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Kleinstadthelden: Roman
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eBook300 Seiten4 Stunden

Kleinstadthelden: Roman

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Über dieses E-Book

Kaum ist Klaus dem Elternhaus entkommen, schon kämpft er in der einzigen Wohngemeinschaft der Stadt mit Putzplänen, Emanzen und stehpinkelnden Linken. Um sich vor dem Wehrdienst zu drücken, zieht er nach Berlin. Doch genervt von Punks und No Future kehrt er in seine spießige Heimat zurück und jobbt fortan bei der Lokalzeitung. Öde Artikel über entlaufene Kühe, den Kaninchenzuchtverein und einen Serientäter, der in Golflöcher kackt, bestimmen seinen journalistischen Alltag.
Die Wohngemeinschaft in der Kleinstadt ist das Zentrum des Wahnsinns. Mit reichlich Gras und Alkohol stolpert Klaus gemeinsam mit seinen chaotischen Freunden durchs Leben und verliert dabei nie seine große Liebe in Berlin aus den Augen.
Liebe, Gras und Frieden ist schließlich alles, was am Ende wirklich zählt.
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum13. Juli 2022
ISBN9783839273647
Kleinstadthelden: Roman

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    Buchvorschau

    Kleinstadthelden - Ralf Grimminger

    Zum Buch

    »Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.« In seinem neuen Zuhause, in der einzigen Wohngemeinschaft der Stadt, kämpft Klaus mit Putzplänen, Emanzen, Polizisten und Alt-Linken. Ende der 1970er flüchtet er vor der Bundeswehr nach Berlin, gerät in Häuserkämpfe und kehrt genervt von Punks und No Future in seine überschaubare Heimat zurück. Dort beginnt er bei einer Provinzzeitung zu jobben, lernt den Journalismus von ganz unten. Er schreibt über Zuhälter, erschossene Kühe, das bekannteste Groupie Süddeutschlands, Rockmusiker, denglisch sprechende Politiker, die Bundeswehr und übersteht Versammlungen mit Kaninchenzüchtern und U-Boot-Fahrern mit Gleichmut, Gras und Alkohol. Klaus wundert sich über Nachbarn, die in Golflöcher kacken und Planschbecken aufschlitzen. Am Wochenende feiert er mit Freunden oder demonstriert für den Frieden. Die Wohngemeinschaft in der Kleinstadt ist das Zentrum des Wahnsinns. Zusammen mit seinen chaotischen Freunden stolpert Klaus durchs Leben – und verliert seine große Liebe dabei nie aus den Augen. Liebe, Gras und Frieden ist am Ende alles, was wirklich wichtig ist.

    Ralf Grimminger ist 1961 in Lindau am Bodensee geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur und verschiedenen Jobs absolvierte er ein Volontariat bei der Schwäbischen Zeitung. Mitte der 1980er Jahr wechselte er zur Südwest Presse in Ulm. Als Lokalredakteur berichtete er über das örtliche Geschehen, aber auch über Stars und Sternchen sowie über Pop- und Rockkonzerte vor und hinter der Bühne. Ende der 1990er machte er sich mit einer Agentur für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Ulm selbstständig. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Immer informiert

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

    regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Herstellung: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © Nick Karvounis / unsplash;

    Jörg Möller / Pixabay

    ISBN 978-3-8392-7364-7

    Beliebte Lieder der Kleinstadthelden

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    Unter diesem Code finden Sie die Playlist der Kleinstadthelden – einfach einscannen und reinhören!

    1

    Pauls junges Leben endete abrupt auf einer Kuhweide. Er war bekifft auf seinem Motorrad viel zu schnell unterwegs gewesen, beinahe mit einem Laster zusammengestoßen und schleudernd in die Botanik geflogen. Er rammte eine Kuh, die nachfolgende Maschine fiel auf beide. Paul, Marie und Klaus hatten mit vielen Drogen und großem Spaß in den Tag hineingelebt. Für ihn war der Spaß also vorbei. Immerhin war Pauls letzte Fahrt auf Maries Schoß zum See gewesen.

