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8. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2022
8. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2022
8. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2022
eBook680 Seiten5 Stunden

8. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2022

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Über dieses E-Book

Die Anthologie des Bubenreuther Literaturwettbewerbs soll wie immer einen Querschnitt der zum Wettbewerb eingesendeten Texte abbilden. Das heißt, dass aus einer großen Zahl von Texten die ausgewählt wurden, die für den Beobachter interessant sein könnten. Manche dieser Texte sind einfach großartig und bei manchen ist es faszinierend zu sehen, wie die Autor*innen auf ihrem Weg vorankommen. Mit 330 ausgewählten Texten dürfte ein gesundes Maß getroffen sein. Einige der Texte wurden vom Herausgeber kommentiert.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Nov. 2022
ISBN9783347762398
8. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2022

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    Buchvorschau

    8. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2022 - Christoph-Maria Liegener (Hrsg.)

    Die Siegertexte

    Erster Platz: Brigitte Pixner

    MACHT GELD GLÜCKLICH?

    Geld macht glücklich!, so lautet derzeit ein TV-Werbespot für das neue Kabarett-Programm im „Gimpel. – „Mama, stimmt das, dass Geld glücklich macht?, fragt der kleine Roland seine Mutter verunsichert … „Und warum sagst du dann öfters, dass Geld nicht glücklich macht?!" Kinder wollen eben alles wissen. – „Na, wenn man kein Geld hat, macht es schon glücklich, wenn man eins bekommt!, antwortet die Mutter, „aber wenn man so halbwegs sein Auskommen hat, dann braucht man schon noch etwas anderes dazu, damit man glücklich ist. – „Mich?, strahlt der liebe Roland. „Ja. Häschen!, lacht die Mutter und schenkt ihm ein Küsschen. – „Aber, wenn wir genug Geld haben – oder eigentlich der Papi, der dir das Haushaltsgeld gibt –ich aber noch keines, dann macht es dich doch sicher glücklich, wenn du mir eines gibst, und ich mir davon einen neuen CD-Player kaufen kann?" – Roland ist erst acht, denkt aber schon recht logisch – nicht nur, wenn er sich im Schachspiel versucht … Aha, daher weht also der Wind!, denkt die Mutter belustigt: Es geht, wie immer, doch ums liebe Geld! (Ums liebe Geld, habe ich eben gedacht, schilt sie sich selbst, aber es ist eben so eine Redensart).

    „Wie viel brauchst du denn?", sondiert sie vorsichtig. – „Hm, nicht viel! Nur dreißig Euro – ungefähr. Weißt du, das Geschäft, in dem ich den Player gesehen hab’, wird bald geschlossen, und so gibt es dort jetzt alles zum halben Preis! – Auch Lego und Playmobil übrigens … – „Lauter Schnäppchen also, überlegt die Mutter. „Na, gut, wenn das so ist! Und sie holt tatsächlich dreißig Euro aus ihrem „Geheimfach, dem Täschchen mit den Lockenwicklern, wohin sicher keiner schaut, und überreicht sie ihrem kleinen Sohn, der bald darauf glückstrahlend mit dem Player in der Hand wieder bei ihr aufkreuzt … „Stell dir vor, er hat sogar nur siebzig Prozent vom reduzierten Preis gekostet, weil das Geschäft schon übermorgen zusperrt!, triumphiert Roland. Vom übrig gebliebenen Geld hab’ ich mir sogar noch ein verbilligtes Lego kaufen können! Alles zusammen dreißig Euro! Toll – nicht? Muss ich dir das Lego abzahlen, sobald Tante Mimi meinen Spar-Hamster wieder nachgefüttert hat? Treuherziger Blick. – „Nein, nicht nötig!, wehrt die Mutter großzügig ab. – Was natürlich sehr erfreulich ist, ein echter Glücks-Zufall! … „Ist aber nur ausnahmsweise so, setzt sie vorbeugend hinzu.

    „Jetzt sind wir beide glücklich!, strahlt der Bub. „Hoffentlich lange, wenn der neue Player und der Adapter auch lange halten! – „Wir müssen eben gut darauf aufpassen!, kommt die mütterliche Mahnung. „Noch dazu, wo es ja keine Garantie mehr geben wird, weil das Geschäft dann geschlossen ist.

    Die dreißig Euro sind nun zwar perdu, aber niemand kann bestreiten, dass beide, der liebe Roland und seine Mutti, Glück gehabt haben … und es hoffentlich weiter haben werden, und dass beide jetzt, wo sie noch dazu viel Geld gespart haben – trotz (oder gerade durch den) Playerkauf –, so richtig glücklich miteinander und überhaupt mit aller Welt im Einklang sind!

    Kommentar: Auf die Suggestivfrage in der Überschrift hat man schnell eine Antwort parat – und wird dann eines Besseren belehrt! Meisterlicher Rekurs aufs kindliche Verständnis. Was zunächst wie ein Lehrstück beginnt, endet als köstliche Anekdote. Und es erfreut das Gemüt.

    Zweiter Platz: Dieter R. Fuchs

    Als ein Loch das Nichts heimsuchte.

