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Digitalisierung der Management-Diagnostik: Aktuelle Instrumente, Trends, Herausforderungen
Digitalisierung der Management-Diagnostik: Aktuelle Instrumente, Trends, Herausforderungen
Digitalisierung der Management-Diagnostik: Aktuelle Instrumente, Trends, Herausforderungen
eBook849 Seiten7 Stunden

Digitalisierung der Management-Diagnostik: Aktuelle Instrumente, Trends, Herausforderungen

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Über dieses E-Book

In kurzer Zeit hat die „Corona-Zäsur“ die Digitalisierung in vielen Lebensbereichen spürbar vorangetrieben, auch in der Personalwirtschaft. In diesem Herausgeberband beschreiben dazu HR-Praktiker und Wissenschaftler ihre jeweilige Lösung, um die Management-Diagnostik an die fortschreitende Entwicklung anzupassen. Die fundierten Beiträge stellen Instrumente vor, mit denen bewährte Vorgehensweisen wie Interviews, Assessment Center und psychologische Testverfahren in zeitgemäß-innovative Online-Verfahren übertragen wurden. Hinzu kommen weitergehende Betrachtungen aus der systematisierten Zukunftsforschung im Rahmen von definierten Szenarien. Im Vorfeld rundet eine zusammenfassende Einführung in die Materie die gesamte Darstellung ab.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer Gabler
Erscheinungsdatum29. Nov. 2020
ISBN9783658309053
Digitalisierung der Management-Diagnostik: Aktuelle Instrumente, Trends, Herausforderungen

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    Buchvorschau

    Digitalisierung der Management-Diagnostik - Klaus P. Stulle

    © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020

    K. P. Stulle (Hrsg.)Digitalisierung der Management-Diagnostikhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-30905-3_1

    1. Einleitung

    Klaus P. Stulle¹  

    (1)

    Hochschule Fresenius, Köln, Deutschland

    Klaus P. Stulle

    Email: stulle@hs-fresenius.de

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    Klaus P. Stulle

    (*1967) studierte Psychologie, Philosophie und Betriebswirtschaftslehre an Universitäten in Aix-en-Provence, Wuppertal und Köln. Er verfügt über zwölfjährige Konzernerfahrung bei der Bayer AG mit Stabs- und Leitungsfunktionen in der operativen und strategischen Personalentwicklung. 2008 wurde er von der Hochschule Fresenius in Köln auf eine Professur im Bereich „Wirtschaftspsychologie" berufen. Klaus Stulle hat auf allen fünf Kontinenten  Personalauswahl- und Entwicklungsprojekte in den Sprachen Englisch, Französisch und Spanisch durchgeführt. Seine interkulturellen Erfahrungen basieren außerdem auf Reisen durch ca. 90 Länder weltweit. Ferner verfügt er über mehrjährige Zusatzausbildungen zum systemischen Coach/Organisationsberater sowie diverse Zertifizierungen für Persönlichkeitsfragebögen.

    Seit 2012 steht er als Geschäftsführer von „Stulle & Thiel seinen Klienten rund um die Themen „Assessment, Beratung und Coaching konstruktiv zur Seite.

    1.1 Allgemeine Einführung

    Schon im Vorwort wurde auf die umfangreiche Literatur rund um Themen wie „Management-Diagnostik bzw. „Personalauswahl/Assessment Center hingewiesen, die keine weitere Publikation erforderlich machen würde. Schließlich wurden die Grundlagen wie „Testgütekriterien oder „Kompetenzmodellierung bereits hinlänglich beschrieben, ohne damit an alltäglicher Relevanz zu verlieren. Auch die Testtheorie nach Gulliksen (1950) wird auch in Zukunft schlichtweg als nur noch "klassischer denn je gelten können, ohne widerlegt worden zu sein. Somit konnten rein inhaltliche „Erfindungen in der Management-Diagnostik schon seit längerer Zeit nicht mehr [wirklich] beobachtet werden. Andererseits wird bei genauerer Betrachtung deutlich, dass der einzige wirklich wirksame Innovationstreiber maßgeblich durch die wachsenden technischen Möglichkeiten begründet ist.

    Konkretes Beispiel: Eine vergleichende Darstellung konkurrierender – in der Praxis sich aber vielmehr ergänzender! – Interview-Techniken wie „Biographie-basiert vs. „Kompetenz-basiert kann als verzichtbar betrachtet werden, weil schon hinlänglich bekannt. Außerdem wurde in der Fachwelt schon regelmäßig – durchweg mit guten Gründen – kritisiert, dass im deutschen Sprachraum psychometrische Testverfahren nicht so verbreitet und akzeptiert sind, wie dies zum einen in anderen Kulturen der Fall ist und zum anderen Validitätsstudien nahelegen. Umso beachtlicher erscheint dann vor diesem Hintergrund, dass mittlerweile auch im „testmuffeligen Deutschland PC- bzw. Internet-basierte Videointerviews auf den Markt drängen, zwar erst seit kürzerer Zeit, dafür umso nachdrücklicher. Und bei solchen Produkten gilt es dann zunächst zu unterscheiden, ob es sich um reine Kommunikationstechnologie handelt, wie sie zum Beispiel durch Anbieter wie „Skype oder „Zoom ermöglicht wird: Anstelle eines Telefonats oder des sonst eher üblichen persönlichen (Vorstellungs-)Gesprächs findet das Kennenlernen mittels Video-Technik statt. Dies stellt dann zunächst einmal eine (absolut sinnvolle!) Erweiterung der Kommunikationsmöglichkeiten dar, dezentral statt nur Vor-Ort. Doch damit handelt es sich im engeren Sinne aber noch keineswegs um Management-Diagnostik im eigentlichen Sinne. Denn diese setzt erst ein durch zusätzliche Komponenten, beispielsweise, weil das System vorsieht, die Videoaufzeichnung mehreren Assessoren getrennt voneinander zugänglich zu machen (meist zeitversetzt bzw. zeitunabhängig), also das bewährte „Mehr-Augen-Prinzip. Dazu – und damit fängt die strukturierte Bewertung erst an – werden ihnen dann standardisierte Beurteilungsbögen (meist quantitativ und auch qualitativ) angeboten. Dies kann dann als erstes Beispiel verstanden werden, wie aus einer allgemeinen technischen Weiterentwicklung eine konkrete Innovation für die Management-Diagnostik erwächst. Diese wurde im deutschsprachigen Raum dann bislang – nebenbei bemerkt – maximal sporadisch in einzelnen Artikeln, kaum aber in einschlägigen Sammelbänden vorstellt.

    Doch – auch dies wird in den folgenden Einzelkapiteln deutlich werden – beinhaltet die eigentliche Innovation lange nicht nur die Anwendung von Technik für bewährte, konventionelle Vorgehensweisen, beispielsweise strukturierte Beobachtungsbögen in digitaler Form. Erheblich anspruchsvoller werden die Lösungen beispielsweise durch die Anwendung der vielzitierten „Künstlichen Intelligenz, wobei es sich bei näherer Betrachtung oft mehr um „Machine Learning zur hochkomplexen Mustererkennung handelt, als dass wirklich zielführend menschliche Problemlösekompetenz simuliert oder gar ersetzt werden würde. Ungeachtet dessen und übertragen auf das zuvor verwendete Beispiel: Von einer besonders einschneidenden Innovation der klassischen Interviewtechnik kann dann die Rede sein, wenn die digitalen Videoclips nicht nur subjektiv von verschiedenen Bewertern eingeschätzt werden, sondern auch maschinell (vor-)verarbeitet werden, zum Beispiel durch Stimm-/ Sprachanalyse.