    Marie genoss die Fahrt, die Sonne, das Leben. Ihr langes Blondhaar wirbelte im Fahrtwind, der die Hitze nur mäßig minderte. Genüsslich zog sie an ihrer dünnen selbst gedrehten Zigarette. Das scheppernde Autoradio lieferte die Begleitmusik, bis ein Gong die Nachrichten ankündigte. Der Sprecher verlas das Neueste vom Krieg in Kambodscha und berichtete über eine Familie, die mit einem zusammengenähten Heißluftballon, für den sie jahrelang Kunststoffbahnen gestohlen hatte, über den Eisernen Vorhang in den Goldenen Westen geflüchtet war. Schon folgte die nächste Nachricht. »Die Raumsonde Voyager zwei sendet im Vorbeiflug atemberaubende Bilder vom Jupiter.« Das imponierte Klaus, war doch der Planet unvorstellbar weit weg. Unglaublich, dass das funktioniert per Funk, auf diese Entfernung. Klaus stupste Marie. »Wir sind im Radio.« Trocken meldete der Sprecher: »Kinder fanden heute Morgen eine Bombe am Seeufer beim Negerbad

    Während die Stimme im Radio, wieder weniger aufgeregt, weiterhin heißes Sommerwetter mit Gewittern versprach, schauten sie sich an. »Hey, Klaus! Unser Revoluzzer ist auch als Toter voll aktiv.« Sie schüttelte sich vor Lachen.

    Ihr Freund war so plötzlich gestorben. »So sinnlos? Warum bloß? ›Ashes to Ashes‹ und zugedröhnt im höchsten Himmel«, sagte sie mit sanfter Stimme, als der Nachrichtensprecher eine kurze Pause machte. »Paul hätte es so gewollt.«

    Seine Eltern hatten ihn Klaus getauft, so wie viele andere Eltern ihre Söhne auch. Gleich fünf andere Jungs in seiner Klasse hießen Klaus. Er mochte seinen Namen nicht. Seit er laufen konnte, riefen ihn die Eltern Klausi, und Tanten, Onkeln und Nachbarn taten das auch. Klaus mit i hieß er im Kindergarten, in der Schule und selbst als er lange, fettige Haare, zerrissene Bluejeans und Armeejacken trug und anfing, selbst gedrehte Zigaretten Kette zu rauchen, blieb das I an seinem Namen kleben wie braunes gebrauchtes Heftpflaster, das ihm seine Mutter immer grob vom verletzten Knie oder Ellenbogen gerissen hatte. Logisch, auch seine Freunde riefen ihn Klausi. Selbst mit Führerschein, Wahlschein, Flaumbärtchen und nach mehreren Vollräuschen blieb er Klausi.

    Sie allerdings hatte ihn schon beim ersten Kennenlernen in der Wohngemeinschaft Klaus genannt. Einfach Klaus. Und jetzt summte sie im Auto neben ihm die Melodie von »Ashes to Ashes«. Leider passend, bedauerte Klaus und brummelte mit.

    Die Trauerfeier für Paul, zu der viele Freunde und seine wenigen Verwandten gekommen waren, fand an einem der ersten heißen Sommertage statt, dazu in der drückenden Mittagshitze. Es roch nach einer Mischung von Weihrauch und Buchsbaum, ein Geruch, der Klaus immer an Tod und Friedhof erinnerte. In der angenehm kühlen Kapelle hatte sich eine kleine Gruppe versammelt. Nachdenklich blickte Klaus auf seine Freunde, die in der vorderen Bankreihe andächtig wie im Stuhlkreis zusammensaßen. Ergriffen rutschten sie auf den knarzenden Bänken hin und her und wischten sich verstohlen mit dem Handrücken Tränen aus den glasigen Augen.