    Leuchtet es nicht ein, dass sich ein Loch, angesichts der Fülle um es herum, bedrückt fühlen müsste? Doch die meisten Löcher sind so voller Leere, dass sich ihnen diese Erkenntnis nicht erschließt. Aber wie immer – Ausnahmen bestätigen die Regel.

    So kam es, dass sich ein seines unerfüllten Daseins überdrüssiges Loch quasi seiner substanziellen Nichtexistenz bewusst wurde. In einer ersten spontanen Reaktion wünschte es sich also eine Erfüllung seiner selbst. Um im gleichen Moment dieser Eingebung jedoch zu begreifen, dass es mit einer solchen Aufgabe seiner der Leere verpflichteten Natur alles verlöre, was es selbst ausmachte und vom Rest seiner Umwelt unterschied. Deshalb entschied das Loch logischerweise, so zu bleiben, wie es war, und stattdessen einen ihm angemesseneren Ort zu suchen. Und was könnte einem Loch wohl paradiesischer erscheinen als das vollkommene Nichts?

    Nach langer Reise durch die fast unendlichen Schichten des umgebenden Seins gelangte es dank seiner Masselosigkeit ins angrenzende, alles umschließende Nichts. Das Loch fühlte sich wohlig umhüllt von etwas ihm Gleichen und glaubte, als Loch im Nichts willkommen zu sein. Was sich jedoch als eklatante Fehleinschätzung erwies!

    Das sich plötzlich aufblähende Nichts machte deutlich, dass im Nichts eben nichts etwas zu suchen habe, auch kein Loch. Dies könne die Ordnung des Nichts in Unordnung bringen, was zu vermeiden sei. Ein heftiges Ringen hob an, das mangels jeglicher Substanz auf beiden Seiten jedoch zu keinerlei Wirkungen führte. Die Leere sowohl des Lochs als auch des Nichts konnten sich weder gegenseitig verdrängen noch absorbieren, keine Seite konnte sich durchsetzen. Alles lief auf einen schier endlosen Streit hinaus, was sich insbesondere durch das Fehlen jeglichen Endes bei den Kombattanten als eine zusätzliche Komplikation erwies. Skurril wurde von dem Loch das Argument des Nichts empfunden, dass der Schöpfer des Nichts keine Löcher vorgesehen habe. Das Loch antwortete, dass so ein Schöpfer des Nichts, der ja nichts geschaffen hatte, wohl kaum ernst zu nehmen sei. Es ereiferte sich, wo denn so ein Schöpfer eigentlich hergekommen sein solle, etwa aus dem Nichts? Dann sei er ja wohl kaum objektiv und daher für den aktuellen Dissens irrelevant.

    Nichts konnte das Nichts umstimmen und auch das unangreifbare Loch wich kein Jota von seinem im Nichts nicht definierbaren Standpunkt ab. Als dann das Nichts auch noch die grundsätzliche Nichtigkeit des Seins von Löchern ansprach, kam es zum unausweichlichen Chaos. Das Loch und das Nichts prallten mit voller, nicht vorhandener Wucht aufeinander, es kam zu einem zweiten Urknall und das löchrige Nichts wurde unter unhörbarem Getöse zum Beginn eines neuen Seins. Und darin leben wir alle nun, zusammen mit vielen Löchern und viel Nichts.

    Kommentar: Eine Orgie des Absurden. Köstlich! Die Kunst besteht darin, scheinbar logische Argumente für sinnlose Sachverhalte zu finden.

    Dritter Platz: Georg Großmann

    Aus Angst

    Angst

    aus Angst

    ich bin aus Angst

    gefertigt

    bin aus Angst

    vor mir selbst

    im Schatten der

    Zeit

    mein Fleisch ist

    durchzittert vom

    Ausbruch

    mein Hirn ist

    zerknittert

    die Hoffnung

    verwittert im

    Erdreich der

    Seele

    ich lebe, ich

    bebe

    in Angst

    vor der Welt

    in Angst

    vor mir selbst

    bin aus Angst

    bin die Angst

    binde Angst

    bind' mich selbst

    um meine

    Hände

    das Leben zieht

    den Knoten

    fest

    Kommentar: Wortspielereien, die tatsächlich einen Sinn ergeben. Stimulierende Reise in die Sprache. Die Auflösung Der Sprache kann auch konstruktiv wirken.

    Weitere ausgewählte Werke

    Herbert Glaser

    Ich weiß alles!

    Werner saß am Küchentisch und stierte in die halbvolle Müslischale, die vor ihm stand. Lara kam herein, knallte die Tür hinter sich zu, stellte sich auf die andere Seite des Tisches und stemmte ihre Hände in die Hüften.

    „Ich weiß alles!"

    Durch zwei Augenschlitze, die sich weigerten, größer zu werden, blickte Werner zu seiner Frau auf.

    „Guten Morgen Schatz. Was weißt du?"

    „Ich weiß alles. Du brauchst es gar nicht zu leugnen." In ihrem Gesicht waren alle Vorhänge zugezogen.

