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Die Zufluchtsoase
Die Zufluchtsoase
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eBook344 Seiten5 Stunden

Die Zufluchtsoase

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Über dieses E-Book

Sommer 2015, irgendwo in Deutschland: Als Leonie und ihre Freunde ein hochbetagtes verwahrlostes Ehepaar aus dessen Bauernhaus retten, ahnen sie noch nicht, dass aus diesem eine Flüchtlingsunterkunft wird.
Umso grösser ist ihre Freude über die Chance, dort mitzuarbeiten!
Doch als die rechtmäßige Erbin dieses Bauernhauses, eine junge Alleinerziehende, vor ihnen steht, beginnt ein Kampf zwischen verschiedenen Wertvorstellungen, der unter anderem finstere Geheimnisse enthüllt....
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum7. Aug. 2017
ISBN9783745009286
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    Buchvorschau

    Die Zufluchtsoase - Weise Meise

    Die Zufluchtsoase

    1. Kapitel: Hilfreiche Entdeckungen

    2. Kapitel: Der Beginn eines Abenteuers

    3. Kapitel: Träume und Erinnerungen

    4. Kapitel: Zukunftsplanung

    5. Kapitel: Allerhand Geschenke

    6. Kapitel: Familienzuwachs

    7. Kapitel: Allerhand Zivilcourage

    8. Kapitel: Gewissensbezogene Motivationstherapie

    9. Kapitel: Terror

    10. Kapitel: Unterwegs

    11. Kapitel: Das Gruseltheater

    1. Kapitel: Hilfreiche Entdeckungen

     »Also dies muss ich noch auskundschaften, bevor wir in die Stadt zurückfahren«, grölte Leonie und schritt schnurstracks auf das geheimnisvolle alte Bauernhaus zu. Sie und ihre beiden besten Freunde Cem und Victor hatten das Wochenende in der stillen Natur genossen. Der Zufall hatte ihnen einen idealen Zeltplatz am Seeufer, unterhalb eines üppigen, grünen Wiesenhügels unmittelbar am Waldesrand beschert! Nach zwei Nächten draussen im Wald am Lagerfeuer fühlten sie sich zwar etwas müde, dafür aber umso glücklicher: Die Stimmung ausserhalb dieses Dorfes ist ja so friedlich und vor allem- tiefenentspannt: Die Wiesen leuchten in allen möglichen saftigen Grüntönen, die Vögel zwitschern allerhand fröhliche Melodien und wenn man das Auge in die Weite schweifen lässt, könnte man meinen, dass es sonst nichts auf dieser Welt gäbe. Ausser eben das alte Bauernhaus, das einem durchaus unheimlich werden kann, wenn man es aus der Nähe betrachtet. Cem und Victor schritten schweigend Leonie hinter her, weil sie wussten, dass alles andere zwecklos ist: Leonie gehört zu den Menschen, die bereit sind Risiken einzugehen, um ihre Neugier zu stillen, Spass zu haben oder sich für einen guten Zweck einzusetzen. Kurz bevor sie auf dem erdigen Vorplatz des Bauernhauses ankamen, steckte sie ihre rotblonden, wilden Locken mit einer Haarspange hoch, band sich den dunkelblauen Pulli um die schmalen Hüften und nahm einen kräftigen Schluck Mineralwasser. Cems tiefbraune Augen blitzten vor Vergnügen als sie ihn verstohlen anlächelte: »Brauchst du noch eine kleine Stärkung vor der letzten Entdeckungstour?« Er bot ihr und seinem Freund die restlichen Chips an. »Ich hätte fast lieber noch ein Bier«, keuchte Victor lachend und musterte das Haus von oben bis unten. »Wer weiss, vielleicht kriegen wir sogar noch einen selbstgebrannten Obstler.« Während sie die letzten Kekse und Chips vertilgten und die Petflaschen leerten, drangen plötzlich seltsame Schreie aus dem obersten Fenster des Hauses: »Nein! Ich kann doch nichts dafür! Bitte nicht! Bitte nicht!« Cem zuckte zusammen und wurde kreidebleich. Leonie lief zur Hochform auf: »Zu blöd, dass ich nicht mehr Proviant besorgt habe, was?«, scherzte sie. »Lasst uns verschwinden, dies ist echt nicht mehr lustig«, schlug Victor vor und war im Begriff wegzurennen. »Lustig nicht, aber dafür umso wichtiger«, strahlte Leonie und versuchte vergeblich, die schwere, von innen verschlossene Holztür zu öffnen: »Hier braucht ganz offensichtlich jemand Hilfe. Kommt mit!« Die beiden Freunde sahen sich ratlos an und folgten ihr. Sie rannte instinktiv hinters Haus, wo sie richtigerweise einen Hintereingang vermutete: Dann ging es die Treppe hoch ins Obergeschoss. Links und rechts türmten sich Müllberge aus Zeitungen, Zeitschriften und unzähligen Schachteln in allen Formen und Farben und sonstige zahlreiche Gegenstände zu Müllwänden. Der Holzboden knarrte und klebte, die Luft war erfüllt vom Staub, den ihre Schritte aufwirbelten und von aufgestautem, längst liegengelassenem Schmutz. Als sie auf dem Flur ankamen, hörten sie eine Stimme flüstern »Bssssst, jetzt musst du ganz still sein, dann geschieht uns nichts, bsssst«, dann kehrte die gespenstische Stille zurück. Leonie drehte sich zu den Jungs um und flüsterte: »Höchstwahrscheinlich sind die Leute in diesem Zimmer hier«, und deutete auf die letzte Tür am westlichen Ende des Flurs. »Wir machen den Leuten doch nur Angst, lasst uns endlich hier verschwinden, bevor wir Ärger bekommen«, antwortete Victor. Cem nickte schweigend. »Jungs! Wer in solcher Not lebt ist sicher nicht gefährlich.« Das Augenrollen der Jungs hielt sie nicht davon ab, ihren Monolog zu Ende zu flüstern: »Oder wenn hier zum Beispiel eine Frau zusammengeschlagen wird und dabei draufgeht, weil ihr niemand hilft, werden wir unseres Lebens nicht mehr froh! Wollt ihr das etwa?!« Die geflüsterte Diskussionsrunde wurde jäh unterbrochen: »Raus hier, aber zackig!