    »Fuck«, flüsterte Blacky noch immer fassungslos, während Sperling etwas zu laut und heftig in ein Taschentuch schnäuzte. Stefano saß benommen auf der Bank, und Fred zupfte nervös an seinem Schnurrbart. Er stand als Erster auf, als der Pfarrer mit wehendem Gewand in die Kapelle einzog. Ihm folgte ein Friedhofswärter, der wegen der Hitze und seiner engen Uniform einen alarmroten Kopf und dicke Schweißperlen auf der Stirn hatte. Der Mann stellte die Urne vorsichtig auf einen Sockel. Klaus war gestresst. Die Acryl-Stoffhose, die er für das Begräbnis ausgeliehen hatte, und das weiße Hemd klebten auf der Haut. Deswegen freute er sich, dass der Pfarrer aufs Tempo drückte und seine Ansprachen und Gebete schnell zu Ende bringen wollte. Es gab keine live vorgetragene Trauermusik, nur kurze, vom Geistlichen heruntergeleierte Ansprachen. Die Rede fand er furchtbar, weil sie vor Allgemeinplätzen strotzte für einen, der keinen Platz im Weinberg des Herrn bekommen und diesen zu Lebzeiten auch nie beackert hatte. Dazwischen füllte Klassik den Raum, eine Musik, die Paul immer gehasst hatte. Als Krönung eierte die Tonbandkassette, dann – klack, klack – klackte es, und die Musik stoppte. Bandsalat.

    »Läuft ja wie geschmiert hier.« Marie, die neben Klaus auf der Bank saß, rollte genervt ihre schönen Augen.

    »Coole Socke«, zischte Klaus, weil sich der Priester, solche Pannen offensichtlich gewohnt, nicht aus der Ruhe bringen ließ. Er machte sich um das früh verloren gegangene Schaf keine Gedanken und ratterte den nächsten Teil seiner Standardrede herunter. Und wie erhofft, machte er es kurz. Mit einem Singsang beendete er den Auftritt, ohne den Verstorbenen oder sein so früh beendetes Leben auch nur ansatzweise zu würdigen. Klaus’ Hose war zu eng und drückte auf seine Eier. Er fühlte sich unwohl.

    Am Ende der tristen Veranstaltung schritt Marie mit ihrem kurzen gelben Batikkleid lässig zur Urne, die der Friedhofswärter zum Grab um die Ecke tragen wollte. Sie lächelte ihn an. Klaus beobachtete sie. Wenn sie will, kann sie ganz schön sexy sein. Das dachte auch der Mann mit der Urne. Dessen Blick wanderte von Maries Augen und wohl geformten Lippen über ihre Brüste, deren Formen und zwei kleine Nippel sich unter dem Kleid abzeichneten, hinunter zu ihren langen Beinen, um wieder weiter oben am Ende des Kleides, im Schritt, hängen zu bleiben.

    Marie schnappte die Urne und spurtete los. Das lange Haar wirbelte im Laufen, ihre festen Brüste, die sie niemals in einen BH zwängte, wippten auf und ab. Klaus hetzte ihr hinterher. Sie rannten auf dem Gottesacker über enge Wege im Zickzack, vorbei an langen Reihen von Gräbern und anderen Trauergästen, zum Ausgang, wo in der stechenden Sonne sein Wagen geparkt war.

    Außer Atem setzte er sich ins Auto, öffnete Marie die Beifahrertür und startete den Motor, der sich unwillig erst nach mehreren Zündversuchen in Bewegung setzte. »Los, sonst holt uns die Friedhofsmafia ein«, keuchte Marie. Er drückte den Griff der Revolverschaltung krachend in den ersten Gang, worauf das Auto losächzte und seine 34 Pferdestärken dosiert freiließ. Klaus lenkte sein knatterndes und in den Kurven wippendes Auto auf die Hauptstraße und beobachtete im Rückspiegel den wild winkenden Friedhofswärter und die Großmutter, die sich mühsam auf ihren Gehstock stützte, und wie beide immer kleiner wurden.

    Klaus gab Gas. Erst jetzt hatte er Zeit, das Fenster zurückzuschieben und den Fahrtwind ins Auto zu lassen. Auf dem heißen Sitz rutschend, fingerte er hektisch mit der rechten Hand an seiner Hose.

