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War ich das?: Geschichten vom Großwerden
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eBook136 Seiten1 Stunde

War ich das?: Geschichten vom Großwerden

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Über dieses E-Book

»Zu viel und trotzdem zu wenig« kennzeichnet in diesem Buch das Aufwachsen der Baby-Boomer als Post-Wirtschaftswunder-Generation. Deren Eltern, die Kriegskinder, waren oft mit sich selbst beschäftigt und damit, ihren gesellschaftlichen Status zu behaupten. Sie hatten einen Blick für Neuanschaffungen, nicht aber für unsere kindlichen Bedürfnisse, und so waren wir häufig uns selbst überlassen. - Was aber auch Vorteile hatte.
Im März 2020 rief die Bürgerakademie für Kommunikation mit »Schreiben hilft! Dir auch?« zu einem Wettbewerb auf, an dem sich etwa 4000 Einsendungen beteiligten. Diese Lebenserinnerungen, darunter auch die 17 Geschichten in diesem Band, fragen danach, was uns geprägt hat, welche Wünsche und Sehnsüchte wir hatten und was davon geblieben ist.

Isa Tschierschke findet, es reicht nicht, alleine im Arbeitszimmer der eigenen Kindheit zwischen Prilblumen und Telefonzellen hinterherzuhängen und längst Vergessenes zu bergen. Nicht nur Schreiben hilft, sondern Veröffentlichen. Wir sollten einander wieder mehr von unseren Leben erzählen!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Apr. 2022
ISBN9783347599017
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    Buchvorschau

    War ich das? - Isa Tschierschke

    Einleitung

    Wettbewerb der Erinnerungen

    Es gibt kein Ziel ohne Klarheit darüber, von wo aus man aufgebrochen ist, und keine Zukunft ohne eine deutbare Version der Vergangenheit.

    – Ilja Leonard Pfeijffer, Grand Hotel Europa

    Memoir boomt. Um die 4.000 Einsendungen gab es 2020 beim Wettbewerb der Bürgerakademie für Kommunikation und des Deutschen Volkshochschulverbandes. Schreiben hilft! Dir auch? hieß der Workshop unter der Federführung von Doris Dörrie, die mit ihrem Bestseller Leben, Schreiben, Atmen eine regelrechte Schreibbewegung in Deutschland losgetreten hat. Memoir, nicht zu verwechseln mit Memoiren, also der traditionellen Autobiografie, ist die literarische Aufarbeitung von markanten Einzelerinnerungen. Berichtet werden ausgewählte Kabinettstückchen und Heldengeschichten, von denen jedes Leben randvoll ist. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer der Wettbewerbsteilnehmer, die ihre Texte letztendlich doch nicht einreichten, noch einmal um ein Vielfaches höher. Denn viele Menschen hierzulande sind der Meinung, ihr Leben sei zu unbedeutend, um erzählt zu werden.

    Daher ist es hilfreich, dass prominente Autorinnen sich mit ihren Veröffentlichungen in letzter Zeit verstärkt Alltagsthemen wie Essen (Die Welt auf dem Teller von Doris Dörrie), Kleidung (Männer in Kamelhaarmänteln von Elke Heidenreich) oder Lesen (Hier geht’s lang!, auch von Elke Heidenreich) widmen. Diese literarisierten Lebenserinnerungen verorten uns gemeinsam in der Kulturgeschichte unserer Gesellschaft und ermuntern uns zu einer Aufwertung der eigenen Lebenserfahrung.

    In dem Essay Surviving the Ordinary: Why We Need Memoirs of Regular Lives beschreibt Mary Philpott die Notwendigkeit, einander vom eigenen Leben zu berichten. Solche „relatable" (nachvollziehbaren) Texte versprechen eine Art Heimatgefühl und bieten vor allem den Vertretern derselben Generation viele Anlässe, mit den eigenen Erfahrungen anzudocken.

    Dieses Format des Memoir verlangten auch die Aufgaben der Workshops zu Schreiben hilft! Dir auch?. Drei Wettbewerbsbeiträge in diesem E-Book schafften es in den geplanten Sammelband der Bürgerakademie.

    Damit habe ich also auch gewonnen. Habe mich, wie man so schön sagt, „durchgesetzt". Am meisten wohl gegen mich selbst. Schreiben ist viel schwieriger als Nichtschreiben. Ich bewundere die Schriftstellerinnen, tot oder lebend, erfolglos oder erfolgreich, die von sich sagen, dass sie ohne Schreiben nicht leben könnten. Ich kann sehr gut ohne Schreiben leben. Ich brauche das nicht jeden Tag, wenn ich ehrlich bin.

