s denn sein muss. Dann sind allerdings weitere 10,-- Euro fällig."

    Enttäuscht gab Peterle auf, legte die geforderte Gebühr auf den Tisch, griff nach seinem Dokument und verließ stumm das Büro. Gedankenverloren setzte er sich im Flur auf eine Bank.

    Wenn nun bei einer Rationalisierungsmaßnahme diese Behörde geschlossen werden würde, so überlegte er, und dieser Mann müsste sich in der freien Wirtschaft eine Anstellung suchen, dann …

    Nein, er wollte diese Gedanken nicht an sich heranlassen. Aber es war zu spät. Die Illusionen hatten ihn bereits gepackt. Vor seinem geistigen Auge sah er den Beamten in einer Schlange vor der Suppenküche stehen.

    Und wenn er eine Familie mit Kindern hat? Dann würden diese auch … Allerdings trug er keinen Ring, erinnerte er sich. Wie auch immer. Vielleicht bin ich ungerecht. Schließlich sind die Mitarbeiter der Behörden Tag für Tag für uns alle im Einsatz. Und jeder Bürger ist verpflichtet, seinen Teil zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen. Beim nächsten Behördenbesuch, nahm er sich vor, werde ich geduldiger und noch höflicher auftreten und meine Mütze bereits vor Eintritt abnehmen.

    Er erhob sich von seiner Bank, klemmte sein mühsam erkämpftes Dokument unter den Arm und ging seines Wegs, ein fröhliches Liedchen auf den Lippen: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in den Copy-Shop."

    Laurin Schön

    Der Lenz

    Grimmige, entkräftete Gesichter,

    leuchten wieder auf,

    es taucht die Stadt ins Loh der Lichter,

    man ist wieder wohlauf.

    Die Sonne schimmert in blitzenden Tönen,

    stetig schwindet jeglicher Verdruss,

    sie vermag uns alljährlich zu krönen,

    mit ihren Strahlen, ein Hochgenuss!

    Mit der Laune kehrt ein das Schwärmen,

    nach kühlen, plätschernden Gewässern,

    mal ein Säuseln, mal ein Lärmen,

    aus glucksend gefüllten Fässern.

    Hört an, der Lenz lässt aufleben,

    was den Bürger so erquickt,

    er möcht´ die Blüten gar umweben,

    bevor der Vogel sie erpickt.

    Dieses Wandeln, es legt in jedem Gemüt sich nieder,

    der Mensche schweift, sehnt, sinnt,

    dem Lenze wird es nie zuwider,

    bis jäh ihm die Zeit entrinnt.

    Anton Zuber

    Das Kekspäckchen

    Allen war sie sympathisch. „Tante Gerti", wie wie wir sie nannten, lebte allein im einstöckigen Haus am Ende unserer Straße. Angehörige hatte die sympathische Dame nicht, außer ihrem Sohn. Der war vor fünf Jahren mit seiner Familie berufsbedingt nach Marseille gezogen.

    Am späten Vormittag klingelte Tante Gerti aufgeregt an unserer Haustüre. Als ich öffnete, wedelte sie mit einem Brief.

    'Mir ist ganz schlecht, stammelte sie, „nach Marseille soll ich fliegen. Das überlebe ich nicht."

    Ungeduldig zeigte die zierliche Frau mir den Brief. Es war die Einladung zur Taufe ihres Urenkels zusammen mit einem Flugticket.

    „So sehr ich mich auf meinen Urenkel freue, platze sie heraus, nachdem sie am Küchentisch Platz genommen hatte, „aber ich bin noch nie geflogen und ich will das auch nicht.

    Meine Argumente für einen Flug quittierte sie zunächst mit heftigem Kopfschütteln. Doch mein Einwand, sie würde vielleicht niemals ihren Urenkel zu Gesicht bekommen, machte sie nachdenklich. Als ich ihr dann auch noch vorschlug, sie zum Flughafen zu begleiten, war das Eis gebrochen.

    „Aber bitte nur bis zur Abflughalle. Ich komme alleine zurecht." Ich akzeptierte ihren Wunsch.

    Bis zum Tag des Abflugs war Tante Gerti richtig zappelig. Sie schlief kaum noch in den folgenden Nächten. Dann war der Abreisetag gekommen. Nachdem ich sie bis zum Abfluggebäude gebracht hatte, blieben ihr noch drei Stunden Zeit.