    »Hast du Druck?«, fragte Marie überrascht.

    »Ich bekomme keine Luft.« Doch dann hatte er den Knopf am Hosenbund gefunden und lehnte sich erleichtert zurück. Schweigend fuhren sie mit Paul, den Marie immer noch in den Händen hielt, auf engen Straßen, die wegen der Hitze nach aufgeweichtem Teer rochen, und über die große Brücke, die die mittelalterliche Altstadt mit dem Festland verband. Die Luft flimmerte. In kurzer Zeit erreichten sie ihr Ziel und fanden einen Parkplatz direkt am Hafen, in dem eine Handvoll große Touristenboote gleichgültig und geduldig in der Sonne im Wasser schaukelte. Bereit, von der nächsten Urlaubergruppe geentert zu werden.

    Das Schiff sollte bald ablegen. Marie und Klaus setzten sich ins nächstgelegene Café und bestellten Bier. Paul in der Urne versteckten sie in einer Jutetasche mit »Legalize it«-Aufdruck. Die Tasche schien Marie passender für ihren Freund als der »Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!«-Beutel, der im Kofferraum liegen geblieben war. Nicht nur im Leben soll man immer eine Alternative haben. Marie hatte zu fast allem eine Meinung.

    »Wir gehen aufs Boot und kippen Paul in den See«, wiederholte Klaus leise ihren Plan und zog hektisch an seiner Zigarette.

    »Ja, so hätte er es gewollt.«

    Marie hatte einen kleinen Strauß mit im Stadtgarten gepflückten Blumen dabei und Klaus Gras und Shitkrümel in der Tasche. Er stellte sich ans Ende der Touristengruppe und wartete geduldig, bis ihm die Frau hinter der Glasscheibe ziemlich lustlos die Tickets verkaufte. Klaus dachte an die Trauerfeier. »Bandsalat. Wie würdelos.« Marie nickte. Es muss doch für eine Beerdigung Besseres geben als Musik aus dem Kassettenrekorder, überlegte er und steckte nachdenklich die Fahrkarten ein.

    Wenig später schoben sie sich mit aufgeregten, verschwitzten und in verschiedenen Sprachen und Dialekten plappernden Urlaubern auf das Ausflugsschiff. Marie und Klaus drängelten zu einem Platz unten und ganz vorn, und schon setzte sich das Ausflugsschiff mit einem leichten Vibrieren in Bewegung.

    Das Schiff nahm Fahrt auf, sodass die Gebäude der Inselstadt und die Hafenanlage schnell kleiner wurden. Die frische Seeluft umschmeichelte die Haut, der Wind tat gut und kühlte. Während das Schiff flott das Wasser durchpflügte, fotografierten die Urlauber die spektakuläre Postkarten-Landschaft, den glatten tiefblauen See mit hohen Bergen dahinter, schossen harmonische Bilder fürs Familienalbum, unterhielten sich aufgedreht oder fütterten die Möwen, die die hochgeworfenen Brotstücke geschickt wie Trapezartisten mit dem Schnabel aufschnappten und dabei laut kreischten.

    »Das geht hier nicht«, rief Klaus. »Paul bleibt an meinem Hemd kleben, bevor er im Wasser ist. Das ist, wie wenn man gegen den Wind schifft.« Lachend deutete sie zur anderen Seite.

    Mit Paul unterm Arm drängten sie sich an den Urlaubern vorbei auf den hinteren Bereich des Schiffs. Hier warteten sie, bis sie die passende Stelle auf dem See für ihre Aktion gefunden hatten. Dann zog Klaus die Urne aus dem Jutebeutel. »Liebe, Gras und Frieden, mein Freund!«, murmelte er und drückte die Urne fest an sich. Die Seebestattung auf einem vollbesetzten Ausflugsschiff war doch keine so gute Idee. Dass das Ding, das aus der Tasche spitzte, kein Fußball und auch kein Blumentopf war, war Mitreisenden trotz des bunten Aufdrucks mit Marihuana-Blatt schon aufgefallen.