    Doch an diesem Punkt gewinnt die begleitende Diskussion eine ganz besondere Dynamik: Denn zum einen wird die Validität, also die Gültigkeit, solcher maschinell generierten Eignungsaussagen weiterhin kritisch hinterfragt oder gar pauschal infrage gestellt. Wissenschaftlich motivierte Darstellungen wie der Sammelband von Stulle (2018) werden nicht nur in der einschlägigen Fachpresse diskutiert (vgl. u. a. Bärschneider 2019; Thiel 2019) und auch kritisiert (vgl. u. a. Kanning 2018), sondern auch von gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Medien wie dem SPIEGEL aufgegriffen (Müller 2019). Dabei wird regelmäßig das große Interesse an solchen – zweifelsohne ausgesprochen jungen – Technologien erkennbar, aber auch damit einhergehende Skepsis bis hin zu pauschalisierender Ablehnung. Die begleitende Diskussion wird dabei an der einen Stelle sachlich-inhaltlich, aber zuweilen auch unübersehbar emotional geführt, weil mit Ängsten und Zweifeln besetzt. Die dahinterliegende Kontroverse soll an dieser Stelle aber bewusst nur angedeutet und nicht fortgesetzt werden. Schließlich steht sie nur exemplarisch für die vielfältigen Herausforderungen, denen alle in diesem Sammelband vorgestellten Innovationen ausgesetzt sind. Allen Kapiteln wohnt der „Zauber des Aufbruchs inne, der andererseits aber auch eine große Angriffsfläche bietet, weil die Instrumente und Produkte eben noch nicht so wissenschaftlich fundiert und validiert sind, wie dies wünschenswert wäre – und auch für die Zukunft erstrebenswert ist (vgl. Nachwort). Insofern muss – und darf! – der hier vorgelegte Sammelband mit der Einschränkung leben, dass in allen Kapiteln der jeweils aktuelle Entwicklungsstand beschrieben wird. Und wie dies gerade rund um das Thema „Digitalisierung offensichtlich wird, verläuft der diesbezügliche Fortschritt in einem rasanten Tempo, sodass schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung einschlägige Weiterentwicklungen zu erwarten sind. Somit muss sich der geneigte Leser mit einer – unterschiedlich ausgeprägten – Vorläufigkeit der Inhalte abfinden, die maximal durch Folgeveröffentlichungen aufgefangen werden kann.

    Andererseits soll an dieser Stelle noch ein ernst zu nehmender Hinweis platziert werden: Wie in anderen Lebensbereichen auch, wird die Zukunft der Führungskräfteauswahl von einem zunehmenden Zusammenspiel analoger und digitaler Technologien geprägt sein. Dies bedeutet aber keineswegs, dass der viel-beschworene „menschliche Faktor" nach und nach, möglicherweise sogar sehr schnell, verdrängt bis gänzlich eliminiert wird. Solche Fantasien dürften sehr rasch – und mit guten Gründen! – eine ablehnende Konnotation erfahren und sich nur noch als „Big-Brother-Szenario angsteinflößend bemerkbar machen. Ähnliche Sorgen mögen sich zum Beispiel auch in der oben angesprochenen Diskussion rund um die elektronische Sprachanalyse ihren Raum gesucht haben. Doch dem steht heute wie in Zukunft das „Mantra der Eignungsdiagnostik entgegen, das sich in der Formel „Multi-Modalität" manifestiert, vereinfacht gesagt: „Viel hilft viel!".

    Vor diesem Hintergrund werben Eignungsdiagnostiker z. B. schon seit langem für den Einsatz von psychometrischen Testverfahren im Rahmen der Personalauswahl, üblicherweise in digitaler Form. Eine ganze Reihe an Personalchefs und Beratern lehnt solche Verfahren – mit unterschiedlicher Vehemenz und Begründungen – weiterhin ab. Dabei steht doch fest, dass wirklich kein einziger Bewerber eine Stelle – vom Praktikumsplatz bis hin zum Vorstandssessel – nur aufgrund seines Testergebnisses bekommen wird. Unstrittig ist auch, dass eine ganze Reihe an Bewerbern die Wunschposition wegen des Tests nicht bekommen wird. Solche Negativ-Entscheidungen, meist im Rahmen der Vorauswahl – müssen bei größeren Bewerberzahlen schlichtweg als unvermeidbar gelten. Aber ein Positiv-Votum gründet stets (!) auf einer von mindestens einer Person, meist sogar von mehreren Beteiligten getroffenen Konsens-Entscheidung, in der Regel nach einem oder mehreren Vorstellungsgesprächen = Interviews oder AC-Übungen samt Beobachterkonferenz. Anders ausgedrückt, [so gut wie] keine Stellenbesetzung dürfte jemals nur aufgrund eines Einzeltestverfahrens erfolgt sein. Vielmehr dominiert ungeachtet der verwendeten Methoden ganz unübersehbar der menschliche Faktor der Eindrucksbildung (wahre Psychometrie-Liebhaber mögen dies sogar eher kritisch sehen, konnten an dieser Tatsache aber in etlichen Jahrzehnten nichts ernsthaft verändern).

    Vergleichbares gilt für die im Herausgeberband noch einzeln ausführlich und anschaulich dargestellten Instrumente und Vorgehensweisen: Sicherlich erhöhen sie durchweg den Anteil an Elektronik und Algorithmus-basierter Entscheidungsfindung. Doch neben der – zuweilen gut begründeten Kritik daran – müssen auch Zweifler eingestehen, dass damit zunächst einmal ein Zugewinn an Standardisierung und Objektivität verbunden ist, sehr passend zum aktuellen „Antidiskriminierungsgesetzes bis hin zu gesellschaftlichen „#Me-too-Debatten. Relevanter als solche Vorzüge ist aber das oben vorgebrachte Argument, dass sämtliche Elektronik bestenfalls die Negativ-Entscheidungen forciert, dies möglicherweise auch maßgeblich bis hin zu vollständig. Positiv-Entscheidungen werden aber weiterhin – auch bei breitbandigem Einsatz von High-Tec – vom „menschlichen Faktor" geprägt sein, insbesondere bei ernst zu nehmender Management-Diagnostik für wirklich seniore Positionen in Organisationen. Damit verdrängt im Bereich der Management-Diagnostik ebenso wie in anderen Lebenslagen die Technik nicht den Menschen, sondern sie verschafft ihm erst den Raum für eine vertiefte, facettenreiche Eindrucksbildung.

    Vor diesem Hintergrund sollen nun die verschiedenen Grundformate der Management-Diagnostik einzeln betrachtet werden:

    1.1.1 Digitalisierung von Interviews

    Das Interview gilt als sogenanntes „Vorstellungsgespräch traditionell als ein echter „Klassiker der Personalauswahl allgemein und der Management-Diagnostik insbesondere. Zweifelsohne wird es auch in Zukunft als unverzichtbarer Bestandteil besondere Aufmerksamkeit verdienen. Dazu soll zu Beginn eine wegweisende Unterscheidung vorgenommen werden:

    1.1.1.1 Rein technische Lösungen zur Aufzeichnung von Interviews:

    In der Vergangenheit galt es unter Führungskräften und Personalentscheidern als gesetzt, dass Vorstellungsgespräche – wenn irgendwie realisierbar – im direkten Kontakt und einer professionellen Umgebung stattfinden sollten. Dazu wurde in den meisten Fällen der Bewerber in das infrage kommende Unternehmen eingeladen. Damit war dann zunächst einmal der Anreiseaufwand zum Firmengelände verbunden. Dort musste dann der Bewerber den Empfang passieren, bei größeren Unternehmen erst noch der Werkszugang samt dem dortigen Werkschutz. Vor Ort wartete oft erst eine freundliche Assistenzkraft mit Getränkeangeboten, bevor dann das eigentliche Gespräche im persönlichen Büro oder neutralen Besprechungsraum beginnen konnte. Das Kennenlernen fand dann mindestens unter vier Augen statt, wobei arbeitgeberseitig sehr häufig auch im Tandem, z. B. Führungskraft mit Personal-Verantwortlichem, gearbeitet wurde. Bei größeren Kommissionen kann die Anzahl an Akteuren noch erheblich weiter steigen, z. B., wenn auch Arbeitnehmervertreter aus Betriebs- oder Personalrat bzw. Mitarbeitervertretung (MAV) hinzugezogen werden, Geschlechter- und/oder Schwerbehindertenvertreter, oder andere Interessengruppen wie die „Jugend- und Auszubildendenvertretung" (JAV). Mit steigender Teilnehmeranzahl potenziert sich der mit dem Interview verbundene Aufwand: Während die Raumsuche hierbei noch vernachlässigt werden kann, fallen Reisekosten und insbesondere Zeitbedarf maßgeblich ins Gewicht. Dabei ist lange nicht nur die reine Durchführungsdauer zu berücksichtigen, die Koordinationsbemühungen zur Terminfindung im Vorfeld mögen zuweilen noch länger gedauert haben, stets steigend bei zunehmender Seniorität der handelnden Akteure.