    Was danach geschah, bekam ich nicht mehr mit. Aber nach ihrer Rückkehr erzählte sie es mir detailgenau:

    Inmitten der großen Halle blieb Tante Gerti zunächst wie angewurzelt stehen. Nachdem sie ihren Koffer aufgegeben hatte spürte sie deutlich ihre schmerzenden Beine. Sie kaufte sich am Kiosk eine Tageszeitung und ein Päckchen Kekse. Danach suchte Tante Gerti eine ruhige Sitzecke. An einer bequemen Sitz-Tisch-Garnitur machte sie es sich gemütlich und schlug die Zeitung auf.

    Als Gerti sich gerade in den politischen Teil ihrer Zeitung vertiefte, näherte sich ein junger Mann und ließ sich lässig auf dem Sitz gegenüber nieder. Sie lugte über den Zeitungsrand und beobachtete den etwa Zwanzigjährigen. Dem Aussehen nach könnte es ein Ausländer sein, dachte sie, vielleicht sogar ein junger Asylbewerber. Diesen Typen traute sie ohnehin nicht. Lässig schlug er die Beine übereinander und starrte zu ihr hinüber. Sollte sie aufstehen und gehen? Doch sie wollte kein Aufsehen erregen, blieb sitzen und hielt ihre Zeitung schützend vor sich. Wachsam wie ein Schäferhund blickte sie immer wieder über den Zeitungsrand. Einmal reinigte er seine Fingernägel, dann kratzte er sich am Rücken. So ein ungebührliches Verhalten missbilligte Gerti. Aber sie schweig. Entschieden zog sie ihre Handtasche näher an sich und fixierte die Taschenbügel fest in ihrer Armbeuge.

    Kurz darauf raschelte es. Gerti horchte auf. Erschrocken schaute sie zu ihm hinüber. Sie konnte es kaum fassen: Der junge Mann krapschte tatsächlich nach dem Kekspäckchen, öffnete es vorsichtig, entnahm einen Keks und führte ihn genüsslich zum Mund. Befremdet, verärgert und mit einem deutlichen Räuspern reagierte Tante Gerti auf diese Unverschämtheit. Sie war fest entschlossen dagegen zu protestieren, aber sie brachte kein Wort über die Lippen.

    Gerti blieb wachsam und starrte immer wieder über den Zeitungsrand zu ihm hinüber. Er grinste stets freundlich zurück, so als sei nichts geschehen. Behende angelte sich der junge Mann gleich drei Kekse, führte sie auf einmal zum Mund und legte das Päckchen ordentlich zurück. Jetzt konnte Gerti nicht anders: Selbstbewusst griff auch sie nach dem Kekspäckchen und entnahm demonstrativ einen Keks. Doch kaum hatte sie ihn in Sicherheit gebracht, war schon wieder seine Hand am Päckchen: Jetzt nahm er sogar gleich vier Kekse und kaute genüsslich darauf. Entrüstet griff Gerti gleich darauf nochmals zum Päckchen und mit einer deutlichen Geste des Missfallens bediente sie sich. Seine Reaktion kam prompt: Er schnappte sich fünf Kekse und aß sie nacheinander hastig auf. Danach leerte er das Päckchen bis schließlich nur noch ein einziger Keks vorhanden war.

    Gerti wollte gerade etwas sagen, da blieb ihr die Stimme weg. Er schnappte den letzten Keks, teilte ihn vorsichtig und überreichte Gerti grinsend das größere Stück. Erbost schnappte sie nach der Hälfte und quittierte die Geste mit einem sauren Blick.

    Hastig stand der junge Mann plötzlich auf, ohne ein Wort zu sagen und eilte davon.

    Gerti fand dieses Verhalten allerhand. Dieser freche Kerl hatte fast ihre ganzen Kekse verspeist und tat so, als ob dies geradezu selbstverständlich wäre. Sie war zurecht wütend.

    Aus dem Lautsprecher tönte die Stimme der Ansagerin: „Die Passagiere nach Marseille werden gebeten sich zum Ausgang 20 zu begeben." Gerti kramte in ihrer Handtasche nach der Bordkarte. Plötzlich stockte ihr fast der Atem. Ungläubig blickte sie sekundenlang in die Tasche und konnte es kaum glauben. Da drinnen lag es, völlig unversehrt, ihr Kekspäckchen.

    Kommentar: Sympathische Geschichte mit netter Pointe. Leider ist der erhobene Zeigefinger zu erkennen, aber glücklicherweise bleibt er unaufdringlich.

    Marlene Ronstedt

    Pinsel

    Ob in der Schule oder später in der Kunst-Akademie - ich beneidete stets meine Kursteilnehmer um ihre Pinsel. Das Problem war, dass jedesmal, wenn ich mir einen neuen Pinsel kaufte, dieser nach kurzer Zeit genauso kaputt und abgenutzt wie mein restliches Malzubehör aussah.