    Mit der rechten Hand versuchte Klaus, die Urne, die er mit der anderen Hand fest an die Brust drückte, zu öffnen. Doch der Deckel klemmte. Nervös und immer hektischer hantierte er an dem Gefäß, während Marie ruhig blieb, leise »Blowin’ in the wind« sang und Blumen ins Wasser warf.

    »Was macht ihr da?«, rief ein Matrose mit dunkel gegerbter Gesichtshaut, der die beiden vom Oberdeck aus beobachtet hatte. Marie erschrak, ignorierte ihn aber. Der Mann alarmierte den Kapitän, und kurz darauf bahnten sich beide den Weg durch die Touristenmenge. Die Möwen kreischten weiter und flogen elegant und gierig über dem Schiff, weil sie auf frisches Futter spekulierten.

    Die Urne ließ sich nicht öffnen, weshalb er nun das Gras, das er fest in der verschwitzten Hand hielt, in den See warf. »Echt schade«, murmelte er. Marie ließ die restlichen Blumen ins Wasser fallen. Nach Luft schnappend, waren jetzt auch Kapitän und Matrose zur Stelle. Doch bevor diese ihm Urne und Tasche aus der Hand reißen konnten, schleuderte Klaus Paul dem Gras und den Blumen hinterher.

    »Schwimmt so ein Ding?«, fragte er Marie leise.

    »Weiß nicht. Wir werden sehen.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Peace, Paul. Gute Reise«, rief sie der Urne nach, spreizte die Finger zuerst zum Victory-Zeichen und formte dann mit beiden Händen ein Herz, was er ziemlich affig fand. Marie durfte das. Er verzieh ihr viel, eigentlich alles, weil sie so toll war. Klaus zog die Luft durch die Nase. Wie gut der See doch roch. Wer am See lebt, vergisst nie, wie der See riecht. Der Geruch gehört zum Leben. Und heute zum Tod. Der See roch heute klarer und intensiver als an anderen Tagen. So ein schöner Tag, fand Klaus.

    Die Urne war im See verschwunden, nur Maries rote Rosen tanzten auf den Wellen, die das Ausflugsschiff erzeugte.

    »Irgendein Problem?«, reagierte Klaus pampig.

    »Was haben Sie gerade ins Wasser geworfen?«, versuchte der Kapitän mit zackigem Befehlston Eindruck zu schinden.

    »Blumen, nur bunte Blumen«, flötete Marie, die ihn freundlich ansah und so seinem Gehabe den Wind aus den Segeln nahm. Schulterzuckend drehten Kapitän und Matrose um und gingen zurück auf ihre Posten.

    »War das jetzt okay für Paul?«

    »Klar, bei ihm hat doch selten was funktioniert, und den See hat er geliebt. Er war immer gern im Wasser.« Marie hatte sich vor der Fahrt etwas Gras eingepfiffen und war deshalb völlig entspannt.

    Beide genossen die verbleibende Zeit auf dem Schiff und die Weite des Sees. Schweigend standen sie nebeneinander, fast wie ein junges Liebespaar im Urlaub. Wie zufällig berührten sich immer wieder ihre Hände. Er hätte sie gerne in den Arm genommen, traute sich aber nicht. Der Tod von Paul hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er sich und anderen gegenüber zugeben wollte. Kurz darauf war die Rundfahrt vorbei. Marie pfiff »The End« und schaute gedankenverloren auf den See, an dessen Ufer sich malerisch, wie auf Postkarten, hohe Berge mit schneegezuckerten Gipfeln reihten. Er ahnte ihre Gedanken. »Schön kitschig, kitschig schön.« Sie nickte.