    Als naheliegende Konsequenz aus diesen Erfahrungen gibt es schon seit Jahrzehnten die Möglichkeit, Vorstellungsgespräche über Telefon durchzuführen. Doch so pragmatisch diese Lösung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so unbefriedigend dürfte oft das Ergebnis bewertet worden sein: Telefonisch, ob per Festnetz und meist noch schlimmer via Mobilfunk, fehlt schlichtweg die „persönliche Note des Kennenlernens, wie sie nur vis-à-vis, also durch den optischen Eindruck und das Wahrnehmen der Körpersprache etc. möglich ist. Daher soll die Video-Übermittlung des Gespräches zum einen die Fahrtkosten vermeiden, gleichzeitig aber einen Bildeindruck möglich machen. Daher liegt es nahe, die „Digitalisierung des Interviews durch eine schlichte Bild- und Tonübertragung mittels Videotelefonie, beispielsweise durch den Anbieter Skype vorzunehmen, dazu noch kostenneutral. Doch – leider! – kann dies aus verschiedenen Gründen nicht als vollwertige Lösung betrachtet werden: Zum einen – hier aber nur am Rande erwähnt – ist die technische Übertragung von Videomaterial über das Internet weiterhin oft noch zu störungsanfällig und qualitativ minderwertig, als dies für anspruchsvolle und intensive Gespräche angemessen wäre. Wenn mehrere Gesprächspartner gleichzeitig beteiligt sein sollen, steigt dabei noch die technische Komplexität und Volatilität der Verbindung. Schwerwiegender aber ist die Tatsache, dass durch eine reine Videoübertragung in Echtzeit die große Herausforderung der zeitlichen Koordination nicht gelöst wird. Sie wird möglicherweise sogar eher noch erschwert, weil sich meist wirklich alle erst einmal eingewählt/eingeloggt haben müssen, bevor das Gespräch starten kann (was lange nicht nur für den Bewerber als echte Belastungsprobe erlebt werden kann).

    Daraus resultiert als das erste echte „Feature von Video-Interviews die Möglichkeit, diese zeitversetzt aufzuzeichnen bzw. wiederzugeben. Die dahinterliegende Technik macht sich dabei den allgemeinen Fortschritt zunutze: Die allermeisten Bewerber – insbesondere innerhalb der jüngeren Generation – werden heutzutage über ein eigenes Smartphone mit eingebauter Kamera verfügen. Dadurch sind sie problemlos in der Lage, sich wie in anderen Situationen (Stichwort „Selfie) selbst aufzunehmen. Ein zeitversetztes Video-Interview besteht dann üblicherweise aus den folgenden Prozess-Schritten:

    a.

    Zunächst nimmt das einstellende Unternehmen eine Begrüßungssequenz auf, verbunden mit einer persönlichen Ansprache des Kandidaten (und ggf. weiteren „Teasern");

    b.

    Dann formuliert der Unternehmensvertreter eine überschaubare Anzahl an Fragen, auf die sich der Bewerber zu positionieren hat;

    c.

    Der Bewerber beantwortet dann jede einzelne Frage, bekommt dabei aber meist die Möglichkeit gegeben, seine eigene Reaktion vor dem Absenden noch einmal zu kontrollieren und ggf. neu-aufzunehmen;

    d.

    Die daraus resultierende Videoaufzeichnung kann dann unternehmensseitig beobachtet und bewertet werden.

    Damit verbunden sind etliche zentrale Vorteile dieser Form von web-basierten Interviews:

    Aufgrund der (erheblichen!) Effizienzsteigerung können (deutlich) mehr Kandidaten „eingeladen" und damit in die engere Wahl genommen werden;

    Der gesamte Prozess kann – im Gegensatz zum klassischen Interview – zeitversetzt, quasi „24/7" – erfolgen, jeder Akteur (entlang der gesetzten Gegebenheiten) wird zum Zeitpunkt seiner Wahl tätigt;

    Durch fest vorgegebene Fragen – samt dem anschließenden Auswertungsprocedere – wird ein erhöhtes Maß an Standardisierung erreicht, als dies in „offenen Gesprächen" möglich wäre;

    Diese Art der Umsetzung folgt dem klassischen AC-Gedanken von mehreren voneinander unabhängigen Beobachtern, woraus eine Steigerung der Objektivität erfolgt. Diese stellt wiederum stets die Grundlage für die weiterführenden Gütekriterien Reliabilität und Validität dar;

    Das Verfahren wirkt zeitgemäß modern und steigert dadurch auf „Neudeutsch die sogenannte „customer-experience". Insbesondere die Möglichkeit für die Bewerber, ihren eigenen Beitrag zu kontrollieren und bei Bedarf zu revidieren, wird als angemessen und fair wahrgenommen wird und trägt somit zur Akzeptanz bei.

    Aber: Wie immer sind die genannten Vorzüge auch mit Nachteilen oder ernst zu nehmenden Einschränkungen verbunden. An erster Stelle ist dabei der ein Stück weit „statische Charakter der Kommunikation zu nennen. Zwar suggerieren die gegenseitigen Videoaufnahmen eine gewisse Lebhaftigkeit und Authentizität. Andererseits fehlt bei dieser technischen Lösung die zentrale Möglichkeit der unmittelbaren Kommunikation, nämlich wirklich ins Gespräch miteinander zu kommen, insbesondere durch gegenseitiges Nachfragen und Vertiefen. Letztlich generieren konventionelle Video-Interview-Provider aber nur „Bild-& Ton-Fragmente, die der Interpretation bedürfen (was nicht in jedem Fall eine leichte Aufgabe darstellen mag). Außerdem schließen auch technisch (nahezu) perfekte Videoaufzeichnungen nur eingeschränkt die Lücke, die schon bei Telefon-Interviews kritisiert wurde: Es fehlt die physische Nähe, der unmittelbare Austausch „mit allen Sinnen". Doch dazu gilt dann als Zwischenfazit, was auch an anderen Stellen in diesem Herausgeberband nachdrücklich betont werden wird:

    Vergleichbar dem Werkzeugkoffer des professionellen Handwerkers stellen web-basierte Video-Interviews ein zeitgemäßes und sinnvolles Instrument als Ergänzung der bewährten, konventionellen Methoden dar. Die genannten Vorteile sind nicht von der Hand zu weisen und erleichtern den Prozess für alle Beteiligte. Andererseits wird eine professionelle Personalauswahl auch in Zukunft ein „people-business bleiben, der zwischenmenschliche Faktor dominiert das Kennenlernen. So werden sie in der Praxis – vergleichbar anderen Tools – einen weiteren möglichen Filter bei der „Negativ-Auswahl darstellen, der gegen Ende des Prozesses aber das direkte Gespräch als persönliches Kennenlernen weiterhin unverzichtbar bleiben lässt.