    Das erste Mal, als ich mein Glück mit neuen Pinseln versuchte, war zu Beginn meines Leistungskurses Kunst. Hier hatte ich angefangen, den Pinsel-Neid zu spüren. Was ich nicht wusste: die Öl-Farbe, mit der wir arbeiten würden, sollte meinen neuen Pinseln ein frühes Ende bereiten. Ich wusste nicht, wie man die Farbe entfernt und war gezwungen, das Öl in den neuen Pinseln trocknen zu lassen. Letztendlich blieb mir nichts anderes übrig, als die kaputten Spitzen abzuschneiden. Mit den borstigen Stummeln bekam man aber nicht so zarte Linien hin wie meine Mitschüler.

    Ich würde gerne fotorealistisch malen. Aber das geht nur mit den richtigen Pinseln. Doch der Widerwillen meiner Borstenpinsel schließt einige Stile kategorisch aus. Mittlerweile leiste ich mir auch nur noch Ein-Euro-Pinsel aus dem Baumarkt, wenn mir der Sinn danach steht, meine Kollektion zu erweitern. Doch diese sind eben aus Plastik und nicht aus wallenden Pferdemähnen. Deswegen fühlen sie sich eher an wie der Bart eines Ziegenbocks. Und damit kann man nur grobe Ergebnisse erzielen.

    Später in der Kunst-Akademie belauschte ich einmal zwei Studentinnen aus einem anderen Kurs. Es war nach dem Unterricht und sie standen gemeinsam am Waschbecken. Unter das kalte Wasser hielten sie ihre teuren Pferdehaar-Pinsel, welche aussahen, als hätten sie noch nie damit ein Bild gemalt. In ihrer Konversation ging es darum, wie sie ihre Pinsel am besten reinhalten würden. Vielleicht könnte das meine künstlerische Krise lösen. Ich hörte also gespannt zu.

    Der Trick ist es, Terpentin als Lösungsmittel hinzuzugeben. Damit geht die Farbe wieder raus. Im Keller meiner Eltern hatte ich die besagte Substanz gefunden. Bei der nächsten obligatorischen Pinsel-Reinigung schüttete ich die übel riechende Substanz in ein blau bemaltes Schälchen. Bevor ich auch nur dazu kommen konnte, die Pinsel darin zu baden, begann sich die Glasur des Schälchens aufzulösen. Die klare Flüssigkeit hatte sich in eine blaugraue Brühe verwandelt. Die Farbe auf meinen Pinseln jedoch blieb haften.

    Ich muss zugeben, die Pinsel stören mich gar nicht so sehr. Es ist eher meine eigene Unzufriedenheit darüber, nicht die konservativen Kunst-Ideale in meinem Kopf zu erfüllen. Saubere Schattierungen. Ein perfekter Kreis. Da gehören gute Pinsel mit dazu.

    Ich habe irgendwann angefangen, absichtlich zu versuchen, unordentlich zu malen. Große Gesten. Dann ist es egal, ob ich einen ehemals feinen kaputten Pinsel aus dem Kunstfachhandel oder einen Spachtel benutze. Wenn ich schon verdammt bin, keinen geraden Strich hinzubekommen, dann will ich wenigstens meine Unfähigkeit perfektionieren.

    Karr & Wehner (= Reinhard Jahn und Walter Wehner)

    Das Gebet

    Der Dom stand da, fast schwarz im Gegenlicht, wie er seit Jahrhunderten den Platz überragte. Die Sonne stand tief hinter der Kuppel. Es war vorbei. Sie hatten die Zeremonie wegen des erwarteten Andrangs auf den Platz verlegt. Es war keiner dieser üblichen Mittwochvormittage, keine dieser gewöhnlichen Generalaudienzen gewesen. 20.000 Plätze waren einfach zu wenig. Erwartet wurden mindestens 200.000. Für den Heiligen Stuhl war das kein Problem, zur Ostermesse kam gut die doppelte Anzahl von Gläubigen. Alles Routine, die Rettungssanitäter. Es hieß, es stünden stets ein paar Priester für die letzte Ölung und Sterbesakramente bereit. Natürlich außerhalb der Hör- und Sichtweite der Kameras von CTV, Radio Vatikan, Bibel-TV, Hope Channel.

    -Und was haben Sie getan?

    -Gebetet.

