FM4 Wortlaut. Aussicht: Der FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb
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Buchvorschau
FM4 Wortlaut. Aussicht - Rosemarie Eichinger
Gute Aussicht
Es war einmal ein junger Mann. Der wollte schreiben. Also zog er nach Wien, um genau das dort zu lernen. Um sich sein Studium zu finanzieren, putzte er im Fluc (Anm.: ein Club in Wien). Während des Putzens hörte er stets Radio. Genauer – FM4. Dort erfuhr er vom Kurzgeschichtenwettbewerb Wortlaut. Fortan träumte er davon, diesen Wettbewerb irgendwann mal zu gewinnen. 2021 schaffte er es.
Klingt wie ein Märchen, hat sich aber genau so zugetragen. So hat uns das Luca Manuel Kieser erzählt, als wir ihm telefonisch zu seinem Gewinn gratuliert haben. Insofern hat es uns (und ihn) umso mehr gefreut, als er seine ausgezeichnete Kurzgeschichte Chemie auch im Fluc eingelesen hat – nachzusehen auf fm4.orf.at/wortlaut*.
„Aussicht war das Thema von Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb. Der Duden definiert „Aussicht
mit einer „für die Zukunft sich ergebende, zeigende Möglichkeit". Für Luca Manuel Kieser war Wortlaut also eben das. Es ist bei weitem nicht die einzige erfreuliche Aussicht in diesem Sammelband!
Aber der Reihe nach: Im April haben wir das Thema „Aussicht" auf FM4 bekannt gegeben. Bis Juni konnten uns die Hörerinnen und Hörer ihre Texte schicken. Rund 700 Einsendungen waren das heuer. Herzlichen Dank an dieser Stelle allen teilnehmenden Autorinnen und Autoren!
Die redaktionelle Vorjury (die FM4 RedakteurInnen Zita Bereuter, Claudia Czesch, Ali Cem Deniz, Diana Köhler, Barbara Köppel, Conny Lee, Sophie Liebhart, Maria Motter, David Pfister, Lisa Schneider, Simon Welebil und Jürgen Lagger vom Luftschacht Verlag) hatte einen ebenso aussichtsreichen wie intensiven Lesesommer.
Die beschriebenen Aussichten waren äußerst unterschiedlich und reichten von Bergen über Türme – zu Klippen und banalen Fenstern. Sie richteten sich von einer biederen Zukunftsvorstellung zum rebellischen Aufbruch. Im Mittelpunkt standen Familienmitglieder ebenso wie der Jugendcrush, Nachbarinnen genauso wie interessante Unbekannte. Von Eichhörnchen zu Außerirdischen zu philosophierenden Tintenfischen. Vom langsamen Erblinden zum unerwarteten Sehen. „Aussicht" wurde auf zig Arten ausgelegt.
Einfach war es nicht, aus all diesen Texten zwanzig auszuwählen, die dann anonymisiert an die Jury weitergereicht wurden.
Eine ebenso fantastische wie kompetente Jury (die teilweise zeitgleich in Bestsellerlisten zu finden war) hat die Wortlauttexte genau gelesen – und zwar ohne Honorar! Großen Dank für ihr Engagement und ihre Zeit geht daher an Bernhard Aichner (Schriftsteller und Fotograf), Nava Ebrahimi (Schriftstellerin), Franzobel (Schriftsteller), Marjana Gaponenko (Schriftstellerin) und Matthias Gruber (Wortlautgewinner 2020). Hatten wir mit Wettbewerbsbeginn mit Franzobel einen Bachmannpreisträger in der Jury, waren es nach Einsendeschluss zwei: Nava Ebrahimi hat 2021 den Bachmannpreis gewonnen.
Auch dazu gratulieren wir herzlich!
Die Jury war vom hohen Niveau und der Bandbreite der Kurzgeschichten überrascht und beeindruckt. „Das hätte ich selbst auch gern geschrieben" gehört wohl zum größten Lob überhaupt.
Kurz und bündig war die Jurysitzung allerdings nicht. Es wurde lange diskutiert, kritisiert und gelobt. Und bei manchen Entscheidungen schließlich schweren Herzens abgestimmt, bis die hier vorliegenden zehn Kurzgeschichten ausgewählt waren.
Gratulation jedenfalls an die ausgezeichneten fünf Autorinnen und fünf Autoren!
Denen und den Leser*innen wünschen wir hiermit eine gute Aussicht!
Zita Bereuter und Claudia Czesch
*Luca Manuel Kieser hat „Chemie, Sarah Rinderer „Ein Zimmer
und Christian Hödl „Kilian fucking Berger" eingelesen. Ihre Portraits und die Videos der Lesungen finden sich auf fm4.orf.at/wortlaut
Alle Texte gut
Wie stellen Sie sich eine Jurysitzung vor? Mit viel Alkohol, Drogen und animierendem Getanze? Oder im verspinnwebten Hinterzimmer einer Bibliothek, überrollt von gelehrig-gallertigen Referaten über die Hinterhältigkeit der Katachrese oder die Vordergründigkeit des Oxymorons? In Wirklichkeit haben wir die Texte zu Papierfliegern gefaltet und die am besten fliegenden prämiert. Nein? Das glauben Sie nicht?