    In diesem positiven Resümee ist allerdings eine zentrale Facette von wünschenswerten Video-Interviews noch nicht berücksichtigt worden. Vereinfachend ausgedrückt kann die Umsetzung des oben beschriebenen Prozesses als eine rein technische Lösung bezeichnet werden, die damit zwar Ansprüche stellt an IT- bzw. Datentechnik-Kompetenz, aber kein psychologisch-diagnostisches Know-How erfordert. Der eigentliche Fortschritt mag vielmehr begründet sein in:

    1.1.1.2 Psychodiagnostisch unterstützte Video-Interviews

    Auch wenn schon die rein-technische Lösung für Video-Interviews an sich anspruchsvoll genug sein mag, bedeutet sie doch nur eine Datengrundlage für die eigentliche Aufgabe der Personalauswahl, nämlich die Bewertung der Inhalte. Hierfür kommen dann (mindestens) zwei unterschiedene Vorgehensweisen in Betracht:

    Standardisierte Bewertungstechnologie: Einbettung von psychodiagnostischen Elementen in das Video Interview

    Ein besonderer Vorzug der Video-Fragmente ist das schon genannte große Maß an Standardisierung, damit auch an Vergleichbarkeit. Ganz analog zu konventionellen Assessment Center-Vorgängen können auch dann diese Film-Aufzeichnungen zeitversetzt und von mehreren Beobachtern unabhängig bewertet werden. Die Videotechnologie erlaubt es auch, als Aufgabenstellung neben den Interviewinhalten andere Komponenten des AC aufzugreifen, wie z. B. Fallstudien Präsentationen, Gruppendiskussionen und Rollenspiele. Diese Beurteilung sollte dann ebenfalls vergleichbar mit dem AC anhand von definierten Kriterien, also Beobachtungsdimensionen, meist entlang des Unternehmens-spezifischen Kompetenzmodells in Kombination mit stärker differenzierenden Verhaltensankern erfolgen. Damit ähnelt der Bewertungsprozess des Videomaterial einer üblichen AC-Beobachtermappe, die ja ebenfalls zunehmend digitalisiert wird (vgl. Kap. 46) in diesem Herausgeberband). Dies stellt dann eine Art „Brückenschlag der modern-zeitgemäßen web-basierten Video-Technologie dar in Kombination mit einer bewährten AC-Systematik, einschließlich des „Mehr-Augen-Prinzips. Dieses kann dann leichterhand elektronisch weiter verdichtet werden, indem z. B. nach der individuellen Bewertung auch die Mittelwerte samt Abweichungsmaße der verschiedenen Beobachter angezeigt werden. Auch diese Form des „Reporting", also einer standardisierten Berichterstellung aufgrund von Verhaltensbeobachtung weist dann Parallelen beim digitalisierten Interview zum modernen AC auf.

    1.1.1.2.1 Künstliche Intelligenz im Video-Interview

    Bei aller Wertschätzung gegenüber den zuvor erläuterten Komponenten, eine wirklich neuartige Dimension an psychodiagnostischer Kompetenz im (Video-)Interview ergibt sich erst, wenn der menschliche Beobachter durch künstliche Intelligenz ergänzt oder gar ersetzt wird. Diese profitiert dann von der Tatsache, dass die Interview-Antworten des Bewerbers bereits elektronisch vorliegen. Die dazugehörige Sprachaufzeichnung kann dann in automatisierter Form über sogenanntes „Natural Language Processing (NLP, nicht zu verwechseln mit dem ebenso abgekürzten „Neuro-linguistischem Programmieren!) erfolgen. Solche Systeme ermöglichen dann die objektivierte Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen aus dem Interview-Vorgang, parallel zur subjektiven Eindrucksbildung. Dabei werden dann entlang vordefinierter Entscheidungsparameter als „Anker positive = vorteilhafte und eher negative Sprachindikatoren gegenübergestellt und zahlenmäßig abgeglichen. Besondere Vorzüge solcher Anwendungen werden für die Vorauswahl bei großen Bewerber- bzw. Datenmengen prognostiziert, weil darunter direkt eine vordefinierte Gruppe an „High-Potentials angepeilt werden kann. Auch die Testfairness im Sinne des Gleichbehandlungsgrundsatzes kann bei einer computer-basierten Bewertung als ausgeprägter angesehen werden im Vergleich mit „typisch-menschlichen [Fehl-]Heuristiken, was wiederum die „Rechtssicherheit der damit getroffenen Urteile erhöht.

    Als Ausblick verweisen die Autoren – mit guten Gründen! – darauf, dass die automatisierte Interview- bzw. Sprachauswertung sich nicht auf das psychologische „Heimspiel, nämlich Persönlichkeitseigenschaften, beschränken muss, sondern noch deutlich darüber hinaus gehen kann: Zum Beispiel lassen sich (Fach-)Wissen und Berufserfahrungswerte damit recht standardisiert erfassen, ebenso wie die reine Sprachkompetenz als Ausdrucksfähigkeit – mehr denn je eine Grundvoraussetzung bzw. „K. O.-Kriterium für Einstellentscheidungen. Noch mehr „Zukunftsmusik, gleichwohl schon heute vorstellbar, sind „Echtzeit-KI-Auswertungen, durch die der Interviewer parallel zu seiner Gesprächsführung unterstützt wird, indem das Antwortverhalten schon im Prozess selbst analysiert und bewertet wird, gezielte Rückfragen, zum Beispiel bei Glaubwürdigkeitszweifeln sind dadurch möglich.

    Weitere Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich durch video-basierte Stellenausschreibungen, Referenzen und Assessment Center, allesamt „Produktinnovationen", die im hier vorliegenden Herausgeberband noch von anderen Autoren ausführlicher dargestellt werden. Insgesamt ist für die dahinter liegende Technologie in vielerlei Hinsicht eine Menge Potenzial zu erwarten, über dessen finale Ausgestaltung heute noch ein Stück weit spekuliert werden kann/muss. Einen hilfreichen aktuellen Überblick über den Stand der Forschung im Vergleich von technologie-mediierten Einstellungsinterviews im Vergleich mit „Face-to-Face"-Gesprächen liefern Basch & Melchers (2020). Sie weisen auf die Unterschiede hin, die sich durch die verschiedenen Technologie-Varianten ergeben (Telefon- oder Video-basiert, simultan oder asynchron-zeitversetzt etc.), und die zu einer differenzierten Befundlage führen. Zusammengefasst wird allerdings konstatiert, dass die meisten Formen Technologie-unterstützter Interviews von den Bewerbern weniger akzeptiert werden als Vor-Ort-Gespräche. Auch ihre Gültigkeit wird in der wissenschaftlichen Betrachtung kritisch hinterfragt, wobei sogar eine gemeinsame Kriteriumsvalidität als möglicherweise nicht gegeben angenommen wird.

    1.1.2 Digitalisierung von Assessment Center bzw. AC-Bestandteilen

    1.1.2.1 Digitalisierung von AC-Unterlagen

    Vollständig im Einklang mit dem generellen Tenor dieses Buches weisen Guttschick und Dries zu Beginn ihres Kapitels auf den unübersehbaren Einzug der Digitalisierung hin, nicht nur in die Geschäftswelt samt den Unternehmen, sondern auch darüber hinaus in alle Lebensbereiche des Alltags. Damit verschieben sich auch die Mediengewohnheiten von analogen Büchern und Zahlungsmitteln zu zunehmend digitalen „Devices. Dieser Trend manifestiert sich auch zunehmend im Personalmanagement und führt dort zu optimierten, „smarten Prozessen, z. B. beim „one-click-recruiting für eine „fast-application. Damit verbunden steigt dann oft auch die Erwartungshaltung vonseiten der Bewerber an eine möglichst schlanke, wenig aufwendige Kommunikation mit dem potenziellen Arbeitgeber.