    Werner fuhr sich über die unrasierte Wange und massierte seine Augen mit Daumen und Zeigefinger.

    „Keine Ahnung, wovon du sprichst. Meinst du den Männerabend gestern? Ich hatte dir doch davon erzählt. Tut mir leid, dass es ein bisschen später geworden ist."

    „Ach, hör doch auf!, sagte sie mit einer Stimme, die eine solche arktische Kälte ausstrahlte, dass er sich fragte, weshalb sich auf den Fensterscheiben kein Frost bildete. „Es geht doch nicht um den blöden Männerabend.

    Er gab sich unschuldig wie ein frisch gebadetes Kind.

    „Ich kann dir beim besten Willen nicht folgen. Sag‘ mir einfach, was du meinst."

    Um das aufkommende Zittern ihrer Mundwinkel zu überspielen, zog Lara ihre Augenbrauen so stark zusammen, dass diese sich über der Nasenwurzel trafen.

    „Wenn du das nicht selbst erkennst, kann ich uns nicht mehr helfen."

    „Uns?" Unzusammenhängende Gedanken knallten wie Billardkugeln an die Banden seiner Schädeldecke.

    „Ja, uns! Wir sind seit über sechs Jahren verheiratet. Anscheinend ist etwas dran an diesem verflixten siebten Ehejahr. Wie lange willst du mir noch etwas vormachen?" Sie sagte dies mit so viel Überzeugung, dass der Verdacht in ihm keimte, sie wüsste tatsächlich, wovon sie sprach.

    Ihre Blicke fraßen sich kurz ineinander. Einer dieser Er

    glaubte, dass sie wusste, dass er … - Momente.

    „Schatz, ich … „

    „Spar dir das! Ihre Worte klangen wie Eiswürfel, die in ein leeres Wasserglas fallen. „Hier … Sie zog einen Umschlag aus ihrer Jeanstasche und warf ihn vor Werner auf den Tisch.

    Er gönnte sich einen kurzen Augenblick des Selbstmitleids und ließ zu, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. „Willst du etwa die Scheidung?"

    Mit äußerster Beherrschung hielt Lara ihre Stimme auf arktischem Niveau. „Lies, dann wirst du schon sehen, wohin du uns gebracht hast."

    Resigniert drehte Werner das Kuvert in seiner Hand und gestand mit brüchiger Stimme „Ich wollte das doch nicht."

    Lara zog eine Grimasse. Lachen und Entsetzen kämpften um den verfügbaren Platz.

    „Was?"

    „Es war auf einer Betriebsfeier. Ich hatte zu viel getrunken und wir sind uns näher gekommen. Glaub‘ mir, es hat nichts mit dir zu tun. Ich schwöre, dass sie mir nichts bedeutet. Es tut mir so leid. Bitte verlasse mich nicht."

    Lara starrte mit zitterndem Kinn auf den Umschlag in seiner Hand. Werner öffnete ihn und las die handgeschriebenen Worte.

    „Reingefallen!

    Ich wünsche dir einen schönen ersten April, Schatz!"

    Werner Siepler

    Fassungslos

    Die Glühbirne heute kaum noch existiert, durch die Energiesparlampe ersetzt wird, die seit 2012 qualitätsbedingt, erheblich mehr Helligkeit ins Dunkel bringt.

    Während sie stets Kaufinteresse findet, die Glühbirne aus dem Handel verschwindet. Vereinzelt man sie noch hier und da erblickt, auf dem Wege zum nostalgischen Relikt.

    So ist die Glühbirne gewaltig entsetzt, dass ihre Strahlkraft heute keiner mehr schätzt. Und ihre Enttäuschung ist nach wie vor groß, schluchzt tränenerfüllt: Jetzt bin ich fassungslos.

    Kommentar: Auch ein Kalauer muss mal erlaubt sein.