Wie sollte man sonst vorgehen? Gibt es den perfekten, bis ins Kleinste durchdachten, alle zufriedenstellenden Text? Natürlich nicht. Dementsprechend sind Meinungen über Literatur immer divergierend. Was den Einen erfreulich irritiert, ist dem Nächsten so unverständlich wie Altbabylonisch, und der Dritten Zeichen einer problematischen sozialen Herkunft mit Migrationshintergrund und erziehungsberechtigtem Alkoholismus.
Es gibt zu Texten so viele Zugänge, dass nicht einmal Juror*innen alle Wege kennen, über die sie latschen. Mal packt die Geschichte, dann wieder ist es die Metaphorik, oder der Plot ist ganz geschickt gestrickt. Der eine Text ist literarischer, während der nächste durch Direktheit angenehm verstört … dann kommt wieder etwas Hochpoetisches … aber letzten Endes entscheidet doch die Sympathie. Wie will man da beurteilen, was besser ist?
Also ist die Papierfliegermethode doch die beste. Aber nein, Sie haben recht, so einfach durften wir es uns nicht machen – da wachte schon das gestrenge FM4-Gremium. Wir Juror*innen haben also leidenschaftlich gestritten, heftig diskutiert, uns auf Kompromisse geeinigt, abgestimmt, wieder von vorne angefangen und es am Ende in eine Reihenfolge gebracht, die sich hier nun präsentiert.
Von Kritiker*innen wünsche ich mir, dass sie einem Text a) wohlwollend gegenübertreten, b) versuchen zu verstehen, was er will, der Text, und ihn c) dann danach messen und bewerten. So ähnlich geht es auch als Juror*in. Vielleicht.
Das Lesen der Texte war mir eine Freude. Da war viel Inspirierendes dabei, viel mehr als nur Talent. Mögen die geneigten Leser*innen sich nun darauf stürzen und genießen.
Franzobel
* 1967 in Vöcklabruck in Oberösterreich, lebt und arbeitet in Wien. Er schreibt Theaterstücke, Prosatexte und Lyrik. Bis 1991 war er bildender Künstler. Mehrfach ausgezeichnet u.a. Ingeborg-Bachmann-Preis (1995), Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (1998), Arthur-Schnitzler-Preis (2002) oder Nicolas-Born-Preis (2017). Für seinen Krimi „Rechtswalzer (2019) wurde er mit dem Fine-Crime-Award ausgezeichnet. Mit seinem historischen Roman „Das Floß der Medusa
(2017) war er auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und wurde mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Mit dem ebenfalls historischen Roman „Die Eroberung Amerikas" (2021) war er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Chemie
Luca Manuel Kieser
Foto: Nikolaus Stein
kam 2014 nach Wien, um Sprachkunst zu studieren. Inzwischen studiert er Ethik, unterrichtet an der Kunst-VHS und engagiert sich an der PROSA-Schule. Vor allem aber schreibt er: Für sein Romanprojekt über einen Riesen-Tintenfisch erhielt er dieses Jahr ein Startstipendium des BMKÖS. Auch die Wortlaut-Geschichte gehört irgendwie zu diesem tentakeligen Text. Mehr Infos gibt’s auf lucakieser.de.
(1)
So nämlich jagen Wale: Mit offen stehendem Maul und sich um die Längsachse drehend schrauben sie sich in die Tiefe. Und wenn ein Tintenfisch, der regungslos im Wasser steht, auch unsichtbar sein mag, dem Echolot eines Wals entgeht er nicht. Anfangs sind es so leise Töne, dass nur er selbst sie hört. Eine heimlich gesummte Melodie. Doch sobald er nah genug ist, schlägt er mit einer Geräuschsalve zu.
Während du dann wieder zu dir kommst, wirst du in die Höhe geschleift. Bald seid ihr so hoch, dass dünnes Licht ins Wasser dringt, doch alles, was du sehen kannst, ist der endlose Körper. Du erkennst etwas an seinem Rücken und versuchst es zu erreichen, doch deine Arme rutschen ab. Der Druck des Kiefers, das immer wärmer werdende Wasser, es schnürt dir die Kiemen zu. Dein linker Tentakel findet eine Stelle, an der er sich festkrallen kann, und reißt mit letzter Kraft. Schwarze Hautfetzen und weißes, fasriges Gewebe wirbeln um dich. Dann klappt die Welt zusammen, die kühle Wal-Zunge, ein unendlicher Gaumen, ein Muskel, ein Sog.
Nicht alles von dir zersetzt sich. Dein Schnabel ist unverdaubar; und so stichst du in den Pylorus, kämpfst dich in den Darm, bohrst dich dort in die Flora und gerade, als du an Rache zu glauben beginnst, bildet sich um dich eine Substanz, die dich einbalsamiert. Alles klebt an dir. Du verklumpst.
Tage, Wochen, Monate verstreichen, während denen du zu einem immer größeren Brocken anwächst, dann würgt der Wal dich hervor; und es folgt eine zweite Ewigkeit, die du in einem Film aus Erbrochenem an der Wasseroberfläche durch die Weltmeere treibst; und es lässt sich gut vorstellen, what an unsavery odor such a mass must exhale; worse