    -Da war also diese Bedrohungslage… Seine Heiligkeit hatte gerade den Dom verlassen und war auf den Weg zur Bühne, also dem Altar…

    -Dreißig Sekunden. Das war die Zeit, die dafür vorgegeben war. Eine halbe Minute. Auf dem Weg durch die Gasse, die Menschenmenge. Das war die Lage, als.

    -…es die Drohung gab.

    Natürlich waren stets Sicherheitsdienste da. Sichtbare wie die Schweizer Garde und die Gendarmeria Vaticana. Aber auch deren Sondereinheiten. Seit dem Attentat von Mehmet Ali Ağcaim Mai 1981 gab es diese versteckten Maßnahmen. Die Ermordung des Kommandanten der päpstlichen Schweizergarde Alois Estermann und seiner Ehefrau im Mai 1998 hatte viele misstrauisch gemacht. Niemand glaubte ernsthaft, dass ein junger Gardist in einem Anfall von Wahnsinn seinen Vorgesetzten und dessen Frau umgebracht und danach seinem eigenen Leben mit einem Schuss in den Mund ein Ende bereitet hätte..

    -Es gab also die Drohung…

    -Nein, die Gewissheit. Das war etwas ganz anderes. Die Drohung war der Übertragungswagen des Fernsehens, draußen, der in Flammen aufgegangen war. Genau wie es der Anrufer angekündigt hatte. Die Drohung hat uns Gewissheit gegeben, dass er es ernst meinte. Dass auf der Trittstufe zur Bühne, dass dort ein Kontakt scharf geschaltet ist, der eine Sprengvorrichtung auslöst. Sobald er belastet wird. Also sobald seine Heiligkeit die Stufen zur Bühne hinaufgehen würde.

    Es gab ständig Gerüchte, Drohungen im Netz, Verschwörungstheorien. Die Templer, die Satanisten, Dschihadisten, Tschekisten, Raelianer, Darth Vader, Sauron, Gargamel, die Untergangsverkünder von Deck 1 und aus den eigenen Reihen – die Welt wimmelte von zu allem bereiten Psychopaten, und von nicht wenigen zu allem Fähigen. Manche waren käuflich, also berechenbar, eine Frage des Preises. Andere hörten Stimmen, waren auserkoren, auf einem endlosen Trip von Bethlehem bis Aum. Gegen die halfen nur Bazuka und Remington. Und Kontakte, belastbare Kontakte.

    -Und sie…

    -…nein, lassen Sie mich ausreden! Wir waren sicher. Und es gab keine Möglichkeit, zu reagieren. Es abzuwenden. Die Kommunikation zu den Bodyguards seiner Heiligkeit… ausgefallen, vermutlich sabotiert. Es gab nur uns - mich und den Nuntius, dort oben in der Loge. Der war keine Hilfe. Wir hatten nur Funkkontakt zur Sicherheitszentrale.

    -Und die Bombe…

    -sollte eine enorme Sprengkraft haben. Das hat der Attentäter erklärt. Bei der Zahl der Messebesucher war von mehr als 500 Toten auszugehen. Viel mehr. Und einer unbekannten Zahl von Schwerverletzten. Es gab nur eine Möglichkeit, das zu verhindern.

    Ultima ratio. Für manche Dinge gab es keine Dienstanweisung. Keine philosophischen, theologischen Entscheidungshilfen. Das war der Job. Griechische Götter und ihre Sagenschreiber kannten auch nur ausweglose Situationen. Eli, Eli, lama absathani. Die Kuppel des Doms ragte über alle Gebäude hinweg in den Himmel. Auf dem Platz standen Gläubige und Touristen wie gewohnt Kopf an Kopf, betend, singend, den Rosenkranz durch die Fingen gleiten lassend. Auf den vier Videoleinwänden sahen sie sich selbst in Großaufnahme, die angereisten Nonnen, die Pilger, die Rollstuhlfahrergruppen, die Bildungstouristen. Die Tauben hatten sich zurückgezogen, kreisten über dem Dom. Urbi et orbi.

    -Indem Sie…

    -Verstehen Sie, Seine Heiligkeit würde auf seinem Weg zur Bühne unweigerlich den Trittkontakt auslösen. Es gab keine Möglichkeit, ihn in der kurzen Zeit aufzuhalten.

    -Es sei denn…

    -Ich bin Präzisions-Schütze, Seine Heiligkeit war nur 70 Meter entfernt.

    Die Piazza S. Pietro war leer. Nur die Tauben waren zurückgekehrt. Gurrten, flatterten um die Kolonnaden, trippelten über das Kopfsteinpflaster. Der Obelisk hatte seinen Schatten um eine Stunde vorgerückt. Die Brunnen rauschten. Von der Basilika schauten Jesus und die Heiligenstatuen regungslos über den Platz.

