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Landschaft verschluckt
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eBook100 Seiten1 Stunde

Landschaft verschluckt

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Über dieses E-Book

"Es gefällt dir, dass ich einfach nur J.K. genannt werde", sagt sie zu ihrem Kompagnon, der von ihrer Ungebundenheit, ihrem Freiheitsdrang weiß. "Du trägst sogar im Bett Schuhe, damit du vor mir wegrennen kannst." Bleibt man für den anderen immer fremd, ganz gleich, wie nah man sich kommt?
In diesem frühen Roman von Deborah Levy ist eine junge Frau wie ihr "Namensvetter" Jack Kerouac on the road – in einer sich immer schneller drehenden, zunehmend fragmentierten Welt.
"J.K. ist die Streunerin, die Pennerin, die Emigrantin, die Geflüchtete, die Deportierte, die Spaziergängerin, die umherziehende Spielerin. Manchmal wäre sie gern eine Siedlerin, aber Neugier, Trauer und Entfremdung verhindern das."
J.K. will mit leichtem Gepäck unterwegs sein, aber die Last ihrer Herkunft, der Erinnerungen wiegt schwer. Und wohin geht eigentlich diese Reise?
SpracheDeutsch
HerausgeberAKI Verlag
Erscheinungsdatum14. Okt. 2021
ISBN9783311702900
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    Buchvorschau

    Landschaft verschluckt - Deborah Levy

    Und ich sage jedem Mann und jeder Frau: Lass deine Seele kühl und gelassen vor einer Million Welten stehen.

    Ich widerspreche mir selbst?

    Nun gut, ich widerspreche mir selbst

    (Ich bin ja groß, ich enthalte Vielfältigkeiten.)

    Walt Whitman, Gesang meiner selbst

    1

    Die Kaulquappenfelder

    »Wenn du Angst hast, geschieht das dann im Detail oder empfindest du nur eine Art Macht?« Die Goldplombe in Gregorys Vorderzahn leuchtet J.K. ins Auge. »Ich kann dich nicht hören.«

    Sie sitzen in einer Bar am Flughafen Roissy Charles de Gaulle, Paris, von Spiegeln umgeben, auf denen der Eiffelturm zu sehen ist. Markennamen wie Segafredo, Perrier, Dior, Kronenbourg 1664 und Chanel kreisen wie Planeten über ihnen. Die dicke, blonde kalifornische Kellnerin knallt zwei Cocktails auf den Tisch.

    »Das sind echte Killer«, sagt sie.

    »Als würde Paris unter einer Decke liegen. Ich höre es nur leise.«

    J.K. sagt nichts, denn dieser Tage ist auch Gregorys Stimme sehr leise, als fürchte er, sie aus seinem großen Körper herauszulassen. Sie schnappt einzelne Wörter wie Übelkeit, Brustschmerzen, Baltikum, Mutter, Vater, Aspirin und manchmal seinen Blick auf.

    »Sieh dir die Inschrift in diesem Buch an.«

    Sie rückt näher an das Geheimnis in seinem Körper, das seine Stimme zügelt. Es ist eine alte Ausgabe von Kurzgeschichten, 1941 auf dünnes, fast durchsichtiges Papier gedruckt.

    Lass dieses Buch im Postamt zurück, wenn du es gelesen hast, damit sich auch Männer und Frauen, die Dienst tun, daran erfreuen können.

    Am Tag zuvor waren sie Arm in Arm schweigend zur Pigalle spaziert, um dort den Trans-Huren zuzusehen, wie sie an Autos oder Wänden lehnten, Lippenstift auftrugen, rauchten, vorbeigehenden Männern etwas zuriefen, wie ihre glasigen, verstrahlten Augen sich an diesen oder jenen Mann hefteten und dann wieder anderswohin.

    »Welche Art von kulturellem Virus hat diesen Jungs beigebracht, ihre Hüften so vorzustrecken, die Lippen zu schürzen und ihre Titten bis auf die andere Straßenseite zu recken?«, fragt Gregory.

    »Stehst du auf so was?«

    »Sie sind umwerfend. Mir gefällt der da drüben mit dem langen schwarzen Zopf … er reicht ihm bis zu den Knien, siehst du … mit der roten Feder auf dem Hut.«

    KOMM SPRICH MIT MIR! Eine unheimliche Stakkato-Stimme. Die Stimme von Zigarettenwerbung, gleißender Sonne, einer billigen Klitsche mit toten Fliegen auf dem Boden. Sie drehen sich um und merken, dass sie vor einer Spielhölle stehen, CASINO steht in bunten Glühbirnen über der Tür. KOMM SPRICH MIT MIR! Die brummende Yankee-Stimme dringt aus einer silberverchromten Maschine. Auf dem Bildschirm springt ein breiter Muskelmann vor einer digitalen Stadtlandschaft mit Hochhäusern und Highways auf und ab. Die Hände in den Taschen seiner Regenjacke sagt er mit zur Seite zuckendem Kiefer noch einmal schleppend: KOMM SPRICH MIT MIR!

    Gregory stupst J.K. am Arm. »Hör auf den Mann, los, wir nehmen seine Einladung an.« Er steckt zehn Franc in den Schlitz.