«, schrie eine uralte Männerstimme aus dem Dunkeln. Vor ihnen stand ein sehr alter, kleiner Mann mit langen weissen Haaren, der mehr waagrecht, als aufrecht gehen konnte. Im ebenso langen Bart klebte noch das Frühstücksei vom Vortag, das weisse Hemd war mit allerlei bunten Flecken übersät und die Kniestellen bei den braunen Manchesterhosen waren weiss vor Staub. »Ganz ruhig. Wir wollen Ihnen nichts böses. Wir haben Schreie gehört und machen uns Sorgen, um Sie«, begann Cem als erster. Alle drei standen einfach mit erhobenen Händen da und hatten nicht den Nerv, irgendwie davonzulaufen. »Ich bin der Cem und das sind meine Freunde, Leonie und Victor«, begann Cem die Wogen zu glätten. Der Opa nahm sein Gewehr runter. »Und was zur Hölle habt ihr hier in meinem Haus verloren?!« - »Wir haben Schreie gehört und dachten, dass Sie vielleicht Hilfe brauchen. Leben Sie alleine hier?«, versuchte Leonie den Opa weiter zu beruhigen. »Nein. Ich lebe hier mit meiner Frau«, zischte dieser. Victor versuchte den Schreien weiter auf den Grund zu gehen: »Hat Ihre Frau Sie irgendwie geärgert, oder haben Sie sich gestritten?« Der Opa wurde wieder laut: »Was geht's dich an, Junge? Du wirst auch noch merken, dass die Weiber im Alter faul und seltsam werden.... « Victor ging ein paar Schritte rückwärts und nickte eifrig. Dabei zuckte er mit den Schultern und blickte Leonie verzweifelt in die Augen. Der Opa war so in seinen Vortrag vertieft, dass seine volle Aufmerksamkeit voll und ganz dem liebevoll lächelnden Victor galt und ihm das Gewehr auf den Boden fiel. Leonie und Cem nutzten die Gelegenheit, drängten sich am Opa vorbei und rannten ins Schlafzimmer: Die Oma lag im Bett und versuchte im Liegen und ganz ohne Schreibunterlage, etwas in ihr Notizbuch zu schreiben. Leonie und Cem setzten sich zu ihr auf den Bettrand: »Guten Abend, ich bin die Leonie Krug und das ist einer meiner besten Freunde, Cem Rabia.« Die Oma schrieb völlig unbeteiligt weiter an ihren Notizen. Ihre restlichen schütteren, schneeweissen Haare waren völlig zerzaust und klebten wie weisse Regenwürmer an ihrem fast kahlen Kopf. Aus einem nimmermüden, von einem schweren Leben gezeichneten Gesicht blickten die wässerigen stahlblauen Augen verträumt ins Notizbuch. Der schmale Mund lächelte ununterbrochen zahnlos. Ein heillos verschmutztes rosafarbenes Nachthemd hing am völlig abgemagerten Körper. Leonie räusperte sich und berührte die Schreibhand der Oma. Bevor sie irgendwie weiterreden konnte, liess diese ihr Schreibzeug fallen und sah sie verwundert an: »Lisi! Komm wir gehen ein Glas Honigmilch trinken!«, meinte sie und streichelte ihr übers rotblonde Haar. Victor kam mit dem Gewehr an der Schulter und dem Opa ins Schlafzimmer hinein. »Wir haben uns versöhnt. Ich konnte den Willi überzeugen, dass wir ihm und seiner Wiltrud nichts böses wollen.« Leonie strahlte abenteuerlustig in die Runde, während Cem seinerseits zusammenfasste: »Unserer Wiltrud scheint es soweit gut zu gehen- sie ist mit ihren Notizen beschäftigt und will ˃Lisi˂ und mir eine Honigmilch servieren«, erklärte Cem auf Leonie deutend. Der Opa klopfte Victor auf die Schulter: »Bitte entschuldigt, dass ich euch für Verbrecher hielt: Aber meine Frau ist manchmal ganz schön verwirrt. Und dann redet sie wirres Zeug und schreit wirres Zeug. So ist das halt mit uns Alten.« Dann wurde sein spindeldürrer Körper vom nächsten Hustenanfall durchgeschüttelt. Er putzte sich die Nase, richtete sich auf und küsste seine Wiltrud auf die Stirn: »Aber ich würde ihr niemals weh tun.« Leonie wollte die spontane Hilfsaktion vorantreiben: »Was meinen sie, Wiltrud? Wollen wir gemeinsam aufstehen, um uns in der Küche eine Honigmilch zu machen? So eine leckere Spezialität vom Land haben meine Freunde noch nie gehabt und würden sich freuen, dies mal zu kosten?« Sie reichte ihr beide Hände, die sie dankbar ergriff und drückte. »Wisst ihr was, Jungs, geht doch schon mal vor, wir kommen gleich nach.« Die drei Herren verliessen den Raum und machten sich auf in die Küche. Wiltrud klagte über Schmerzen am ganzen Körper und sackte immer wieder in die weichen Kissen zurück. Daraufhin schlug Leonie vor, dass sie sich ganz entspannt auf den Rücken legte, und sie sie ganz behutsam auf die eine Seite und dann auf die andere Seite drehte. Dann würde sie ihr schmerzstillenden Tigerbalsam einreiben. Wiltrud war natürlich begeistert. »Vielleicht hätte ich doch besser Pflegewissenschaften studieren sollen«, schoss es ihr durch den Kopf, als sie die zahlreichen wunden Druckstellen entdeckte. »Diese Leute hier sind nicht bloss in einer echten Notsituation, sondern auch echt dankbar.« Die Tür sprang auf und Cem streckte den Kopf herein, fiel fast in Ohnmacht vor Schreck, als er die halbnackte Wiltrud entdeckte, schlug die Tür wieder zu und stammelte durch den Türspalt: »Na, meine Damen? Alles klar bei Euch?« - »Nun, ich fürchte, wir müssen die Honigmilch ein andermal trinken kommen«, rief sie durch den Türspalt. »Wir sind gerade wahnsinnig beschäftigt, warte.« Sie legte Wiltrud auf die rechte Seite zum Fenster in die Kissen zurück und ging vor die Tür. »Dies hier ist echt krass. Sie hat sich am ganzen Körper wundgelegen. Lass uns einen Krankenwagen rufen, damit die beiden endlich mal anständig versorgt und gepflegt werden. Das dies in unserer Gesellschaft noch vorkommt ist nun wirklich ein echtes Armutszeugnis.« Cem nickte und antwortete lächelnd: »Genau das hat Victor gerade eben getan.« Die beiden klatschten ab, der Rettungswagen traf ein und die Brandners waren gerettet.