    -Ihre Optionen waren also…

    -…zu schießen. Seine Heiligkeit mit hinreichender Sicherheit auszuschalten, damit er den Kontakt nicht auslöste…

    -Oder…

    -…die Explosion zuzulassen, die Hunderte getötet hätte.

    -Und Sie haben… was getan? In dieser Situation?

    -Wie ich sagte…

    -Was?

    -Ich habe … gebetet.

    Günter Vollmer

    Abschiedsbrief

    1

    Nennen wir zunächst ‚Abschiedsbrief‘, was ich Ihnen hiermit zukommen lasse. Fremd, wie Sie mir geworden sind, ziehe ich es vor, Sie zu siezen.

    Worum es geht? Um Sie, um Ihre Kinder, auch um mich. Und darum, wie unvereinbar unsere Schicksale sind und wie eng wir gleichzeitig darin verklammert sind. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie werden sterben, das ist sicher, und das sehen Sie als Ihr Problem, ich nicht, wahrscheinlich nie, das ist mein Problem.

    Es ist ein früher Abschiedsbrief, absurd früh, vor allem nach Ihren Maßstäben. Ich selbst habe gerade erst meinen Zenit hinter mir, komme ein wenig zur Ruhe. ‚Abschiedsbrief’ trifft also nicht, was es in Wirklichkeit ist, ich erwähnte es schon, nennen wir ihn besser Abwendebrief, ich werde mich von Ihnen abwenden, will es nicht länger mit ansehen.

    Damit Sie mich verstehen, komme ich zunächst zu Ihnen. Auch Sie haben Ihren Zenit erreicht, die Evolution geht ihrer unseligen Erfüllung entgegen, vor Ihnen liegt…was? Eine schier endlose Zukunft? So möchten Sie es sehen. Unsere Skalen könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie wissen nicht, wollen nicht wissen, wie moribund Sie sind, so gut wie schon verstorben - meine Skala.

    So werden Sie mich also nur noch kurz begleiten. Ihre Zeit wurde begrenzt, als Einzelwesen und als Art, darin sind Sie unschuldige Schöpfung. Gleich zu Beginn der mir verbleibenden Ewigkeit wird Ihr Fixstern aufkochen, er wird Ihre Meere eindampfen, Ihren ehemals schönen Planeten austrocknen und einschmelzen, ihn schließlich verschlingen - Sie wissen darum. Natürlich werden sie weit vorher in aller Verzweiflung zu fliehen versucht haben, in der Hoffnung, eine neue Heimat im All zu finden. Wie sinnlos! Wenn Ihr Planet in das Inferno der Sonne eintaucht, werden Ihre Pioniere mitsamt der Illusionen, unter denen sie aufgebrochen sind, längst im Ozean der Endlosigkeit verschollen sein. Keine Chance auf ein irgendwie geartetes Weiterleben, nicht in ihrer Heimat, noch irgendwo anders im mitleidlosen All. Nicht Ihre Schuld, das. Auch nicht die meine.

    So wäre es im günstigsten Fall. Der nicht eintreten wird. Damit komme ich zu dem Grund, weshalb ich Ihnen mein ‚Du‘ entziehe: egozentrisch, ignorant und aggressiv, wie Sie sind, gegen jeden und gegen alles. So werden Sie das bisschen Zeit, das Ihnen bleibt, leichtsinnig verspielen. In unzähligen Galaxien habe ich Milliarden von Zivilisationen aufkommen sehen. Unterschiedlich erfolgreich, was das Miteinander und was die Pflege ihrer Planeten betrifft. Sie gehören zu den Schlusslichtern.

    Warum ich dies sage? Lange bevor Ihre Sonne dem Leben die Existenzgrundlage entzieht, werden Sie Ihr eigenes Inferno entfacht haben. Sie haben den ‚Fortschritt‘ als heilige Monstranz vor sich hergetragen, das Besser, Größer, Mächtiger zu Ihrer Religion erhoben und die Kreationen, um nicht zu sagen ‚Kreaturen‘ ihrer Intelligenz, ins Unbeherrschbare sich entwickeln lassen. Diese Geschöpfe werden sich von Ihnen, ihren Erzeuger befreien, werden Sie bedrängen und schließlich vernichten. Mit Ihrer nicht enden wollenden Gier, gepaart mit lauem Humanismus der Einen, Dumpfheit der Anderen, Fanatismus der Dritten werden Sie den Abzweig verfehlen, haben ihn längst schon verpasst, so werden Sie vor der Zeit vergehen.