    Lisa Deutschmann

    Die Alte

    Die Frau im Lodenmantel stützt sich mit steifen Fingern am Tresen ab. Der Angestellte hinter dem Schalter zählt ihr die Banknoten vor. Schon lange gelingt es ihr nicht mehr, diese mitzuzählen. Das Nachzählen würde zu lange dauern, hinter ihr warten bereits andere Kunden. Sie greift nach dem Kuvert, das ihr der Angestellte unter dem Glas durchschiebt und verstaut es in ihrer Handtasche. Die braune Tasche an den Körper gepresst, verlässt sie die Bank. Sie hastet den Gehweg entlang, ihr Atem bildet Dampfwolken in der kalten Luft. Zwei Halbwüchsige, die auf der Steinmauer sitzen, verfolgen sie mit ihren Blicken. „Hey Omi, …", sagt der eine. Den Rest des Satzes versteht sie nicht. Sie eilt weiter. Das Geräusch des Sprungs von der Mauer lässt sie zusammenzucken. Ihr Herz pocht. Folgt er ihr? Will er sie berauben? Sie presst die Handtasche fester an sich, hält nach Fußgängern Ausschau. Auf der anderen Straßenseite geht eine Frau mit einem kleinen Kind. Ob sie es bemerken würde, wenn die Jungen über sie herfielen? Sie horcht angestrengt, kann aber keine Schritte hinter sich hören. An der Kreuzung bleibt sie stehen, hält den Blick starr auf die Ampel gerichtet. Endlich grün! Sie steigt vorsichtig vom Gehweg auf die Straße und marschiert los. Obwohl sie sich beeilt, schafft sie nur zwei Drittel des Übergangs, ehe die Ampel auf Rot umschaltet. Ein Autofahrer hupt. Sie hastet weiter, hört ihr eigenes Keuchen. Autos fahren knapp hinter ihr vorbei. Sie zwingt sich, noch schneller zu gehen. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite angelangt ist, bleibt sie schwer atmend stehen. Sie stützt sich mit einer Hand an der Ampel ab, mit der anderen kramt sie im Mantel nach dem Stofftaschentuch. Kraftlos schnäuzt sie sich die Nase. Sie ist den Leuten doch bloß im Weg! Eine lästige Alte, die mit der schnelllebigen Zeit nicht mehr mithalten kann, die endlich abtreten sollte, um den Jungen nicht ihre kostbare Zeit zu stehlen und ihre zukünftige Rente zu schmälern. Sie wendet den Kopf, sieht zurück auf die andere Straßenseite. Die beiden Jugendlichen sitzen wieder auf der Steinmauer, ins Gespräch vertieft. Sie scheinen sie längst vergessen zu haben. Ihr werdet auch einmal alt sein, denkt sie verbittert und setzt ihren Weg langsam fort.

    Katja Baumgärtner

    Für meinen Bruder Roger, weil er immer für mich da ist

    Pack die Badehose ein

    „Pack die Badehose ein, Schwesterchen! „Nein!

    „Warum nicht?"

    „Ich möchte meinen Bikini anziehen! Nur eine Badehose zu tragen, ist in meinem Alter nicht angemessen."

    „Dann pack also deinen Bikini ein, Schwesterchen! „Nein.

    „Warum nicht?"

    „Ich ziehe ihn gleich an. Ich möchte sofort schwimmen gehen, wenn wir am Strand angekommen sind!"

    „Willst du dich nicht erst bräunen, Schwesterchen? Schwimmen können wir dann immer noch!"

    „Nein, ich möchte zuerst schwimmen, denn ich will bis ans Ende der Welt und dann wieder zurück. Das kann dauern!"

    Das ist zu gefährlich allein, Schwesterchen. Ich komme mit und beschütze dich vor all den Haien und wenn du nicht mehr schwimmen kannst, trag ich dich ein bisschen!

    „Einverstanden, vielleicht sind wir zu zweit schneller am Ziel und wir möchten ja auch noch zurück. Dann können wir uns noch bräunen!"

    „Ja, Schwesterchen. Zu zweit sind wir schneller und dann bräunen wir uns noch!"

    „Ich zieh jetzt gleich den Bikini an, Brüderchen. Pack die Badehose ein!"

    „Nein Schwester!"

    „Warum nicht?"

    „Ich zieh sie gleich an. Dann sind wir noch schneller und können schwimmen, uns bräunen und vielleicht noch ein Eis schlecken!"

    Ja, Bruderherz!

    Helmut Blepp

    Nachbarn

    Nach dem Abendbrot ging ich daran, meine Pflanzen zu gießen. Nun, da das Frühjahr gekommen war, hatte ich die meisten umgetopft, deshalb schüttete ich etwas Flüssigdünger ins Gießwasser. Meine Yukka-Palme bereitete mir Sorgen. Ihre Blätter fingen an, sich braun zu färben, und die Spitzen spalteten sich.

    Nachdem ich die Gießkanne abgestellt hatte, setzte ich mich an den Tisch und machte eine Notiz. „Vogel vorläufig im Käfig lassen!" Es war mir schon einmal passiert, dass ein Wellensittich an den gedüngten Pflanzen geknabbert hatte und an einer Vergiftung gestorben war. Ich heftete den Zettel an die Wand zu den anderen. Zufrieden setzte ich mich in den Fernsehsessel. Es war kurz vor sieben.

    Ich musste eingenickt sein, denn die Türglocke ließ mich aufschrecken. Ich erwartete niemanden, und Besuch war ohnehin recht selten. Neugierig ging ich öffnen. Meine Nachbarin stand in der Tür. Letzte Woche erst waren sie, ihr Mann und das Kind eingezogen. Etwas überrascht bat ich die Frau herein und führte sie ins Wohnzimmer. Eilig nahm ich einen Stoß Rätselhefte von der Couch, und sie setzte sich. Ich selbst nahm wieder auf dem Sessel Platz. Mir war unbehaglich. Ich war es nicht gewohnt, Konversation zu machen. Sollte ich ein Getränk anbieten? Es war nur Milch im Haus. Ich fragte nicht. Auch die Frau schien verunsichert. Sie rang die Hände im Schoß. Minutenlang. Endlich aber schaute sie mir ins Gesicht und sagte stockend:

    „Es ist wegen meinem Mann."

    Ich wartete ab.