    In diesem Moment erfreuten sich auch noch andere am Naturtrip der drei: »Schaut mal, das sind die aktuellsten Naturbilder meines Sohnemannes, die er soeben auf Facebook hochgeladen hat: Das letzte davon erinnert mich jetzt aber an die Abschlussballparty bei dir zu Hause damals, Lis, als wir die Dorfschule hinter uns liessen«, strahlte Mathea, während sie ihr Handy herumreichte. Sie und ihre drei besten Freundinnen liessen gerade ihre alljährliche Wellnesswoche bei einem Nachtessen in einem der leckersten Restaurants der Stadt ausklingen und warteten auf die Rechnung. Die Ladies waren entzückt: Victors Profilbild war zur Zeit ein tosender Wasserfall, hinter dem man über eine Eisenbrücke von einem Felsenende zum anderen gehen kann! Dann folgte der besagte, aktuellste Post: Ein sanfter üppig grüner Hügel, mit einem unverkennbaren geheimnisvollen, hölzernen Bauernhaus darauf, das auf Anhieb mehr wie eine Hexenvilla anmutet. Daneben der dichte dunkelgrüne Tannenwald, der die Idylle wie ein Schutzwall abgrenzt. Darunter ein heller Kiesweg, auf dem es sich wunderbar walken und joggen lässt. »Schön, dass auch Victor mit seinen Freunden in der Natur auftanken kann«, antwortete Elisabeth mit einem gequälten Lächeln: Denn so wunderschön diese Naturbilder waren, so entsetzlich waren die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, die sie hervorriefen. Sie versuchte verzweifelt, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich der Sohnemann ihrer besten Freundin in einer Gegend vergnügt, die sie einfach nur hinter sich lassen und vergessen wollte. »Ist alles okay, Lis? Das ist doch der Hof deiner Eltern?!« Kirsten sah sie mit ihren treuen braunen Rehaugen fürsorglich von der Seite an. »Jetzt wo du's sagst erkenne ich ihn auch wieder«, stiess Elisabeth hervor. »Es ist halt gar lange her, seit wir diese Party geschmissen hatten. Bevor wir in die Stadt zogen, um zu studieren, musste ich den Sommer lang bei der Heuernte helfen, und zwar sieben Tage die Woche.« - »Wieso hast du das uns nicht erzählt, Mensch«, bedauerte Mathea ihre Freundin »wir hätten dir bestimmt alle geholfen.« - »Vielleicht hätten uns meine Eltern gleich alle auf dem Feld abgeholt, damit wir im Sonntagsgottesdienst wenigstens etwas hätten schlafen können«, lachte Jutta, wobei sich ihr kugelrundes Gesicht vor Wonne rötete. »Wann bist du das letzte Mal an diesem schönen Ort gewesen?«, wollte Kirsten wissen. »Das ist leider bereits einige Wochen her, seit ich es mal wieder zu ihnen schaffte.« Elisabeth machte eine Pause und schien zu überlegen. »Es ist auch nicht wirklich einfach, seine Familienangehörigen regelmässig zu sehen, bei unseren Monsterpensen als Chirurginnen.« - »Kommen die beiden noch gut alleine zurecht in diesem grossen Haus?«, bohrte Jutta als erste weiter. »Als wir sie damals vor ewig langer Zeit an unserer weitherum bekannten Schulabschlussparty das einzige Mal sahen, machten sie mir einen sehr zähen, bodenständigen Eindruck«, plauderte Mathea weiter. »Sie kam gar nicht aus dem Schwärmen über ihren Alltag als Bauernfrau heraus.« - »Da hast du allerdings Recht. Ohne ihre Zähigkeit hätten sie die ganze Arbeit nicht stemmen können. Das hat den Vorteil, dass sie in ihrem hohen Alter noch geistig und körperlich fit genug sind, um dort alleine leben zu können. Die Leiterin des örtlichen Hauspflegedienstes erzählte mir neulich, wie sie und ihre Mitarbeiterinnen jede Woche mit einem leckeren Stück Kuchen empfangen werden, wenn sie den beiden die Wocheneinkäufe bringen, um nach ihnen zu schauen.« Mathea runzelte die Stirn: »Wollte diese Aufgabe nicht deine jüngere Schwester übernehmen? Die lebt doch seit Ewigkeiten in derselben Gemeinde und arbeitet halbtags?« - »Doch, das hat sie eine Zeit lang bestimmt grossartig gemacht«, lächelte Elisabeth zerknirscht, »aber sie soll sich dermassen daneben aufgeführt haben, dass sie von ihrem Robert rausgeschmissen wurde. So jedenfalls erzählte es mir ihre Nachbarin, als ich sie das letzte Mal besuchen wollte und sie nicht da war.« Kirsten lachte auf: »Ich werde nie vergessen, wie wir alle vier irgendwann vor unserer Abschlussparty mal bei dir übernachteten, Lis: Sie meinte doch tatsächlich, sie könne sich ein Laken über den Körper werfen, einen auf Gespenst machen, und uns damit erschrecken.« Jutta lief der Sekt vor Lachen zur Nase raus: »Oh ja, das war was: Wir waren mucksmäuschenstill und sahen ihr oben vom Heuboden aus zu, wie sie durch den Stall geisterte und dabei über ihren Umhang stolperte.....« - »....und als sie sich dann doch noch dazu durchgerungen hatte, hoch auf den Heuboden zu kommen, schrie ich dermassen laut Buh, dass sie vor Schreck die Laterne fallen liess«, vervollständigte Kirsten den witzigen Part der Erzählung. »Weil ich in dieser Nacht mit sowas rechnete, ergriff ich sofort den Feuerlöscher und behob die drohende Katastrophe«, lächelte Elisabeth. »Unsere Eltern wurden so sauer, dass sie unser Ruthchen einen Monat lang jeden Abend das Geschirr alleine spülen und abtrocknen liessen. Anstatt den Fehler einzusehen und den Geschirrberg schnellstmöglich abzutragen, heulte sie jeweils erst mal eine Stunde lang rum«, schloss sie. »Wenn sie sich bei ihrem Robert, auch so aufgeführt hat, wundert es einen nicht, dass diesem der Geduldsfaden riss«, lästerte Kirsten weiter. Elisabeth lächelte schadenfroh. »Das ist nicht alles, was ich von meinem Schwesterlein erfahren habe: Denn dieselbe Nachbarin erzählte mir noch, dass sie daraufhin ans andere Ende des Landes ziehen wollte. Sie habe das alleinige Sorgerecht für ihre extrem schwierige Tochter und werde diese zur Adoption freigeben. Und dass obwohl das Mädchen bereits dreizehn Jahre alt ist.« - »Soso«, lästerte Kirsten »hat sie sich dort etwa den nächsten anlachen und vor der Pubertät ihrer Tochter davonlaufen wollen?«, schloss sie lachend, während der Kellner einkassierte und sie sich auf den Heimweg machten.