    Außerdem steht es uns gar nicht zu, dieses ständige Schreiben. Denn es verbraucht die Energie, die wir anderen zur Verfügung stellen sollten – einem Arbeitgeber oder der Familie oder wenigstens dem Ehrenamt. Wir kümmern uns um erwachsene Kinder, die uns gar nicht mehr brauchen, Eltern, um die sich auch mal andere sorgen könnten oder um Geflüchtete – irgendwen, um ja nicht das eigene Elend ausleuchten zu müssen.

    Sich für diesen Wettbewerb schreibend zu erinnern, war manchmal schmerzhaft. Es ziepte wie beim Kämmen. Und zwar mühseligem Kämmen von nassen, verklebten Haaren nach einem Tag im Freibad oder einer durchschwitzten Nacht. Die Erinnerungssträhnen klumpen zusammen, können nicht getrennt werden, und wenn es dann doch gelingt, dann nicht, ohne dass einige für immer ausgerissen werden.

    Man wählt den grobzinkigsten Kamm, den man finden kann, und beginnt an den Spitzen. Ausgerechnet bei dem, was am längsten her ist. Das tut zwar auch weh, aber so ist es noch am verträglichsten. Wenn die ältesten Nester erst einmal beseitigt sind, ist der Rest viel leichter zu bürsten. Die Strähnen legen sich dann willig nebeneinander in die Form, die wir ihnen geben oder die sie von Natur aus schon immer haben wollten. Das dauert natürlich. Memoir ist nichts für Eilige.

    Welch ein Glück, in einem Alter zu sein, in dem man sich selbst kämmen kann! Vorbei die Tage, an denen Mutter hektisch mit den Wildschweinborsten durch die Nester pflügte, sodass wir unter Schmerzen protestierten. „Muss sein, hieß es dann. Und noch nicht da die Tage, wo die Pflegekraft die letzten schlappen Strähnchen unbedingt in Form rechen muss wie einen japanischen Meditationsgarten, weil sie diesen Posten von zwei Minuten sonst nicht mit der Krankenkasse abrechnen kann. „Muuhs sein, wird es dann wieder heißen, aber noch ist es ja nicht so weit. Noch können wir mit den Strähnen unserer Erinnerungen verfahren, wie es uns beliebt. Wir können mit Freundinnen wetten, dass wir aufhören werden, sie zu färben, und schauen, wer in einem Jahr grauer sein wird als die andere. Oder dass wir uns eine Glatze rasieren lassen, wenn etwas Bestimmtes geschieht oder ausbleibt. Oder umgekehrt, die Haare nie wieder waschen und schneiden und sie als Rastakrone auf dem Scheitelchakra balancieren. Das Einzige, was „muss", ist, sich jeden Tag aufs Neue zu entscheiden, was mit dem ganzen Zeug auf unserem Kopf geschehen soll.

    Zunächst schreiben wir Memoir für uns selbst. Die Selbstaneignung der eigenen Geschichte festigt unsere Biografie – übrigens auch die zukünftige. Wir nehmen noch einmal Platz in unserem Leben und der Gesellschaft. Wenn man sich die Heldengeschichten durchliest, die entstehen, die Kämpfe, die ausgefochten, und die Schlachten, die eigentlich irgendwie doch alle gewonnen wurden, bekommt man so etwas wie Ehrfurcht vor dem, was man erlebt hat. Für ein paar wichtige Momente im Leben ist man tatsächlich über sich hinausgewachsen oder hat sich eben geweigert. Auf jeden Fall lohnt es sich, davon zu erzählen.

    Wenn wir die Scheinwerfer schreibend auf uns selbst richten, sehen wir nicht nur unsere Geschichte in neuem Licht, sondern auch unsere Umgebung und ihre Beteiligung daran. Eine Anmaßung droht, denn anderer Leute Erinnerungen müssen zwangsläufig mit erzählt werden.

    Erica Jong sagte dazu in einem Spiegel-Interview: „Keine Familie mag einen Geschichtenerzähler in ihrer Mitte. Im Grunde hassen sie es. Meine Tochter liest meine Bücher gar nicht erst."