    Im Rahmen einer zeitgemäßen Ausdehnung bei der Digitalisierung der Personalarbeit ergeben sich auch und insbesondere neue Möglichkeiten rund um das Standard-Instrument „Assessment Center. Anstelle dies zur wahren „Material-, weil Papierschlacht ausarten zu lassen, bieten gerade moderne Tablet-PCs unübersehbare Vorteile für Vorbereitung, Durchführung und Auswertung. Konkretes Beispiel im hier beschriebenen Fall ist das sog. „KI.PAT", das Kölner Institut. Portable Assessment Tool, das vom Kölner Institut für Management Beratung (ki.m) entwickelt wurde. Dieses wird durch dort eigens entwickelte Software gesteuert, die zwischen dem „Back-End und dem „Front-End unterscheidet. Erstgenanntes wird durch den Administrator oder (auch gleichzeitig Moderator) der Veranstaltung über einen PC gesteuert und ermöglicht die unmittelbare WLAN-Kommunikation mit den „Front-End-Anwendern", den Beobachtern, meist Linienführungskräfte, interne Personaler oder auch externe Assessoren.

    Im Vorfeld der Veranstaltung werden die früher aufwendig ausgedruckten Unterlagen wie Übungsinstruktionen, Beobachtungskompetenzen und -bögen samt Zeitplan „nur" noch zusammengestellt und nach Bedarf angepasst („customizing"), dazu noch die Namen der Teilnehmer in der vorgegebenen Durchführungsreihenfolge. Mit einem solchen individualisiert konfiguriertem Tablet begibt sich dann jeder Beobachter in die verschiedenen Übungsräume und kann dort papierlos seine Beobachtungen elektronisch + handschriftlich zu Protokoll geben. Die Datensicherheit ist dabei durch Verschlüsselung und regelmäßigen Datenabgleich konstant gewährleistet. Als besonders vorteilhaft erweist sich die Technologie unmittelbar vor und während der abschließenden Beobachterkonferenz, wenn – meist unter Zeitdruck – die Einzelergebnisse zusammengetragen, aggregiert und zumindest in divergierenden Fällen einzeln vertieft werden müssen. Nach Diskussion und Finalisierung der Daten wird der sensible, personenbezogene Teil davon im Rahmen der Nachbereitung vom System exportiert, steht aber gleichzeitig für Evaluationsfragestellungen im elektronischen Format zur Verfügung.

    Guttschick und Dries benennen in der Folge diverse Vorteile dieser Technologie wie:

    Außenwirkung für Bewerber (Bewerbermarketing),

    Ökonomie in Vorbereitung und Durchführung,

    Papierloses AC möglich (auch mit Teilnehmereinbindung),

    Flexibilität bei unvorhergesehenen Änderungen,

    Einfache Handhabung für Beobachter,

    Ausschluss von Übertragungsfehlern und lückenlose Dokumentation („Betriebsratsfestigkeit"),

    Sicherheit im Hinblick auf Datenschutz und -verlust,

    Automatisierung der Prozesse,

    Evaluationen direkt vor Ort,

    die dann auch noch ausführlicher vorgestellt werden. Abschließend werden noch weiterführende Möglichkeiten und künftige Trends erläutert, darunter die Möglichkeit, die Tablet-Technologie auch für digitale Interview-Leitfäden anstelle von AC-Übungen zu nutzen. Außerdem können Assessments als „Remote-AC erheblich leichter auch virtuell/de-zentral, also an verschiedenen Orten gleichzeitig durchgeführt werden. Wenn nicht nur die Beobachter, sondern auch die Teilnehmer mit individualisierten Tablets ausgestattet werden, profitieren auch sie von den zusätzlichen technischen Möglichkeiten. Insgesamt wird in dem Artikel deutlich, weil Möglichkeiten sich schon heute durch den Einsatz moderner Endgeräte für die Durchführung von Assessment Center ergeben und wohin diesbezüglich „die Reise gehen wird.

    1.1.2.2 Digitalisierung von Business Cases/Fallstudien

    Seit etwa den 80er Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts fand die sogenannten „Postkorb-Übung rasche Verbreitung und etablierte sich dadurch als „AC-Klassiker. Dabei erhalten die Kandidaten einen Stapel mit 10 bis 20 Dokumenten, die innerhalb einer vorgegebenen, meist knappen Zeitspanne abzuarbeiten sind. Die zu lösenden Probleme sind vielfältig und oftmals nicht ausschließlich beruflicher Natur („Partner ist krank geworden, Kinderbetreuung muss organisiert werden"). Mündliche Rückfragen sind in der Regel nicht möglich. Jedes Schriftstück beinhaltet dabei bestimmte Rahmenbedingungen, die es zu berücksichtigen gilt, z. B. einen festen Abgabetermin. Teilweise können sich diese Konditionen auch überschneiden, sodass man gezwungen ist, sichtbar Prioritäten zu setzen. Darin enthalten sind auch Entscheidungen, ob man eine bestimmte Aufgabe selbst zu übernehmen gedenkt, oder diese delegieren bzw. vernachlässigen kann.

    Die Postkorb-Übung fand rasch Zuspruch, wobei sich unterschiedliche „Antwortformate" herausentwickelten: Zum einen konnte sie als rein schriftliche Übung am Ende schriftlich ausgewertet werden im Sinne von „richtig" oder „falsch vor dem Hintergrund einer standardisierten Musterlösung. Damit zeigte sie Verwandtschaft zu kognitiven Leistungstests – mit den entsprechenden Vor- und Nachteilen. Das andere Format sah eine interaktive Präsentation vor einem Entscheider-Gremium vor, meist mit einem beginnenden, vorbereiteten Vortrag und anschließendem „Frage & Antwort-Teil, gerne praktiziert als ein durchaus etwas provokatives „Grillen". Letztgenanntes ermöglichte dann durch darin enthaltene Dynamik erheblich größere Verhaltensanteile und auch Augenschein-Validität. Andererseits sank bei dieser Form der Auswertung rasch die wünschenswerte Standardisierung und Vergleichbarkeit, weil die Einschätzung überwiegend subjektiv erfolgte. Außerdem benötigte die Übung dadurch neben dem – oft erheblichen – Zeitaufwand für den Kandidaten zusätzlichen Raum für Durchführung samt Auswertung/Kalibrierung durch die Beobachter, was sich auch durch eine Kombination beider Varianten nicht verhindern ließ. Dazu kam die Tatsache, dass der klassische Postkorb im Sinne von „Ich hole selbst die kranke Großmutter am Bahnhof ab, verkaufe mein Aktienpaket und kümmere mich danach um berufliche Verpflichtungen mit zunehmender Verbreitung als ausgesprochen bekannt bis hin zu verbraucht gelten muss. Insbesondere der in der ursprünglichen Version weit verbreitete private Anteil der Übung passte immer weniger in ein beruflich-professionelles Umfeld, sodass sich die traditionelle Postkorb-Übungen immer mehr zur Fallstudie als „Business Case wandelte.