    Elisabeth liefen die Tränen runter, als sie die paar Meter alleine nach Hause ging: Obwohl es nun so ungefähr neun Jahre her war, seit sie das letzte Mal etwas von ihrer Herkunftsfamilie hörte, schmerzte diese längst vergangene letzte Begegnung immer noch. Weil sie dieser jedoch keinen Raum geben wollte in ihrem gegenwärtigen Leben, wusste sie sich in diesem Augenblick nicht anders zu helfen, als schadenfrohe Lügengeschichten aufzutischen. »Es ist nicht nötig, dass ich meine Freunde oder sonst jemanden mit der für sie völlig irrelevanten Wahrheit belaste«, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass es nun über zwanzig Jahre her ist, seit sie ihre einzige Schwester das letzte Mal sah. An diesem Tag war sie auf den Bauernhof gefahren und hatte für diesen besonderen Besuch sogar eine Schwarzwäldertorte besorgt. Der Zufall hatte es so gewollt, dass ihre Schwester auch da gewesen war und tränenüberströmt erzählt hatte, dass sie einfach nicht schwanger würde. Noch bevor sie ihrer Familie voller Stolz erzählt hatte, dass sie nun approbierte Ärztin sei und ihr die Arbeit als frischgebackene Assistenzärztin in der Chirurgie sehr viel Spass bereitete, hatte sie ihre Schwester deshalb zu trösten und aufzumuntern versucht. Darum hatte sie keine Ahnung, ob irgendwo auf dieser Welt Nichten oder Neffen von ihr sind, die ihr vielleicht sogar ähnelten.