    Aber warum sollte überhaupt jemand lesen, was wir geschrieben haben? Warum überhaupt veröffentlichen? Falls man die eigene Eitelkeit in Verdacht hat (ein Gedanke, den wirklich eitle Menschen gar nicht zulassen), sollte man Nobody Wants to Read Your Sh*t lesen.

    Steven Pressfield, der sich der Professionalisierung des Amateur-Autorentums verschrieben hat, erklärt darin, wie man die eigenen Erinnerungen so bearbeitet, dass sie fürs Publikum lesenswert werden.

    So wie das Neugeborene versucht, sich in den Mienen seiner Umgebung zu spiegeln, irrt der Blick neugeborener Autoren in der Leserschaft umher auf der Suche nach der Antwort auf die immer gleichen Fragen: „Wer bin ich? und natürlich „Bin ich gut?

    Meistens kommt zunächst gar keine Antwort, weil nicht nur jede Familie, sondern jede Gesellschaft ihre eigenen Chronisten erst mal so lange wie möglich ignoriert. An diesem Punkt angekommen rennen Autorinnen (und hier sind es wirklich fast nur Frauen) dann gern in Seminare für autobiografisches Schreiben, wo sie gegen teures Geld beigebracht bekommen, was sie schon längst können. Die billigere, einfache Wahrheit ist: Memoir ist nichts für Eitle. Denn solange sie vom Ego getrieben werden, das auf die Reaktion von Familie und Freunden schielt, sträuben sich Texte dagegen, überhaupt Literatur zu werden.

    Um dieses Phänomen zu umgehen, riet Philip Roth einst dem jungen Ian McEwan: You’ve got to write as if your parents are dead. Es ist gar nicht so ungünstig, wenn dem tatsächlich so ist. Man genießt ein Maß an Ungestörtheit, von dem jüngere Memoiristen nur träumen können.

    Allerdings schnappt dann gleich die nächste Falle zu: Verklärung. Wenn Sie Philip Roths Rat befolgen und trotzdem immer noch der Meinung sind, dass Sie eine glückliche Kindheit hatten, dann freuen Sie sich darüber und wenden Sie sich anderen Dingen als dem Schreiben zu. Verschonen Sie Ihre Leserschaft mit Schilderungen davon, wie wunderbar Ihre Eltern waren und wie dankbar Sie ihnen sind. Nobody wants to read your sh*t! Wenn Sie eine unglückliche Kindheit hatten, dann gehen Sie in Therapie und verschonen Sie Ihre Leserschaft mit Schilderungen davon, wie ungerecht und grausam Ihre Eltern waren. Nobody …

    „Aber ich muss doch endlich die Wahrheit erzählen, lautet dann unweigerlich der Einwand vieler Neu-Autorinnen. Immer schwebt die alte Kinderfrage über dem Projekt: „Ist das in echt passiert?

    Oft geht es um ganz simple Details, bei denen die Autorin denkt: „Darf ich das so schreiben?" Ein Beispiel: der Garten bei Nita in Spring doch!. Ich beschreibe ihn als unordentlich, habe aber in Wirklichkeit keine Ahnung mehr, ob er unordentlich war. Wahrscheinlich nicht. Ich kannte damals keine Familien, die sich trauten, nach außen sichtbar unordentlich zu sein. Aber es passt zu meiner Erinnerung an ihre Frisur. Und deswegen erlaube ich mir dieses Detail. Wahr ist die Geschichte trotzdem immer noch. Die Wirklichkeit, die sich hinter unseren Alltagserlebnissen verbirgt, ist etwas viel Größeres (und Gefährlicheres) als solche Einzelheiten, weshalb sie gern gleich ganz umgangen wird (s. Nichtschreiben) oder frisiert wird mit superpräzisen Schilderungen von Einzelheiten, die der objektiven Wahrnehmung aller Beteiligten entsprechen und wunderbar Hunderte von Seiten lang von den eigentlichen großen Themen ablenken.

    Aber beim Schreiben nicht ehrlich zu sich selbst zu sein, ist wie bei der Jagd absichtlich danebenzuschießen. Manchmal gibt es ja gute Gründe, das zu tun, um Beteiligte und Schaulustige zu schonen, aber Memoir will nicht schonen. Schreiben ist Selbstermächtigung, kraftvolles Durchkämmen der Erinnerung und nichts für Zimperliche.

    Isa Tschierschke, Juli 2021

    1 Spring doch!

    (Schreib über eine Prüfung)

    In der dritten Klasse sammelte jeder irgendetwas: Bierdeckel, Kronkorken, ausländisches

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