    2

    Kommen wir jetzt zu mir. Auch wenn ich alles umfasse, bin ich nicht Herr der Dinge. In mir liegt, was mich treibt, was mit mir entstanden ist und was zu ändern nicht in meiner Macht liegt. Da bin ich nun, der Bigbang ist ferne Geschichte, die großen Spektakel werden seltener, mein Schaffensrausch erlahmt, und ich werde zu erschreckender Ruhe kommen, erschreckend, weil darin der Keim einer Endzeit liegt, der ich gefasst entgegensehen muss.

    Sie sehnen sich nach Ewigkeit, nach einer Existenz ohne Ende und wissen nicht, auf was Sie sich einlassen würden, wenn ein Licht nach dem anderen ausgeht, der Raum nicht aufhört, sich ins ewige Dunkel zu blähen, Galaxien, Sterne und schließlich die Atome zu einem Nichts zerfallen, das sich in meine nicht enden wollende Langeweile ergießt. Wie gern würde ich mit Ihnen tauschen.

    Seien Sie froh, dass Ihnen Tod und Untergang beschieden sind.

    Gezeichnet

    Ihr Universum

    Barbara Blume

    Finissage am Sonntag

    Wartend auf meine Begleitung

    Ist die Kaffeebox geschlossen

    Dann gehe ich – einfach

    Ohne weitere Umstände abzuwarten.

    Die Räumlichkeiten füllen das Bekannte

    Mit neuen eindrücklichen Sichtweisen

    Manch eine ist schick

    Manch eine leger

    Manch eine sitzt

    Eine andere staunt

    Stühle fordern bereitwillig zum Sitzen auf

    Die Zukunft bringt eine Lesung zu einem Buch

    Das lockend auf dem runden Beistelltisch

    Liegt – kostendeckend

    Eine Frau – eine die bald lesen wird

    Ist auffällig präsent

    Ich sitze

    Beteiligt umherblickend und freue mich

    Über den schönen Frühlingsnovembertag

    Das Neue lässt sich ein –

    Auf mich

    Auf eben dieser Finissage

    War ein Rahmen!

    Tampons hingen von oben herab

    Mit der Aufschrift:

    Coca Cola!

    In Rot

    Das war

    Zuerst sehr beklemmend

    Dann immer gewöhnlicher wirkend

    Tampons sind Helfer

    Sie unterstreichen die weibliche Note

    Kommentar: Die Vita der Autorin zeugt von einem schweren Schicksal. Das Schreiben hilft ihr. Sie schreibt nicht für die Leser, sondern für sich selbst. Eine interessante Einstellung.

    Oliver Bruskolini

    Urschrei

    Es erwacht. Ich spüre es in mir, merke wie es sich hochkämpft. Seine Regung schnürt mir die Luft ab. Es fällt mir schwer, zu atmen. Langsam hebt sich meine Brust auf und ab. Eine schwerfällige Bewegung. Ich balle meine Fäuste, sodass Krampfadern an den Handgelenken hervortreten. Alle Versuche, meine Atmung zu kontrollieren, scheitern. Auf zittrigen Beinen stehe ich an der Haltestelle. Ich lehne mich zurück, merke das kühle Glas der Scheibe durch mein T-Shirt. Meine Augen sind geschlossen. Oder nicht? Ich weiß es nicht, denn im Moment sehe ich gar nichts. Am liebsten würde ich schreien. Ein lauter, tiefer Urschrei. Ein Schrei, wie ihn die Schotten in „Highlander" ausstoßen, um ihre Feinde in die Flucht zu schlagen.

    Dieser Feind wird nicht flüchten. Zumindest nicht so schnell. Gedanken schießen durch meinen Kopf. Dinge, die ich dem Fahrer nur zu gerne ins Gesicht brüllen würde, falls er endlich an dieser Haltestelle ankommt. Falls. Es sind über dreißig Grad und die Wut in mir verdoppelt diese Hitze. Es ist ein Wunder, dass ich noch nicht koche. Äußerlich. Innerlich koche ich über. Ich bin wie ein Schnellkochtopf, der völlig überhitzt darauf wartet, dass der Deckel gelöst wird, damit ich ihn einmal quer durch die Luft schleudern kann. Am liebsten gegen den Fahrer. Oder gegen irgendeinen anderen Bürohengst des Verkehrsunternehmens.