    Das Schiff fuhr in den Hafen ein und legte mit einem leichten Schlag an. An dicken Pfählen festgezurrt, leerte sich das Touristenschiff. Artig stellten sie sich in die Menschenschlange und gingen von Bord. Im Strom der vielen Touristen ließen sie sich treiben, ehe sie am Ende des Hafens Richtung Parkplatz abbogen. Marie blieb beim Kiosk stehen und kam kurz darauf mit zwei Eistüten zurück. »Legalize Erdbeereis«, lachte sie und schlotzte genüsslich an ihrem Eis. Im Auto gönnten sie sich einen Leichenschmaus aus Afghanistan zu Ehren des Freundes. Weil es so heiß war, schob Marie ihr eh schon knappes Kleid noch weiter nach oben. Klaus schielte verstohlen zum Beifahrersitz. Er konnte ihren rosafarbenen Slip sehen. Jetzt drückte seine Hose schon wieder. Dann nahm er den Joint, den sie ihm vor die Nase hielt, zwischen die Lippen und zog den Rauch tief bis in die hintersten Lungenecken. Er entspannte sich.

    Einige Wochen später war Paul in der Nachbarstadt direkt beim Negerbad aufgetaucht. Die Nachricht schnarrte jetzt noch einmal blechern aus dem Autoradio. Kinder hatten ein Gefäß am Ufer gefunden, das von deren panischen Eltern als Bombe sofort identifiziert wurde. Der Kiesstrand und die angrenzenden Straßen wurden abgesperrt, Polizei, Feuerwehr und Bombenexperten schossen mit Blaulicht und Sirenen heran. Die Männer vom Bombenentschärfungskommando machten sich umgehend an die Arbeit. Zügig konnten sie dem Krisenstab im Zelt, der in sicherer Entfernung auf Ergebnisse wartete, melden, dass es sich bei dem rätselhaften Fund nicht um eine Bombe handelte, sondern um eine Urne mit den Resten einer unbekannten Person. Der Radiosprecher informierte über die Suche nach einem Bestatter oder Angehörigen, denen eine grüne Urne abhandengekommen war.

    »Weißt du, warum das Negerbad Negerbad heißt?«, fragte Marie urplötzlich.

    »Klar, weil dort Neger gebadet haben.«

    »Falsch. Auf Französisch heißt schwimmen näscher«, erklärte sie und zog das Wort näscher überdeutlich in die Länge.

    »Die Franzosen, die hier nach dem Krieg waren, und da waren auch Schwarze dabei, gingen an den See zum Näsche, Nääääsche, also zum Baden. Die Leute kannten aber nur das Wort Neger und wunderten sich über die schlechte Aussprache und darüber, dass viele Neger immer von Näääsche redeten und nicht vom Neger. Die Badestelle, zu der alle zum Näsche gegangen sind, hieß dann schnell Näääscherbad, das dann zum Negerbad eingedeutscht wurde. Seitdem heißt das so.«

    »Très bien. Großartige Geschichte, aber das glaube ich nicht.«

    »Großes Ääährenwort«, lachte Marie, und Klaus überlegte, ob sie sich die Story vom Negerbad gerade ausgedacht hatte.

    Um die Nachrichten besser zu hören, fuhr er langsamer und stoppte schließlich das Auto an einer Feldeinfahrt. Der Radioempfang war jetzt klarer. Die schwüle Hitze plagte die Leute schon seit Wochen. Die Sonne knallte aufs Autodach, auf dem man Spiegeleier hätte braten können, und am Horizont türmten sich gewaltige Wolken auf. Ein Gewitter hat etwas Reinigendes, dachte Klaus beim Blick in die Ferne und wischte sich mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Stimme aus den Boxen, die er erst vor ein paar Tagen auf die Hutablage geschraubt hatte. Wie auf Kommando lachten sie über die neuen Nachrichten aus der Nachbarschaft.

    »Paul ist tot? Nein. Paul ist nicht tot«, sagte sie.