    Dieses auch weiterhin aktuelle Übungsformat im Rahmen von Assessment Centern und anderen Auswahlverfahren besteht in aller Regel wie der Postkorb aus einer Fülle an Dokumenten, die aber einen rein geschäftsbezogenen Hintergrund aufweisen. Wie zuvor gilt es aber auch hier, diese in einer eng umgrenzten Zeit bestmöglich zu bearbeiten und dabei analytische und strategisch-konzeptionelle Kompetenz unter Beweis zu stellen. Dabei kann als das erklärte Ziel der Fallstudie gelten, eine Lücke zu schließen, welche andere AC-Komponenten zuweilen nur bedingt erfassen: Im Interview – falls es überhaupt zu den Übungen gehört – stehen biografische Aussagen im Vordergrund. Strategisch-konzeptionelle Errungenschaften und Leistungen können zwar ebenfalls erfragt werden, deren faktische Qualität bleibt aber meist nicht überprüfbar. Das Gleiche gilt in noch ausgeprägterer Weise für den anderen Klassiker, die Vortragsübung. Auch die verbleibende Kategorie, das Rollenspiel, eignet sich nur bedingt, um analytische Kompetenz messbar zu machen. Hierbei dominieren zumeist sensible soziale Interaktionen wie „Vorgesetzter trifft demotivierten Mitarbeiter oder eine „Kollegenverhandlung um knappe Ressourcen. Natürlich wird auch für solche Aufgaben zumindest ein Minimum an Auffassungsgabe und strukturierter Problemlösung benötigt, aber eine belastbare Erfassung kognitiv-analytischer Kompetenz ist nicht machbar. Bleibt als weitere Alternative der „Werkzeugkasten" der kognitiven Leistungstests – Persönlichkeitsfragebögen sind höchstens nur sehr eingeschränkt von Vorteil. Diese erfüllen regelmäßig in beispielhafter Ausprägung die Erwartungen an psychologische Gütekriterien einschließlich der Standardisierung. Aber für den verhaltensbezogenen Aspekt der AC-Durchführung stellen sie regelmäßig einen echten Fremdkörper dar und eignen sich daher – wenn überhaupt – nur am Rande der Gesamtveranstaltung. Außerdem passen sie inhaltlich meist wenig bis überhaupt nicht in den Plot der AC-Aufgaben, sondern sind durch eine ausgeprägte Abstraktion und sachliche Nüchternheit gekennzeichnet, wirken daher auf Bewerber wenig reizvoll, möglicherweise sogar abschreckend.

    So bleibt als Ausweg aus diesen eher unvorteilhaften Rahmenbedingungen die Fallstudie als „Königsdisziplin der analytischen Übungen. Ganz grob lässt sie sich in zwei „Familien unterscheiden:

    Materialungebundene Case Study

    Hierbei besteht die Aufgabe in einer übergeordneten Aufgabenstellung wie: „Erarbeiten Sie Grundzüge für die Strategie 20xx!. Dies kann für ein virtuelles, aber insbesondere auch für das konkret infrage kommende Unternehmen der Fall sein. Möglicherweise sind darin auch noch Unterpunkte enthalten wie „kurz-/mittel-/langfristig, aber so oder so zeichnet sich diese Aufgabenfamilien dadurch aus, dass minimal bis überhaupt kein Begleitmaterial an die Hand gegeben wird. Damit kann diese Form der Case Study für die Erstellung als besonders pragmatisch, weil bequem gelten, dazu weist sie eine ausgewiesene Kontextrelevanz auf. Doch diese Vorteile werden oft in den Schatten gestellt durch eine hohe Variabilität, was die Durchführung und letztlich damit auch die Bewertung einer solchen Übung angeht: Die Teilnehmer werden bei meist sehr variierenden Hintergrundkenntnissen die Instruktion regelmäßig sehr unterschiedlich interpretieren, was zu vielfältigen, oft kaum noch vergleichbaren Ergebnissen führt – vergleichbar dem „freien Aufsatz einer Deutscharbeit zu einem beliebigen Thema, bis hin zum Risiko der Bewertung „Thema verfehlt – ungenügend. Verbunden mit dieser Gefahr ist die Ablehnung vonseiten der Teilnehmer, denen die Erwartungshaltung an ihre zu erbringende Leistung nicht genügend klar wird, sodass sie sich beim anschließenden Improvisieren bis hin zu „freiem Assoziieren zunehmend unwohl fühlen.

    Materialgebundene Case Study

    Im Gegensatz zur erstgenannten Kategorie basieren diese Fallstudien auf einem ganzen Bündel an konkreter Information, entweder zu dem infrage kommenden Unternehmen, wahrscheinlicher aber noch zu einem Fremdunternehmen, real existierend oder möglicherweise rein fiktiv. Dadurch weist die materialgebundene Case Study die größten Parallelen zur nach und nach „aussterbenden" Postkorb-Übung auf, verzichtet aber auf den dort üblichen privaten Teil an (Stör-)Informationen. Vielmehr beziehen sich alle Unterlagen auf den Business-Kontext, dies aber durchaus aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Ähnlich wie beim Postkorb geht es dabei dann weniger um eine Überprüfung betriebswissenschaftlichen (Prüfungs-)Wissens, beispielsweise zu ausgewählten Kennzahlen. Vielmehr steht das allgemeine unternehmerische Verständnis im Mittelpunkt, für das ein Minimum an Wissen zwar hilfreich sein mag, dies aber letztlich nicht ausschlaggebend ist. Gute Case Studies sind so konzipiert, dass sie zwar eine erhebliche Komplexität beinhalten, diese aber maßgeblich durch „gesunden Menschenverstand in Verbindung mit den „Grundrechenarten zu reduzieren und aufzubereiten ist. Daher verzichten solche Szenarien auf schwer, weil nur für Experten verständliche Fachbegriffe oder komplizierte Rechenanforderungen, die entweder IT-Unterstützung oder andere Hilfsmittel erfordern.

    Ob die Darbietung des zu bearbeitenden Materials analog = papiergestützt oder digital am Bildschirm erfolgt, ist dann zunächst einmal für den Charakter der Aufgabe zweitrangig. Hierfür wird es eher eine Rolle spielen, wie sie zu bearbeiten ist: Sollen die wesentlichen Erkenntnisse einem kritischen Gremium an Beobachtern präsentiert werden, reicht in der Praxis meist ein (analoges) Flipchart. Möglicherweise wird dazu noch als realistisches Digitalisierungselement die Möglichkeit eine PowerPoint-Präsentation eingeräumt, doch diese ist aufgrund des Zeitdrucks meist nicht wirklich von Vorteil. Somit weist dann die Ergebnisdarstellung Parallelen zu den üblichen AC-Übungen „Vortrag und „Rollenspiel auf. Die Alternative dazu ist eine weitgehende Digitalisierung der Übung in Form von „Darbietung elektronisch – Bearbeitung elektronisch. Dann erfordert sie neben PC-Arbeitsplätzen auch die nötige Software, die Fallstudie elektronisch zu bearbeiten, entweder als geschlossene Applikation, was verständlicherweise besonders hohe technische Anforderungen an die Durchführung samt Auswertungsprocedere stellt. Eine Alternative innerhalb der digitalen Bearbeitung ist die Verwendung von gängigen Office-Produkten außerhalb der eigentlichen Fallstudie. Dies stellt dann aber eine Art „Medienbruch dar und kann als wenig „elegant" gelten. In jedem Fall wird bei der Gestaltung einer Fallstudie nicht nur der eigentliche Inhalt als ausschlaggebend zu betrachten sein, sondern auch die technische Umsetzung samt Digitalisierungsgrad. Zweifellos kann dabei die Fallstudie als besonders relevanter Baustein innerhalb des Personalauswahlverfahrens betrachtet werden, weil ihre Umsetzung- voll-analog über teil- bis voll-digitalisiert zum einen besonders offensichtlich den Entwicklungsstand des gesamten Verfahrens deutlich macht. Zum anderen dürfte in der Praxis bei der Entwicklung eines neuen, am besten auch innovativen Assessment Centers ein Großteil der Ressourcen für die Konzeption einer aktuellen und wirklich differenzierenden Fallstudie investiert werden müssen, klassische Gesprächssituationen oder gar ein teil-strukturierter Interview-Leitfaden lassen sich hingegen erheblich weniger aufwendig erarbeiten. Somit gebührt der Verwendung einer Case Study auch aus dieser Perspektive besondere Aufmerksamkeit.