    Immer wieder überkommen mich solche Ausbrüche und ich bin ihnen widerstandslos ausgesetzt. Schon als Kind habe ich ähnlich heftig auf das Wort „Nein" reagiert. Ich hasse nichts mehr, als aufbrausende Menschen und ich selber bin ein Wüterich. Ein waschechter Choleriker. Schon Kleinigkeiten werfen mich aus der Bahn. Eines Morgens schüttete meine Freundin Milch in meinen Kaffee. Sie tat es aus Gewohnheit, weil sie ihren immer mit Milch trank. Ich hingegen bevorzuge ihn schwarz. Schwarz war auch die Stimmung an diesem Morgen. Etwas in mir verlangte danach, ihr die Tasse an den Kopf zu werfen. Aber ich konnte es unterdrücken.

    Stattdessen schüttete ich den Kaffee weg, machte mir einen Neuen und spuckte kommentarlos in ihre Tasse. Mein Ziel war erreicht, sie rastete vollkommen aus. Zurecht. Aber das war egal, endlich konnte ich mich streiten. Sie sprach danach eine geschlagene Woche kein einziges Wort mit mir. Das war die Höchststrafe, schließlich konnte man verbal besser wüten als nonverbal.

    Vor einigen Jahren bekam ich Hausverbot in der örtlichen Filiale einer amerikanischen Fast-Food-Kette. Der Kassierer hatte mir einen Burger zu wenig in die Tüte getan. Das bedurfte einer sofortigen Klärung. Ich drängelte mich durch die nahezu endlose Warteschlange und wies ihn unsanft auf seinen Fehler hin. Der Lump bezichtigte mich doch tatsächlich, einen Burger entnommen zu haben und unberechtigterweise zu reklamieren. Zu viel. Viel zu viel. Sein Nasenbein lernte die Kasse näher kennen und ich für meinen Teil die Türsteher. Ich hasse Schlägereien, aber in manchen Fällen sind sie unvermeidbar. In fast allen Fällen, um genau zu sein.

    Eigentlich bin ich in Therapie wegen diesen Ausbrüchen. Es war ein Zugeständnis an meine Mutter, meine einzige und ewige Hassliebe. Ich musste es versprechen, nachdem ich ihrer Bitte, die Wäsche zu machen, Folge leistete und den gesamten Wäscheberg mitsamt Wäschekorb an der gegenüberliegenden Autobahnbrücke entsorgte. Damals war ich minderjährig und Mama musste haften. Es war ein teurer Spaß, aber ein gelungener. Seither habe ich nie wieder Taschengeld bekommen, wurde aber auch nie wieder darum gebeten, die Wäsche zu verrichten.

    Die Therapie selbst läuft jetzt schon seit Jahren und ich habe Fortschritte gemacht. Bisher musste ich trotz einiger Anklagen noch nicht ins Gefängnis, was in meinen Augen ein kleiner Achtungserfolg ist. Schließlich bin ich bereits Mitte zwanzig. Skill-Training ist in meinem Fall das A und O der Hilfemaßnahmen. Ergänzend gab es Pillen, die sind aber abgesetzt. Bewusst ausgeschlichen, von heute auf morgen. Die Therapeutin ist nett und das hält mich davon ab, mir schlimme Dinge vorzustellen, die ich ihr antun könnte. Ich glaube, ich bin verliebt.

    Noch immer klebe ich an der Scheibe der Haltestelle. Eine Traube von Menschen hat sich um mich gebildet. Alle Augen sind auf mich gerichtet, starren mich besorgt an. Aus sämtlichen Richtungen werden dieselben Fragen gestellt. Ja, es geht mir gut. Nein, ich benötige keine Hilfe. Schließlich habe ich mein Skill-Training.

    Der Schweiß rinnt meinen Hals hinab, ich spüre das Kitzeln der einzelnen Tropfen. Ich lächle. Dann schreie ich. Ein lauter, tiefer Urschrei, auf den ganz Schottland stolz gewesen wäre. Vielleicht haben die Schotten ihn gehört. Ich lasse mich auf den Boden sinken und merke, wie meine Atmung sich langsam wieder normalisiert.

    Mona Ullrich

    Ein Zauberlied

    Er ist früh gestorben, sonst könnte ich jetzt mit ihm sprechen. Ich würde gerne seine Meinung hören zu einem Erlebnis, das ich ihm verdanke.

    Jimi Hendrix war mein Verbündeter, als ich meine ersten ernsthaften Gedichte schrieb. In den Schreibpausen setzte ich mich in meinen Korbstuhl und rauchte, und dabei hörte ich diese eigenartige, sehr starke Musik. Ich wollte mit meinen Gedichten etwas Neues und auch Starkes schaffen. Ich grub den Boden auf, den andere hinterlassen und festgetreten hatten und auf dem ich nicht stehenbleiben wollte. Ich ließ nichts Bestehendes übrig und baute aus den Überresten etwas Eigenes auf. So hatte es der schwarze Musiker auch gemacht.