    2

    Es war Sommer und er war 17, als er von zu Hause aus- und später in die Wohngemeinschaft von Paul einzog. Die ständigen Streitereien mit seinen Eltern hatten genervt. Seine zerrissenen Jeans, die langen Haare, seine Freunde, Drogen, Partys, Politik, laute Musik und ewig Ärger in der Schule – die Stressliste war lang. Nach einer letzten heftigen und lauten Auseinandersetzung hatte er sein Elternhaus und die jüngeren Geschwister mit einer Tasche Klamotten, Plattenspieler, Lieblingsschallplatten und einer Bettdecke verlassen. Klaus kam in der alternativen Kollektivkneipe unter, in der alle Mitarbeiter die Klos putzten, an der Theke und in der Küche arbeiteten, den Lohn teilten und in der darüber liegenden Wohnung schliefen. Einige Monate später hatte er genug davon, allein schon wegen der abendfüllenden und, wie er fand, völlig überflüssigen Diskussionen im Wohn- und Arbeitsprojekt. Deswegen zog er aus der Kneipe aus und in ein freies Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Kleinstadt. Zu Marie und Paul in die Kommune 1 der Stadt. Kommune 1, weil es keine zweite WG gab.

    Die Wohnung in einem jahrhundertealten Haus in der Altstadt hatte drei Zimmer, ein Klo mit lila bemaltem Sitzdeckel und Motzer-, Mad- und Pardon-Heften auf einer Ablage. Die sperrige Holztür, an deren Innenseite mit Reißzwecken ein Poster von Frank Zappa auf der Schüssel befestigt war, ließ sich durch einen Eisenhaken nur schlecht schließen. Deshalb hörte und roch man es auch, wer gerade auf dem Thron saß. Die enge Küche mit schwerem Holztisch und vier Stühlen in der Mitte hatte eine Spüle, die ebenso für die Gemüse-, Obst- und Tellerwäsche wie für die Rasur, die schnelle Körperwäsche und das Zähneputzen herhalten musste. Wenn die Zeit drängte, wurden in dem kleinen Becken auch T-Shirts, Socken, BHs und Unterhosen gewaschen. Neben der Spüle gab es eine Standdusche mit Pumpe, die mit derben Geräuschen das Wasser, das in homöopathischen Dosen aus der Brause getröpfelt war, wieder mit rhythmischem Geschlotze aus dem angegilbten Becken saugte.

    Paul und Marie wohnten seit einigen Monaten in der einfachen und günstigen Wohnung mit dunklen abgewetzten und muffigen Teppichböden, deren Alter und die darin lustig existierenden Lebewesen nicht zu bestimmen waren. Ein Stockwerk darunter lebte eine türkische Familie, durch deren Wohnung jeder gehen musste, um nach oben zu gelangen. Die Nachbarn beteten viel, kochten köstlich, produzierten ungewohnte Gerüche, und einmal im Jahr schächteten sie im Treppenhaus eine Ziege oder ein Schaf und zerlegten das Tier auf einer Plastikplane, was an heißen Tagen ganz neue Gerüche erzeugte.

    Im Haus knarzten die Holzböden bei jedem Schritt. Am Geräusch der Treppenstufen konnte man erkennen, wer zu Besuch kam. Langes Knarzen kündete einen dicken Gast an. Ein kurzes Knarzen verriet ein Leichtgewicht. Klaus war ins Zimmer von Pauls Freundin gezogen, die wegen dessen Drogenkonsum und Frauenverschleiß entnervt erst die WG, dann ihn verlassen hatte. Die offene Beziehung und freie Liebe gehörten für Paul zum Lebensstil wie Flugblätterverteilen. Er vögelte ausgiebig für den Klassenkampf und die sexuelle Befreiung, bis seine Freundin, die bezüglich der offenen Beziehung nicht so engagiert war, genug hatte. Sie verließ Bett und Wohnung. Und Paul.

    Marie hatte trotz ihrer jungen Jahre etwas Mütterliches an sich. Trotzdem fand er sie von Anfang an sexy. Sie war einige Jahre älter und arbeitete als Erzieherin in einem Kindergarten. Die Mitbewohnerin liebte bunte, selbst gestaltete, bevorzugt lange wallende Batikkleider, die die schlanken Rehbeinchen mit ihren dunklen Härchen fast vollständig verdeckten. Im Sommer trug sie gerne die hochmodernen, klackenden Clogs mit Holzsohle. Und sie roch nach Patschuli. Immer und überall. Klaus liebte das Parfum an

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