    Inzwischen hatte Leonie ihrer Familie von diesem unvergesslichen Outdoortrip vorgeschwärmt. Ihr kleiner Cousin Svennie und seine jüngere Schwester Chantal kriegten den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Sogar Tante Elisabeth nickte dieses Mal anerkennend und verzichtete an diesem Abend auf ihre Mithilfe im Haushalt. So überglücklich wie sie an diesem Abend ins Bett fiel, so hundeelend fühlte sich ihr Körper plötzlich an. Die Rückenschmerzen, die sie aufs falsche Mobilisieren von Frau Brandner zurückführte, wurden so schlimm, dass sie sich entschied, eine Dafalgantablette einzuschmeissen. Schweissgebadet taumelte sie ins Bad. Dabei war ihr so schwindelig, dass sie sich unterwegs hinsetzen und eine Pause einlegen musste. »Kann man dir helfen, Leonie?«, beugte sich Onkel Richard zu ihr runter. Weil sie vor Übelkeit und Schmerzen nur stöhnen konnte, blieb sie auf dem Boden sitzen und wartete, bis er mit einem Glas Wasser und einer Dafalgantablette zurückkam. »Gut, dass ihr diesen Outdoortrip nicht kurz vor Unibeginn geplant habt, was?«, strich er seiner Nichte übers Haar und stütze sie auf dem Weg zurück ins Bett, nachdem diese ihre Tablette geschluckt hatte.