    Wir haben schon seit einiger Zeit Probleme, und meine Tochter … für das Kind ist es furchtbar, Sie verstehen?"

    Ich nickte, obwohl ich gar nichts verstand.

    „Er schlägt sie, wenn er getrunken hat. Manchmal wage ich nicht, sie zur Schule zu schicken, weil man die Schläge sehen kann. Und ich …"

    Es fiel ihr schwer, weiterzusprechen.

    „Sehen Sie selbst!"

    Sie nestelte an den oberen Knöpfen ihrer Bluse und legte den Ansatz ihrer Brüste frei. Die Blutergüsse rührten von Bissen her. Ich konnte die Abdrücke einzelner Zähne erkennen. Sprachlos schüttelte ich den Kopf.

    „Heute Abend kam er schon betrunken von der Arbeit, schwer betrunken."

    Sie sprach jetzt schneller, so als wolle sie möglichst bald zum Ende kommen.

    „Sein Essen stand bereit. Ich stellte die Suppe vor ihn auf den Tisch. Murrend begann er, sie zu schlürfen, verlangte Brot dazu. Ich holte den Laib aus dem Korb und nahm das Messer. So stand ich hinter ihm und schaute auf seinen geröteten Nacken. Dann stieß ich das Messer hinein."

    Ich hatte ihrem Geständnis mit gesenktem Kopf zugehört und dabei auf ihre Hände gestarrt. Nun blickte ich hoch. Sie hatte nichts mehr zu sagen und, so schien es mir, erwartete auch keine Stellungnahme. Sie hielt meinem Blick gewiss eine Minute lang stand. Dann erhob sie sich. Ich brachte sie zur Tür. Sie reichte mir die Hand und drückte kräftig zu. Dann ging sie zurück in ihre Wohnung, deren Tür die ganze Zeit offen gestanden hatte.

    Norbert Schäfer

    Gipfel und andere Freuden

    Meine schmerzenden Muskeln entspannen sich. Traditionell fasse ich an das alte Kreuz, die Hand an dem von der Sonne beschienenen, rissigen, dunklen Holz wärmend. Bänke gibt es keine, aber ein großer, flacher Stein scheint mir bequem genug. Die Beine schicken Wellen des Dankes, als ich sie mit einem Seufzer der Erleichterung ausstrecke. Ein Pärchen mittleren Alters, das mich bei meiner Ankunft freundlich nickend begrüßt, hat sich unweit des Gipfels niedergelassen und ist in eine halblaute Unterhaltung vertieft.

    Mein Blick schweift über das Tal und verharrt kurz bei dem Dorf aus der Vogelperspektive. Die Welt dort unten war mein Ausgangspunkt und hat sich doch verwandelt. Die Häuser wirken wie kleine, zusammengewürfelte, farbige Steine, von denen lediglich der Kirchturm heraussticht. Gestern noch hatte ich vor dem wuchtigen Gebäude gestanden, beeindruckt von seinen steil aufragenden Mauern mit den schönen Buntglasfenstern. Auch die lackglänzenden Autos, die jeden Tag lärmend, nach Abgasen riechend und, häufig gefährlich schnell. das Dorf passieren, gleichen jetzt winzigen Käfern. Langsam und geräuschlos bewegen sie sich entlang der Ameisenstraße. Ihre Farben haben sich in Grautöne verwandelt.

    Dohlen malen dunkle Kreise in das tiefe Blau des Himmels. Ich begreife ihr Krächzen als Begrüßung des neuen Gastes.

    Die ungefilterten Sonnenstrahlen wärmen meinen Körper. Und meine Seele.

    Ich sauge die Kulisse des Bergpanoramas auf. Ein Anblick, den Künstler oftmals versuchen, mit Pinsel und Farben zu verewigen. Mir erscheint es aber, als ob die Natur versucht, sich an einem besonders schönen Landschaftsbild zu orientieren. Das ist natürlich eine surreale Vorstellung. Aber es erklärt die sich mir darbietende, nahezu perfekte Aufteilung der Farben und Flächen.

    Wiesen schmiegen sich von der Talsenke an die Bergflanke. Ihr helles Grün mit den braunen und weißen Sprenkeln von weidenden Kühen strahlt vor Energie und Lebenslust. Nahtlos schließt sich das dunklere Blaugrün der Tannen und Fichten an, das den Hang dominiert. Helle, sonnenbeschienene Flecken der Nadelbäume vervollständigen den Eindruck, als ob mir der Wald freundlich zulächelt. Am obersten Rand wechselt die Farbe abrupt in ein helles, fast weißes Grau, mit dem mich die gegenüberliegenden Bergspitzen begrüßen. Und einladen, ihre Welt in den nächsten Tagen zu besuchen. Ich kann drei weitere Gipfelkreuze ausmachen, von denen eines, Sonnenstrahlen reflektierend, aufblitzt.

    Die Dohlen haben ihre Spender gefunden. Sie tippeln unweit des Paares umher.

    Einen Moment werde ich noch verweilen, um dann zurück in die andere Welt aufzubrechen. Die Welt der bunten und schnellen Autos, der großen Häuser und der lärmenden Touristengruppen.