    1.1.3 Digitalisierung von Testverfahren, 360°-Feedback und Messung der Organisationskultur

    1.1.3.1 Digitalisierung von Testverfahren

    Parallel zur Entwicklung von alltagstauglichen PCs als sogenannter „Heimcomputer verlief die Übertragung von konventionellen „Papier-Bleistift-Fragebögen in Richtung einer elektronischen Vorgabe. Schon in den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts galt im deutschsprachigen Raum die österreichische Firma „Schuhfried" (https://​www.​schuhfried.​at/​) als Pionier auf diesem Gebiet, später dann als Kooperationspartner mit dem Hogrefe Testsystem (https://​www.​hogrefe-testsystem.​com/​). Am Anfang dieser Entwicklung stand dann in erster Linie der Schritt, bewährte psychologische Tests wie zum Beispiel der viel-beachtete und angewendete Intelligenzstrukturtest nach Amthauer (IST IST 70 IST 2000 (+R)) (vgl. u. a. Amthauer et al. 1997/1999; Liepmann et al. 2007/2010) „einfach per PC durchzuführen und automatisiert auszuwerten – die Bedienung erfolgte benutzergerecht anfangs noch per „Lichtgriffel direkt am Bildschirm anstelle einer Maus. Inhaltlich hatte sich an den Aufgabenformaten bzw. den Testitems zunächst einmal aber nichts geändert, maximal wurde die Gültigkeit der für die Papier-Bleistift-Version vorliegenden Normen hinterfragt.

    Erst nach und nach verbreiterte sich der Markt an PC-gestützten psychometrischen Tests, die dann auch zunehmend ein „inhaltliches Eigenleben" entwickelten und Aufgabenformate samt Auswertungsprozeduren beinhalteten, die ohne IT-Unterstützung nicht praktikabel gewesen wären. Dazu zählt zum einen die weite Kategorie der sog. „Adaptiven Tests", bei denen sich die Itemvorgabe nach dem (unmittelbar ausgewerteten) Antwortverhalten des Probanden richtet, bei Leistungstests meist in Bezug auf die jeweilige Aufgabenschwierigkeit mit dann jeweils leichteren oder schwereren Testaufgaben.

    Ein besonderer Vorzug der Test-Digitalisierung ergab sich aus der Tatsache, dass die Durchführung zunehmend ortsungebunden, also de-zentral stattfinden kann, dazu auch noch zum Zeitpunkt der Wahl des Kandidaten, meist des Bewerbers. Früher wurden noch ganze Säle mit Teilnehmern gefüllt, die gleichzeitig getestet wurden (zum Teil mit abweichenden Testbatterien für unterschiedliche Berufe). Schon seit einiger Zeit können internet-basiert die individuell zusammengestellten Tests meist online bearbeitet und dann vom jeweiligen Recruiter oder anderen HR-Fachleuten bequem Internet-basiert unter Anwendung der gewünschten Normen ausgewertet werden. Da dieses Vorgehen zum einen in Bezug auf Zeit und Geld als „ressourcenschonend gelten kann und dazu inhaltlich nachweislich hoch-valide Informationen liefert, sind viele Unternehmen zu veränderten Recruiting-Prozessen übergegangen: Anstelle zunächst die Bewerbungsunterlagen bestehend aus Anschreiben, Lebenslauf und Zeugnissen in Augenschein zu nehmen und zu bewerten, findet oft zuerst der Online-Test statt, ohne [ernsthafte] Dokumentenprüfung. Erst wenn dort eine bestimmte Hürde als Qualitätsmaßstab als sogenannter „cut-off-Wert überschritten wurde, wird das Augenmerk auf weitere Kompentenzfelder gelegt. Dieses Vorgehen ermöglicht dann als zusätzlichen Vorteil, [deutlich] mehr Kandidaten eine konstruktive Rückmeldung samt einer fairen, weil objektiven Chance zu geben, anstelle schon eine Menge darunter aus eher formalen und wenig belastbaren Kriterien wie Zeugnisnoten herauszufiltern. Allerdings muss sich dieses – in der Summe vorteilhafte! – Vorgehen mit der Einschränkung auseinandersetzen, dass es im Gegensatz zur Testsaalbedingung die Teilnehmeridentifizierung deutlich schwerfällt: Sozial-kompetenten und selbstkritische, aber kognitiv möglicherweise weniger leistungsstarke Bewerber können einzelne oder gar ganze Gruppen motivieren, an ihrer statt den Test online zu bearbeiten, um durch diesen „Täuschungsversuch in die nächste Runde der Bewerberauswahl zu gelangen. Unternehmen praktizieren neben plakativen „Warnhinweisen teilweise nur „angedrohte" oder auch praktizierte Re-Tests vor Ort im Erfolgsfalle. Aber ungeachtet der weiterhin strittigen Relevanz dieser Fragestellung begleitet die damit verbundene Diskussion die unaufhaltsame Verbreitung von Online-Tests konstant und auch weiterhin auf nicht-absehbare Zeit.

    Ein weiterer Trend kann mit dem viel-zitierten Stichwort „War-for-talent" in Verbindung gebracht werden, meist ebenfalls in englischer Formulierung: „Gamification. Darunter versteht man den zunehmenden Anspruch, Testverfahren in ihrer Durchführung attraktiver für den Kandidaten zu gestalten. Die – um bewusst einen dritten „neudeutschen Fachbegriff zu verwenden – sogenannte „user experience soll dadurch gesteigert werden, indem nüchtern, sachlich-abstrakte Testaufgaben wie die bekannten „Raven-Matrizen (vgl. Raven 1936, und spätere Veröffentlichungen) vermieden werden. Der Bewerber soll vielmehr mit spielerischen Aufgaben in einem virtuellen Gesamtkontext seine kognitive Kompetenz unter Beweis stellen. Dazu kommen dann die erweiterten multimedialen Möglichkeiten durch Digitalisierung durch [bewegte] Bildgestaltung, Ton und andere kreative Elemente.

    Abschließend soll noch eine zusätzliche Entwicklung angesprochen werden, welche die fortschreitende Digitalisierung von Testverfahren begleitet. Als Weiterentwicklung der klassischen Testtheorie (Gulliksen 1950) strebten Testverfahren nach der „Item-Response-Theorie, kurz IRT, (vgl. u. a. Moosbrugger 2006) danach, die darin enthaltenen Konstrukte als sog. „latente Dimension möglichst trennscharf und präzise zu erfassen. Ungeachtet der damit verbundenen unübersehbaren Vorteile lässt sich mittlerweile aber konstatieren, dass sich psychometrische Verfahren neben eng umgrenzten Inhalten auch zunehmend breiteren Konzepten zuwenden. Dies manifestiert sich in diesem Buch insbesondere in den Kapiteln von Bacher et al. und von Rüdiger. Mit den dort vorgestellten Testverfahren soll nicht weniger als die Digitalkompetenz oder digitale Führungseignung erfasst werden. Dabei liegt es auf der Hand, dass es sich dabei – wie bei Führungsfähigkeit allgemein – nur um ein Kompetenzbündel handeln kann, dass sich aus verschiedenen Fähigkeitsfeldern zusammensetzt. Auch wenn damit ein Stück weit die Treffschärfe im Sinne der IRT reduziert wird, steigt damit andererseits der Anspruch an das Verfahren im Sinne seiner Breitbandigkeit und damit auch einer erweiterten Alltagstauglichkeit.

    1.2 Zusammenfassende Einführung in die Einzelkapitel

    Anschließend an diese Heranführung an das zunehmend digitalisierte Instrumentarium der Management-Diagnostik soll als nächster Schritt in der Folge eine zusammenfassende Beschreibung der Einzelkapitel vorgenommen werden. Diese erfolgt sehr bewusst aus einer sachlich-neutralen Perspektive und will allein der Darstellung des jeweiligen Autors bzw. seines Teams gerecht werden. Nicht angestrebt bzw. vorgesehen ist damit eine kritische Würdigung oder gar eine Wertung des jeweiligen Kapitels. Hierzu wird der geneigte Leser von sich aus ermutigt, und vergleichbar mit Kunstwerken dürfte dabei die „Schönheit im Auge des Betrachters" liegen. Allemal bietet jedes Einzelkapitel der Leserschaft eine Chance, sich mit einer bestimmten Facette digitaler Eignungsdiagnostik auseinander zu setzen, das vollständige Bild ergibt sich (wenn überhaupt) erst durch die Gesamtheit der Einzelabschnitte.