    In derselben Nacht zogen noch zwei weitere Abenteurerinnen eine ihrer Gerechtigkeitsaktionen durch: Tina hätte am liebsten gekreischt vor Vergnügen, als Tati das Türschloss wie ein Profi aufbrach. »Siehst du, allerspätestens jetzt hat sich deine Schlosserlehre doch noch gelohnt«, klopfte sie ihrer Freundin anerkennend auf die Schulter. »Zu meinem perfekten Glück müssen sie jetzt nur noch lange genug ausgeschwärmt sein, los, los, los, bevor uns doch noch jemand sieht«, schob Tati sie ins Büro des mobilen Pflegedienstes Bestcare. Dieses Büro ist so übersichtlich strukturiert und tadellos aufgeräumt, damit sich neue Mitarbeiter schnellstmöglich zurechtfinden. Deshalb fanden auch Tati und Tina innert weniger Minuten, wonach sie suchten: Während Tina allerhand Personal- und Patientendaten auf ihren Memorystick lud, behielt Tati den Eingangsbereich im Auge. »Ist die Luft noch rein?«, flüsterte Tina, während sie den PC wieder runterfuhr. Tati gab grünes Licht und sie plünderte die Kaffeekasse. »Schon irgendwie blöd, wenn man Opfer wird vom eigenen positiven Menschenbild, was«, lächelte sie, als sie auf ihren Fahrrädern davonbrausten.

    Zu Hause angekommen, setzten sie sich vor ihren Laptop und begannen, ihre Beute gleich auszuwerten. »Bist du sicher, dass du sie vernichten willst«, fragte Tina, als sie sich als erstes die Personaldossiers vorknöpften. »Es sieht immerhin so aus, als hätten sie dazugelernt und der Ex deines Verstorbenen fristlos gekündigt.« Tati schluckte und schwieg einen Augenblick lang. »Lass uns weitersuchen. Ich fühle einfach, dass es für uns noch etwas zu erledigen gibt und wir unseren Arsch heute nicht umsonst riskiert haben. ̋ Nach einer Flasche Bier mit einer Tüte Chips machten sie mit ihrer Datenauswertung weiter. »Es ist doch immerhin tröstlich zu wissen, dass dein Verstorbener offenbar ein tragischer Einzelfall war, findest du nicht?« Tatis blasses Gesicht zeigte plötzlich ihre ganze Müdigkeit: »Du kennst mich doch. Ich kann mit einer Sache erst abschliessen, wenn ich ihr auf den Grund gegangen bin. Zweitens finde ich genau solche Einzelfälle am fiesesten: Da werden einzelne Menschen für völlig kranke und perverse Gewaltfantasien benutzt, die sich nicht wehren können. Gerade weil es ˃nur˂« ,bei diesem Wort symbolisierte sie mit beiden Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen »Einzelfälle sind, kriegen andere diese hässliche Seite gar nicht mit und können sie nicht verurteilen- geschweige denn etwas dagegen unternehmen.« Sie machte eine Pause und wäre am liebsten schlafen gegangen. »Lass uns dieses Ding zu Ende bringen.«