    Aber eben auch die Welt der Leberknödelsuppen, Rahmschwammerln, halben Hendln und Weißbiere.

    Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.

    Kommentar: Der Autor bezeichnet seinen Text als eine Geschichte in Dur. In der Tat kann der Beitrag zur guten Laune beisteuern.

    Ulrike Grömling

    Abschied

    Auf diesen Moment hatte ich monatelang hingearbeitet, ihn mehr herbeigesehnt als Geburtstag und Weihnachten zusammengenommen. Vor dem inneren Auge malte ich mir den Augenblick immer wieder aus. Ich sah meine Euphorie und den unbändigen Stolz. Jubeln wollte ich, tanzend den restlichen Tag verbringen, Gott und die Welt umarmen.

    Jetzt, kurz vor dem Ziel, erlahmt mein Tatendrang. Ich zögere, will den Augenblick hinausschieben. Tief im Inneren weiß ich, dass es kein Zurück geben wird. Wenn ich weitermache, werde ich den Kontakt zu Ella und Luis verlieren.

    Die beiden haben viele Schwierigkeiten und Gefahren überwunden. Anfangs sah es kompliziert aus, und wenig später schien die Katastrophe vorprogrammiert. Zu Beginn unserer Bekanntschaft pflegte Ella ihre Launen. Nie werde ich vergessen, wie oft sie Luis anfuhr und damit absichtlich verletzte. Das hätte sich beinahe auf fatale Weise gerächt. Doch sie entwickelte sich zu einer großherzigen Frau, Luis zu einem feinfühligen Menschenkenner.

    Als hätte sie meine Gedanken gespürt, taucht Ella wie aus dem Nichts auf. Traurig sieht sie mich an und fragt mit belegter Stimme: »Du schickst uns weg? Magst du uns nicht mehr?«

    »Nein, Ella, ich habe euch gern! Ihr seid mir ans Herz gewachsen, als wärt ihr meine leiblichen Kinder!«

    »Warum beendest du dann unsere Beziehung? Warum machst du Schluss?«

    »Das ist nichts Endgültiges. Wir werden nur künftig nicht mehr jeden Tag miteinander verbringen.«

    »Du wirst mir fehlen!« Trauer schwingt in ihrer Stimme mit.

    Luis kommt hinzu, beobachtet uns aufmerksam und versteht intuitiv die Situation. Das ist keine Gabe. Diese Fähigkeit hat er sich durch leidvolle Erfahrungen erworben. Ich erinnere mich an die Schmerzen, die er erduldete. Daran war ich nicht unschuldig, sofort steigen Schuldgefühle in mir hoch.

    Entschieden presse ich die Worte hervor: »Ihr seid erwachsen und braucht kein Kindermädchen mehr!« Mein Kopf hatte gesprochen. Das Herz dagegen schrie tonlos: Geht nicht weg! Bleibt hier! Ich weiß nicht, was ich ohne euch machen soll!

    Der innere Zwiespalt reißt an mir, ich fühle den Schmerz und Tränen schießen in meine Augen.

    »Nein«, sagt Luis. »Das ist kein Grund zum Weinen. Ella, wir wussten stets, dass es enden wird.« Zu mir gewandt fährt er fort: »Mary, ich danke dir für alles. Du hast uns geformt und uns begleitet. Ohne dich wären wir nichts. Doch jetzt beginnt eine neue Zeit.« Er drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und sagt entschlossen: »Komm, Ella, wir gehen!«

    Die junge Frau nimmt Luis' Hand und folgt ihm. Im Türrahmen dreht sie sich um. Sie lächelt ein letztes Mal, bevor beide verschwinden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.

    Jetzt kommt die Botschaft in meinem Herzen an. Ja, es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen. Dennoch möchte ich Ella und Luis gern wiedersehen. Eine Fortsetzung erscheint nicht ausgeschlossen.

    Nun bin ich bereit. Ich schreibe den letzten Satz meines Romans, schreibe: »Komm, Ella, wir gehen!«

    Und darunter: ENDE

    Kommentar: Kunstvoller Spannungsaufbau, der mit einer überraschenden Lösung beendet wird.

    Helga Licher

    „Bunt sind schon die Wälder…

    … gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt."

    Dieses Volkslied von Hannes Wader ertönte zum Herbstbeginn aus allen Klassenräumen meiner Schule.

    Den Klang der Mädchenstimmen habe ich noch heute im Ohr, wenn sich der Sommer wehmütig verabschiedet und den Herbst ankündigt. Die goldene Oktobersonne taucht die Natur jetzt in ein prächtiges Licht, bevor die grauen Nebelschwaden aus den Wiesen emporsteigen.

    Wenn der Wind die letzten Blätter von den Bäumen weht und die Tage merklich kürzer werden, zieht es mich oft an den Ort, an dem ich meine Kindheit verbrachte.