    HEY, WIE GEHT’S?, sagt der Mann. TIPP ETWAS EIN, UND ICH WERDE ANTWORTEN. Die Pixel wirbeln, als der Stadtcowboy die Arme verschränkt und sich vorbeugt.

    »Das ist auf Englisch.«

    »Komm, sag ihm, wie’s dir geht.«

    Gregory wendet sich zu dem Mann. Er wirft noch mal zehn Franc in die Maschine und spreizt die Finger. Rosa und blaue Glühbirnen leuchten über ihm auf.

    Brennen deine Lippen, wenn sie richtig geküsst werden? Ich will sie küssen, Baby. Ich will ich will ich will. Ich möchte dich vögeln. Ich möchte dich glücklich machen. Wie soll ich dich anfassen? Im Flugzeug hierher zeigte die Stewardess verschiedene Arten, wie man einen Flugzeugabsturz überleben kann. Sie sagte, wir müssten in eine Pfeife blasen, um die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Findest du das nicht ein wenig narzisstisch? Wenn jeder im Alltag, der Aufmerksamkeit haben will, in eine Pfeife bläst, wo kommen wir da hin? Was tust du, damit du geliebt wirst? Ich arbeite mit billigen Tricks, um gemocht zu werden. Ich gebe den Leuten das Gefühl, wichtiger zu sein, als sie sind, schmeichle ihnen, und wenn jemand einen tollen Cocktail macht, nehme ich einen Schluck und rufe SCHMETTERLINGE IM BAUCH! In England zünde ich meine Zigaretten mit Streichhölzern Made in Yugoslavia an. Das Bildchen auf der Schachtel zeigt das »Malerische Cornwall« mit einer ganzen Reihe von Schildern am Rand einer Klippe. Auf einem steht FALKLANDINSELN 8109, auf einem anderen AUSTRALIEN 170001. Ich erzähle dir das, weil ich als Junge Briefmarken gesammelt habe. Das war meine Art, den Orten einen Namen zu geben und die Welt zu erobern. Eine Briefmarke ist ein kleines Bild der Welt. Dadurch hatte ich viele kleine Bilder der Welt. Madagaskar, China, Mexiko, Argentinien, Ägypten. Eine Art virtuelle Realität.

    Wie heißt du, mein Süßer? Johnny oder Sam oder Brett? Ich will dir einen blasen, und ich will, dass du über Fußball und Religion und Hamburger und Schönheit und den Tod sprichst und darüber, wie es sich anfühlt zu kommen. Bist du in der Schule gemobbt worden? Hast du als Teenager Stunden damit verbracht, dich in deinem Zimmer umzuziehen? Hast du gespart, um dir die Schuhe und Shirts kaufen zu können, die andere Kids trugen? Welche Art von Darwinismus hat dich geprägt? Willst du irgendetwas an dir ändern? Vielleicht eine tiefere Stimme oder eine andere Nase haben? Fühlst du dich sicher in dieser Welt? Oder einsam und voller Angst? Welche technischen Geräte hast du bei dir zu Hause? Schenken sie dir Trost? Baby, bist du manchmal deprimiert? Baby, pass auf dich auf. Oh, Baby, ich will dich streicheln und dir etwas zuflüstern, damit du keine Angst mehr hast.

    Süßer, ich will dir von einer Zugfahrt mit meinem Typen nach Kiew erzählen. Wir hatten Sex, gerade als wir uns Tschernobyl näherten, und die Lautsprecher in unserem Waggon spielten eine Art Klagelied in Erinnerung an die Tragödie des Atomunfalls. Irgendwie schien es an alle Tragödien der Welt zu erinnern. Die Schreie unseres Liebesspiels, während wir an verseuchten Rindern vorbeifuhren, an Kindern mit rasierten Köpfen, die neben dem Bahngleis spielten, und die unheimliche Stille der deformierten Bäume – sonst war nichts zu hören. Schnee fiel, wir schwitzten, eng umschlungen, und Süßer, in diesem Augenblick waren wir völlig furchtlos. Die Hochhausblocks mit den Wohnsilos, in denen wir übernachteten, hießen »Die Schlaf-Region«. Ich bin in so einem Block in London aufgewachsen. Als Kinder ernährten wir uns von Dosen mit Bohnen und Fleischbällchen und wollten nie schlafen gehen, weil wir uns fürchteten. Liebling, schläfst du tief, ruhig und entspannt? Schläft jemand neben dir? Atmet in das Kissen neben dir, und du wachst als Erster auf und spürst jemanden neben dir, und es ist großartig, dass da jemand ist, und du weißt, dass alle ganz bald aufwachen werden, und dann rutscht ihr näher zusammen, und ihr startet irgendwie gemeinsam in einen neuen Tag? In Kiew öffnete ich Dosen mit Kaviar und Krebsfleisch, mit harter Währung bezahlt, und wir schliefen gut. Wir schliefen gut, und draußen herrschte eine Hungersnot. Der Zirkus spielte jeden Abend in Kiew, und ein alter Mann, der neben mir saß, machte einen Witz darüber, dass nach der Aufführung die Katzen und Pferde gegessen werden. Bist du glücklich

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