    »Na, habe ich dir zu viel versprochen?«, gähnte Tati, als sie die letzte Patientenakte aus dem Archiv durcharbeiteten und in Tinas hellwaches begeistertes Gesicht blickte. »Schau! Wenn das nichts für uns ist, dann weiss ich auch nicht mehr weiter! Da geht es um zwei uralte Leute und ihre beiden Töchter: Da schreibt die eine Tochter in einem eingeschriebenen Brief, dass sie, die Ruth Buschke-Brandner, die Pflege ihrer Eltern nun gemeinsam mit ihrer Schwester, der Elisabeth Brandner stemmen würde und die Hilfe des Pflegedienstes nun nicht mehr bräuchte. Und zwar hätte sie genau aus diesem Grund ihren Job als Pflegefachfrau gekündigt und ihre Schwester, würde auch nur noch halbtags arbeiten.« Sie hielt ihr das Schriftstück mitten unter die Nase und Tati verstand immer noch nicht, weshalb ausgerechnet diese letzte Akte ein Fall für sie sein sollte. »Kann es sein, dass du dies alles nur aus purer Langeweile machst, um keine Bewerbungen schreiben zu müssen?«, versuchte sie ihre Freundin zu bremsen. »Nein! Ich mache dies, um die Zeit möglichst sinnvoll totzuschlagen, das weisst du ganz genau!« Sie liess Tati kurz durchatmen, bevor sie fortfuhr: »Schau: Der erste Grund, weshalb mir die Nackenhaare zu Berge stehen, ist die Tatsache, dass die eine Schwester immer in der Ich-Form schreibt: Ich meine, wenn man zu zweit einen Brief schreibt, heisst es doch immer ˃wir˂ , oder?« Tina war so in ihrem Element, dass sie erst jetzt zu realisieren begann, wie fertig ihre Freundin war. »Was ist überhaupt mit dir los?«, versorgte sie sie mit einem Glas Wasser. Tati lief eine Träne runter, worauf Tina ihr sofort ein Taschentuch reichte und den Arm um sie legte: »Du hast ja Recht. Schliesslich war es meine Idee. Aber die Erinnerung tut einfach zu weh.« - »Versehe, verstehe«, nickte Tina, wobei ihre Stimme wieder sanft und weich wurde »das tönt nicht nur wie der Refrain eines Liebeskummersongs, sondern fühlt sich auch so an.« Sie sassen einfach nur da und schwiegen. Einen Augenblick später war Tati eingeschlafen. Sie sah sich den Brief, den sie Tati vorhin unter die Nase hielt nochmals genau an und überlegte: Die Unterschriften der beiden Schwestern auf diesem Brief sahen wirklich beinahe gleich aus. Tina kam es vor, als hätte diese Ruth Buschke-Brandner einmal für sich selbst und einmal für ihre Schwester gleich mit unterzeichnet- ohne diese zu fragen. Sie hatte auch schon von Seelenverwandtschaften gehört, die zwei Menschen dieselbe Schrift und Unterschrift haben liess. Wenn sich diese beiden Schwestern jedoch überhaupt nicht nahe standen, eine der beiden Unterschriften gefälscht war und der Brief der Schlüssel zu einem Verbrechen war, könnte sie es sich niemals verzeihen, der Sache nicht auf den Grund gegangen zu sein. Deshalb recherchierte sie weiter und stellte fest, dass es zu den ehemaligen Patienten, zu Wiltrud und Wilfried Brandner noch keine Todesanzeigen gab. Und so schwor sie sich, ihre Freundin zu überreden, gemeinsam mit ihr herauszufinden, ob das Versprechen dieses Briefes eingehalten wird.

    »Ich habe nie an deinem Instinkt gezweifelt«, strahlte Tati, als sie beide am nächsten Tag von der Mittagssonne geweckt wurden. »Aber das es gleich eine Aktion sein wird, die sich von der Romanze zum Drama in drei Akten entwickeln kann, hätte ich natürlich niemals erwartet.« Die beiden stärkten sich mit einer Pfanne voll Rührei mit Speck, gingen sämtliche Akten durch, besprachen ihre Vorgehensweise und machten sich auf den Weg. »Dass es in unserem Dorf auch Drehorte für Gruselfilme gibt, hätte ich niemals erwartet«, kicherte Tina, als sie an ihrem nächsten Wirkungsort, wie sie es so schön nannten, ankamen. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir bereits in unserem ganz eigenen Gruselfilm stecken«, meinte Tati, als sich die knarrende Haustür zu dieser geheimnisvollen »Hexenvilla« ohne weiteres öffnen liess. Schockiert schritten sie durch den meterhoch gestapelten Müll und stellten fest, dass ihnen jemand zuvorgekommen sein musste und die Brandners aus ihrem Elend befreit waren- auf welche Art und Weise auch immer.