    Ziellos gehe ich dann die Straßen meiner Heimatstadt entlang, wo ich als kleines Mädchen vor vielen Jahren mit meiner Familie lebte. Für meine Geschwister und mich waren es glückliche Jahre. Der Krieg war vorbei, Entbehrungen, Hunger und Not gehörten der Vergangenheit an. Unser kleines Siedlungshaus am Stadtrand hatte die vielen Bombenangriffe unbeschadet überstanden, und in unserem Garten blühten die Herbstzeitlosen, wie in all den Jahren zuvor.

    Wenn ich heute diese Straße entlang gehe, sehe ich keine spielenden Kinder mehr. Ich höre ihr Lachen nicht, und vermisse das Strahlen in ihren Gesichtern, wenn der Herbststurm um die Hausecken fegt, und es gar nicht mehr richtig hell werden will. Niemand ruft meinen Namen, so wie es früher war, wenn ich durch die Gartenpforte auf die Straße trat. Ich frage mich, wo sie geblieben sind, die fröhlichen Kinder mit ihren lachenden Augen. Wie ausgestorben liegt diese, mir einst so vertraute Straße im trüben Licht der Herbstsonne. Rechts und links an den Bürgersteigen parken Autos, und hohe Zäune versperren den Blick in die Gärten. Nachdenklich gehe ich weiter die Straße entlang. Einige Meter noch, dann macht sie eine leichte Biegung nach rechts.

    Ich halte inne, schließe meine Augen und öffne in Gedanken die rostige Gartenpforte.

    Ich sehe ihn vor mir - den gepflasterten Weg, der zum Haus führt. Vorbei an den Apfelbäumen, deren Zweige sich unter der Last der reifen Äpfel tief hinunter beugen. Ich atme den Duft der Rosen und lausche dem Gesang der Vögel. Die Luft riecht würzig nach feuchtem Laub. Hier bin ich zu Hause…

    Ich bleibe noch eine Weile stehen. Nur zögernd finde ich in die Wirklichkeit zurück und öffne langsam meine Augen. Mein Blick fällt auf ein riesiges Hochhaus mit vielen Stockwerken und einer modernen Glasfassade.

    Mein Elternhaus gibt es nicht mehr. Es musste diesem Koloss aus Stahl und Beton weichen.

    Doch in meiner Erinnerung werde ich mein Zuhause noch oft besuchen. Ich werde den Geruch von Seifenlauge in der Nase spüren, der durchs ganze Haus zog, wenn meine Oma große Wäsche hatte. Ich werde die knarrenden Treppenstufen hinaufgehen, um einen Blick in mein kleines Zimmer zu werfen, und - ich werde das Lachen der Kinder wieder hören, wenn sie draußen auf der Straße meinen Namen rufen…

    …"rote Blätter fallen,

    graue Nebel wallen,

    kühler weht der Wind…"

    Thomas Schmid

    Höhenrausch

    Die Buntstifte malen azurblaue Sehnsucht, im Windschatten schimmert glitzernder Tau, von dannen schwebt – vermaledeites Grau, hinfort mit dem Dunkel und verbotener Frucht.

    Statt Apfelsünde, der Weg in die Freiheit, wie Vögel ihre Runden vollführend, den Wind am ganzen Körper verspürend, Ikarus, der Wunsch in mir voll Inbrunst schreit.

    Doch nicht nur die Sonne im Hürdenspalier, verspürt meinen Traum - himmelwärts fliegen, der Engelschor singt schwarze Lieder.

    Ängste beschweren meine Glieder, Vernunft zieht ein, statt dich zu besiegen, erklärt mir: Auch fürder führt kein Weg zu dir.

    Hans Heinze

    Auszeit

    Ehe mich die Kaskaden

    der Tatsächlichkeit überfluten

    und die Schnitzmesser unserer Zeit

    mein Ebenbild formen

    tauche ich Knall auf Fall

    in die kunterbunte Welt der Fantasie

    in ihre verheißungsvollen Fänge

    und in ihr verlockendes Licht

    ich umfahre das Fegefeuer

    blockiere dessen Umarmung

    blicke voll Sehnsucht und woge doch

    wie eine schaumgebremste Welle

    und da keine Ruhe herrscht

    reite ich hinüber auf meine Insel

    denn unsere Synthese erdet mich

    weil ich nunmehr auf Pause bin

    Susanne Ulrike Maria Albrecht

    Ein Meer von Blumen

    Unser aller Stolz, ein Park wie kein anderer; Kulturpark „Europas Rosengarten. Er wurde im Juni 1914 von Prinzessin Hildegard von Bayern eröffnet. Rosenfreunde, allen voran der Landschaftsgärtnermeister Ludwig Stengel aus der Herzogstadt haben die prachtvolle Anlage geschaffen, die mitten in der Stadt liegt. „Europas Rosengarten ist eine Parkanlage ganz besonderer Art. In stilvoll gestalteter Umgebung von Gehölzen und Pflanzen, Teichen und Weihern, werden auf fünfzigtausend Quadratmeter über sechzigtausend Rosen in zweitausend verschiedenen Sorten vorgestellt.

    Ein Meer von Blumen!