    Bei dieser Vorgehensweise ist am Ende nicht mehr erkennbar, was alles verworfen oder zerstört worden ist, denn die Künstlerin oder der Künstler haben etwas Eigenes an seine Stelle gesetzt und können jetzt bescheiden auftreten. Jimi Hendrix war sehr bescheiden.

    Das Übernatürliche kam dann mit seiner Musik unauffällig, fast heimlich in mein Leben. Es war der Hintergrund einer sonderbaren Queste.

    Ich hatte festgestellt, dass in unserer Wohnung jemand umging, und anstatt davonzulaufen wollte ich helfen. Ich dachte, es müsse dem Geist langweilig werden in der Stille und Abgeschiedenheit, die ich zum Arbeiten brauchte. Und ich erkannte in diesem Geist jemanden, der in seinem Leben Böses getan und einen schlimmen Namen hinterlassen hatte.

    Was war da zu helfen? So überlegte ich bei dieser eindringlichen und erhebenden Musik, die nichts Herkömmliches und Langweiliges duldete.

    Ich konnte das verpfuschte Leben nicht reparieren, aber ich konnte dem Toten vielleicht helfen, auf der anderen Seite der Wirklichkeit Ruhe zu finden. Konnte er erlöst werden?

    Hätte ich mich das ohne Jimi Hendrix gefragt? In seinen Liedern gab es keinen Alltag, sondern Wunder. Voodoo war möglich in seiner Welt. Sie war voller anziehender Zauber.

    Ich hatte ein gutes Leben. Ich wohnte in einem schönen Haus in einer schönen Berliner Gegend und war selber jung und schön. Ich ging morgens mit meinem geliebten Mann in den Alleen unseres Viertels spazieren und setzte mich dann an meinen Schreibtisch. Meine Arbeit war mein Lebensinhalt, meine Freude und meine Gabe an die Welt. Ich hätte mit niemandem tauschen mögen.

    Aber der Tote konnte in dieser Umgebung nicht bleiben. Ihm blieb da nur meine Musik. Wo in Berlin konnte ich das Nötige für ihn tun?

    Ich lernte Zauberei, so wie ich auch beim Schreiben gelernt hatte, auf meine Eingebungen zu achten. Ich erfand hilfreiche Sprüche und eine eigene Sprache für den Umgang mit der Unterwelt. Ich passte auf mich selber auf, damit mir nichts Unheilvolles bei meiner Queste geschah. Ich wurde fromm und bat Gott um Beistand.

    Und all das ohne Bedenken. So viel Mut hatte ich und verdankte ich einer Musik, die alles zuließ und ermöglichte, nur das Mittelmäßige nicht.

    Ich dachte an eine Reise, an einen grünen und belebenden Ort. Ich entschied mich für Worms, eine sehr alte und nicht sehr große Stadt, in der ich aufgewachsen war. Dort kannte ich mich aus, dort wusste ich hoffentlich weiter.

    Kein Gott und kein Freund konnten mit diesem Plan einverstanden sein. Ich wollte mich also von meinem guten Leben verabschieden wegen einer Reise mit ungewisser Dauer, ungewissem Ende und einem unberechenbaren und unheimlichen Begleiter, der auch noch unsichtbar war?

    Das war verrückt, aber Jimi Hendrix ließ es machbar und sinnvoll erscheinen. Sein Lied „Hear my train a comin’" prägte mir sachte und doch überzeugend den Gedanken an diese verrückte Reise ein. Ich hörte es immer wieder. Ich dachte an den Zug, den ich selbst besteigen musste, wenn ich Berlin verlassen wollte. Ich dachte nicht an den Abschied von allem, was ich liebte. Ich hörte den Zug, wieder und wieder.

    Niemand ist so stark, dass ihn oder sie die Musik nicht berühren könnte. Musik ist bewegende Macht, ihr Macher ein Magier.

    Und Jimi hätte mein Vorhaben nicht abgelehnt. Er hatte ja selber kein gewöhnliches Leben und keinen gewöhnlichen Tod gehabt.

    Es folgten die Wochen der Queste. Davon erzähle ich hier nicht. Sie kostete mich jedenfalls mein Geld und meine Gesundheit. Ich erlebte ungeheure Anstrengungen und Herausforderungen, auch Rückschläge. Ich kam Gott so nah wie noch nie. Ich merkte nicht einmal mehr, wie außergewöhnlich mein Leben geworden war,

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