    So unbeschwert und entspannend die Wellnesswoche war, so niederschmetternd wurde Dr. Elisabeth Brandner vom Alltag empfangen und wieder in Beschlag genommen. Sie hatte es gerade eben geschafft, nach einer anstrengenden Schicht im Operationsaal nach Hause zu gehen, um als erstes ein kühles Bad zu nehmen. Nun genoss sie auf dem Balkon ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung die etwas weniger heisse Nachtluft, die von zirpenden Grillen erfüllt war und versorgte ihre zahlreichen Blumenstöcke mit Wasser. Sie trug ihren schwarzen, mit bunten Blumen bedruckten Feierabendoverall, legte sich seitlich mit ausgestreckten Beinen aufs Gartensofa und stöberte durch ihr Samsung PC-Tablet. Die hellsten Strähnchen ihrer pfiffigen naturblonden Kurzhaarfrisur leuchteten in der Abendsonne wie pures Gold. In dieser Position auf dem hellen Sofa, kamen ihre gertenschlanke Figur und ihre tiefbraune Haut so wunderbar zur Geltung, dass sie dem Nachbarn gegenüber als Model für ein Gemälde hätte dienen können. Nachdem sie eine ganze Weile lang Fotos vom vergangenen Urlaub angesehen und in den schönsten Erinnerungen geschwelgt hatte, checkte sie ihre Mails. Inmitten der zahlreichen Newsletter und einigen »wir wünschen dir nach den Ferien einen guten Start«- Messages, war da doch tatsächlich eine Nachricht der Sozialbehörden. Ihr wurde beinahe schwarz vor Augen, als sie diese anklickte: »Sehr geehrte Frau Dr. Brandner«, stand da. »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihre Eltern, Frau Wiltrud Brandner-Schmitz, geb. am 4. Juni 1936 in Köln und Herr Wilfried Brandner-Schmitz, geb. am 1. Mai 1921, in Köln, in einem völlig verwahrlosten Zustand hospitalisiert und behandelt werden mussten. Im Anschluss an den rund 24-stündigen Krankenhausaufenthalt, verlegten wir die beiden in ein Alters- und Pflegeheim, deren Adresse sie auf der beigelegten Eintrittsrechnung Juli 2015 finden. Dürfen wir Sie daher bitten, zum einen umgehend mit uns Kontakt aufzunehmen und zum anderen, beiliegende Rechnungen zu bezahlen? Für weitere Fragen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf, während sie feststellte, dass ihre Eltern in der luxuriösesten Pflegeeinrichtung der Stadt untergebracht worden waren. Sie goss sich ein weiteres Glas Mineralwasser ein und begann, diese Message zu verarbeiten. Dabei merkte sie gar nicht, wie die Zeit an ihr vorbeiraste. Weil es schliesslich schon fast Mitternacht war, traute sie sich nicht, irgendjemanden anzurufen. Also sass sie einfach nur da und liess ihre Gedanken kreisen: »Dass meine kleine Schwester, die immer bevorzugt wurde, nicht ebenfalls zur Kasse gebeten werden kann, ist mal wieder typisch«, bemitleidete sie sich selbst, während ihr die Tränen runter liefen. Ihre Traurigkeit wurde nicht besser, als sie die Nachtrichtenapps anklickte und die vielen schrecklichen Bilder von Flüchtlingskindern in heillos überfüllten Schlepperbooten sah. In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. »Hallo Mathea? Ist bei dir alles in Ordnung?«, weinte sie. »Habe ich es mal wieder geahnt, dass du eine Krise hast, meine Liebe?«, tönte es am anderen Ende. »Ich habe bloss aus einem unguten Gefühl heraus gedacht, ich schaue mal nach dir und rufe dich an. Was ist denn bloss los? Sind es die zahlreichen Überstunden oder gibt's vielleicht doch eine Hiobsbotschaft?« Sie schämte sich, dass sie noch keine zehn Sekunden vorher in Selbstmitleid über ihre Luxusprobleme badete. »Nein, nein«, meinte sie, während sie die restlichen Tränen runterschluckte. »Mir macht bloss der Wechsel von unserem genialen Wellnesstrip zum Alltag mehr zu schaffen als sonst. Ausserdem bin ich bereits jetzt wieder todmüde und habe mir gerade eben das Flüchtlingselend angesehen. Vielleicht sollten Jutta und ich uns bei Ärzte ohne Grenzen melden und dich und Kirsten als unsere engsten Vertrauten und Ratgeberinnen mitnehmen.« Mathea lachte am anderen Ende: »Ich würde ja sofort mitkommen, wenn ich selbst Ärztin wäre. Aber in der hiesigen Caritas kann man sich auch wunderbar einbringen.« Sie kam regelrecht ins Schwärmen von ihren Erlebnissen. »Stell dir vor. Als ich heute Nachmittag Wasserflaschen verteilte, wollte mich ein kleines Baby sogar auf die Wange küssen, als

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