    Gibt es etwas schöneres als die Stadt Zweibrücken? Oder den Rosengarten? Dieser betörende Duft der mit dem Beginn der Rosenblüte zu einem blumigen Spaziergang einlädt … Den Besuchern des Kulturpark „Europas Rosengarten" begegnen die neuesten und ältesten, die seltensten und die prächtigsten Rosen international renommierter Züchter. Auf dem Gelände der ehemaligen herzoglichen Gärten können sich Gartenfreunde wertvolle Anregungen holen und sich über die vielartigen Rosensorten freuen. Ein abwechslungsreiches Unterhaltungsprogramm bietet für jeden Geschmack etwas und macht den Garten zu einem besonderen Anziehungspunkt. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch ein Meer von farbenfrohen Blüten lädt eine sehr gepflegte Cafeterrasse in stilvoller Atmosphäre, die in den Rosengarten integriert ist, zum Verweilen ein. Wem das noch nicht genügt, kann sich aufmachen in ein lebendiges Rosenmuseum: Der Wildrosengarten. Über den fast drei Kilometer langen Spazierweg ist der Kulturpark mit dem Wildrosengarten im Naherholungsgebiet Fasanerie verbunden.

    So hatte Ludwig Stengel mit dem Rosengarten ein Paradies für Pflanzen, Tiere, Menschen und alle Lebewesen geschaffen.

    Kommentar: Der Text liest sich fast wie ein Kapitel aus einem Reiseführer, wäre da nicht die echte Begeisterung der Autorin für den Gegenstand ihrer Lobpreisung. Da bekommt man geradezu Lust hinzufahren.

    Samira Schogofa

    Ball der Irren

    In dieser fahl erleuchteten Stunde

    wiegen wir uns wehrlos,

    dem Charme der begehrlichen Musik ergeben,

    schmiegen wir uns schwerelos

    an eine mühselig gewundene Melodie.

    Dieser regelmäßige Rhythmus tut uns gut

    in erschütternden Zeiten.

    Hoffentlich verderben uns die Toten

    nicht den Sommer.

    Wolfgang Rinn

    Ein kleines Wunder

    Ein kleines Wunder

    hat sich auf den Weg gemacht

    und bei mir angeklopft,

    an mich gedacht:

    „Komm mit,

    so will ich dich

    das Staunen lehren,

    und du darfst

    Sternen näher sein,

    die Aussicht dir gewähren

    auf jenes Land,

    dem deine Sehnsucht gilt,

    im Traume sichtbar wird

    als Hoffnungsbild."

    Frank-Thomas Mitschke

    Der Künstler

    Er war ein wirklicher Künstler! Malen konnte er wie Rembrandt, wie van Gogh, wie Cézanne. Er hatte sogar ein Kunststudium begonnen, aber sein Professor meinte, er habe zwar das Zeug zum Kopierer, zum Nachahmer – allein für das eigene, unverwechselbare Schaffen fehle ihm die künstlerische Kraft.

    Daraufhin hatte er sich aus der Akademie zurückgezogen und sich in sein Atelier vergraben. Er arbeitete Tag und Nacht und versorgte auf diese Weise die Kunstwelt nach und nach mit Neuentdeckungen von (fast) originalen Meisterwerken der oben erwähnten Berühmtheiten. Die vielen Fachleute – u. a. auch sein früherer Kunstprofessor – bestätigten voll Eifer, dass es sich um Originale handelte, um Sensationsfunde, um Wunder!

    Sein größter Traum aber war es, ein von ihm für unvollkommen eingeschätztes Kunstwerk eines Kollegen zu verschönern, ihm mehr Strahlkraft und Sinnesfreude zu vermitteln und so sein Genie mit dem Können des Kollegen zu vereinen. Sei es, das Gelb eines einohrig gemalten Feldes zu intensivieren, sei es, die Konturen einer sich auf einem Diwan räkelnden Dame von überflüssigen Pfunden zu befreien – es war sein Ziel, ganz einfach Kunst zu optimieren.

    So ging er von nun an jeden Tag ins Museum, jedes Mal ein Malutensil mit sich führend; einen Pinsel, den er auf der Toilette des Museums versteckte, eine Tube Farbe, die er mit Klebeband unter einem Papierkorb befestigte, seine Palette, die er, in Folie gewickelt, unter die Stufen eines der Notausgänge geklemmt hatte – nie mehr als ein Utensil am Tag, um nicht aufzufallen.

    Es war ein Sonntag, an dem er sich einschließen ließ. Er schaffte es, sich nicht vom Aufsichtspersonal erwischen zu lassen, und nachdem das letzte menschliche Wesen das Museum verlassen hatte, suchte er seine Mitbringsel zusammen, mischte die Farben auf seiner Palette und begab sich mit einer sonst nie gekannten Spannung ans Werk – einer Spannung, die nicht etwa aus der Angst resultierte, erwischt zu werden, sondern die sich speiste aus dem Gefühl, dem Höhepunkt seines bisherigen Schaffens näher zu kommen.

    Er ließ sich viel Zeit, hier ein dünner Pinselstrich, da eine vorsichtige Farbkorrektur – er wollte schließlich

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