    1.2.1 Brandt, Schöffel und Justenhoven: Digitalisierung des Interwies bei Aon, vormals cut-e

    Im ersten Einzelbeitrag dieses Herausgeberbandes geht das Autorenteam Brandt, Schöffel und Justenhoven der Frage nach, in welcher Weise sich das Interview in Zukunft „digitalisieren lässt. Dabei wird in diesem Kapitel zunächst einmal auf die Rolle des Interviews allgemein, dann aber rasch insbesondere auf zeitversetzte Vorstellungsgespräche hingewiesen. Bei dieser bezüglich Zeit und Ort unabhängigen Variante interagiert der Bewerber nicht direkt mit Interviewern, sondern er liefert eine „statische Aufzeichnung, die aber auf einer meist sehr persönlich gehaltenen direkten Ansprache, ebenfalls über Bild und Ton basiert. Damit wird die erlebte Fairness als Gegenseitigkeit zwischen Bewerbern und Unternehmensvertretern erhöht, auch diese zeigen sich der Kamera. Doch neben solchen Vorzügen diskutieren die Autoren auch die unvermeidlichen Nachteile dieser Technologie, basierend auch auf einer Reihe einschlägiger Studien zu diesem Thema. Zusammenfassend halten sie zeitversetzte Interviews insbesondere für eine frühe Screening-Phase für ausgesprochen hilfreich und zukunftsträchtig, aber sie werden auch in Zukunft das persönliche Kennenlernen samt der „Positiv-Personalentscheidung" für einen Bewerber nicht [gänzlich] verzichtbar werden lassen.

    Besonders plastisch wird die Darstellung anhand eines konkreten Fallbeispiels als sogenannter „Best-Practice Weg" für den effektiven Einsatz von dieser Interview-Technologie auf Grundlage einer profunden Anforderungsanalyse, anhand derer dann erfolgskritische, situative Interviewfragen abgeleitet werden. Im konkreten Fall resultierten daraus sechs Einzelfragen, für jede Frage mindestens zwei der acht vorab definierten Kompetenzen. Als Prozessbestandteil im Rekrutierungsvorgang ersetzt das zeitversetzte Video-Interview dann beim Kunden die sonst üblichen Vorab-Telefoninterviews im Vorfeld des zentralen Assessment Centers.

    Einen interessanten Querbezug ermöglicht die von Stephan Weinert einige Kapitel später vorgestellte Möglichkeit, in das Video-Interview eine komplexe Fallstudie samt standardisierter Beurteilungsvorgabe einzubauen. Damit berührt die „Welt der (zeitversetzten) Gesprächssituation die Auswahlmöglichkeiten klassischer AC-Übungsformate. Damit findet sich ein weiterer Hinweis auf die Sinnhaftigkeit der Multi-Modalität, denn die vermeintlichen Alternativen „Interview oder „Assessment-Center stellen auch im digitalen Zeitalter eine ideale Kombination anstelle harter „entweder – oder-Alternativen dar. Die in diesem konkreten Bespiel von Brandt, Schöffel und Justenhoven vorgestellte dezentrale Fallstudie eignet sich insofern besonders als Ergänzung bzw. Vorab-Filter des eigentlichen Assessment Centers, da sie bei Präsenzveranstaltungen im Vergleich zu anderen AC-Übungen mit außergewöhnlich viel Vorbereitungszeit verbunden ist. Zwar steigt bei solchen „außerhäusig durchgeführten Aufgaben im Vergleich zur „Vor-Ort-Bedingung das Risiko, dass diese durch Screenshots und andere technische „Kniffe abfotografiert und – z. B. in ausgewählten Foren – einer größeren Gruppe unrechtmäßigerweise zugänglich gemacht werden. Anderseits darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich um einen Bestandteil für ein Auswahlverfahren handelt. Daher dürfte ein überschaubares Interesse erwartet werden, eigene Konkurrenten durch gezielte und anschließend geteilte Indiskretionen „aufzuschlauen und ihnen dadurch Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.

    Besondere Relevanz erhält der Text von Brand samt Ko-Autoren durch den Verweis auf „künstliche Intelligenz als weitere Ausbaustufe bei der Prüfung von Video-Interviews. Dabei wird dann eine automatisierte Analyse von unstrukturierten Daten aufgrund „lernender Algorithmen vorgenommen. Wie eine solche Lösung bereits heute ausgestaltet sein kann, wird dabei unter Kap. 16 im PRECIRE-Kapitel eindrucksvoll vorgestellt. Als künftige „Zukunftsmusik" und weitere Ausbaustufen werden noch video-basierte Referenzen genannt, ein interessanter Querverweis zu Kap. 13. Andere Möglichkeiten sind video-basierte Stellenanzeigen bis hin zu vollwertigen Video-Assessment-Centern.

    1.2.2 Leutner und Aichholzer: Digitale Video- und Spiel-Assessments: Psychometrie und Maschinelles Lernen

    Leutner und Aichholzer von dem international operierenden, aber US-stämmigen Unternehmen HireVue verwenden durchgängig den Begriff „Assessment" für die von ihnen ermöglichte Form der Management-Diagnostik. Unter diesem Label können dann insbesondere solche Weiterentwicklungen zusammengefasst werden, die aus konventionellen psychometrischen Testverfahren hervorgegangen sind. Ein zentrales Element dabei ist die inhaltliche Vielfalt an Aufgaben, die sich unterscheidet von den eher schlichten, meist sogar abstrakten Items im Rahmen konventioneller Leistungstests oder pauschalen Aussagen wie „Ich gehe abends gerne aus!" innerhalb von klassischen Persönlichkeitsfragebögen. Viele dieser Möglichkeiten ergeben sich dabei erst durch die video- bzw. IT-basierte Darbietung des Assessments, die eine ganz andere Dynamik entfalten kann als ein üblicher Papier-Bleistift-Ankreuztest. Eng verknüpft mit diesem Unterscheidungsmerkmal ist die zuvor schon angesprochene „Gamification". Dies bedeutet, dass die vormals zuweilen etwas nüchtern-„drögen Fragebögen zunehmend in spielerischer Form dargeboten werden. Sie gewinnen damit an Attraktivität samt Aufforderungscharakter für den Probanden, ohne aber an wissenschaftlicher Prägnanz und Aussagekraft einzubüßen. Damit können in einer oft „Augenschein-validen, weil realitätsnahen virtuellen Testumgebung in meist kürzerer Zeit mehr relevante Parameter erfasst werden, als dies bei Ankreuzverfahren der Fall war. Diese Effizienzsteigerung erhöht damit auch die Akzeptanz vonseiten des Kandidaten (sog. „user-experience"), sozial erwünschtem Verhalten wird gleichzeitig entgegengewirkt.

    Leutner und Aichholzer machen in ihrem Kapitel deutlich, dass an die Konstruktion solcher digitalen Assessments ganz andere Anforderungen gestellt werden als an eine vormals übliche Testentwicklung: Zunächst werden Prognosemodelle entwickelt, um relevante Zielvariablen vorauszusagen. Künstliche Intelligenz und Algorithmen können zusammen mit menschlichen Rater-Urteilen die Zielkonstrukte zu beschreiben helfen, bevor diese mithilfe geeigneter Vorhersagemodelle weiter spezifiziert werden. Abschließend muss dann die Validität des so gewonnenen Verfahrens

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