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Versuchung
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eBook429 Seiten6 Stunden

Versuchung

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Über dieses E-Book

Kirsten ist 32, seit Jahren mit Florian verheiratet und arbeitet für ihren erfolgreichen Vater, nachdem sie ihr Studium abgebrochen hat.
Ausgerechnet auf der Geburtstagsfeier ihres Mannes lernt sie Christoph kennen, der nicht nur jünger ist als sie, sondern auch noch für ihren Mann als Referendar arbeitet. Er interessiert sich offensichtlich für Kirsten und sie ist schon bald hin- und hergerissen: Soll sie für Christoph ihr bisheriges Leben aufgeben oder sich weiterhin mit Florian im sicheren Ehehafen tummeln?
Plötzlich findet Kirsten sich mitten in einer Midlife Crisis wieder, die sie mal mehr mal weniger erfolgreich in den Griff zu bekommen versucht.
Nach vielen Irrungen, Wirrungen und einem großen Verlust muss Kirsten schließlich eine Entscheidung treffen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum3. März 2014
ISBN9783844279184
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    Buchvorschau

    Versuchung - Nina Galtergo

    Es lebe hoch!

    Sie hätte den aalglatten Verkäufer, der ihnen das dunkle Laminat in Nussbaumoptik als besonders pflegeleicht präsentiert hatte, mit einem einzigen Fußtritt mitten hinein in seinen schmalen, verlogenen Hintern zum Mond schießen können. Mit besten Wünschen! Wie konnte sich ein auf den ersten Blick vollkommen harmloses Wesen dermaßen entpuppen als durchtriebener Lügner, Betrüger und als Hausfrauenhasser sowieso!

    „Nein, das ist nicht pflegeintensiv, ach was! Lassen sie dagegen die bezaubernde Optik auf sich wirken! Und eigentlich ist es ganz im Gegenteil pflegeleicht, hatte ich das schon erwähnt? So pflegeleicht, sie werden es kaum putzen müssen. Laminat an sich ist ein gänzlich schmutzunempfindlicher Fußbodenbelag." Dazu das klebrigste Lächeln der Menschheitsgeschichte, das Lächeln eines eiskalten Halsabschneiders.

    Bisher hatte sie geglaubt, dass das verlockende Adjektiv „pflegeleicht" keinen allzu großen Bedeutungsspielraum zuließ, dass es eindeutig war, in Bezug auf ihr Laminat bedauernswerterweise jedoch eindeutig falsch. Jede Fluse und jedes Flöckchen Staub, egal wie winzig, fielen selbst dem augenschwachsten Betrachter sofort ins Auge, weswegen der Staubsauger täglich für die Fußbodenpflege angeworfen werden musste. Außerdem war das ihr so verhasste Wischen im zwei-Tage-Rhythmus notwendig, um alle Schlieren und Flecken zu beseitigen. Das Haus durfte nur noch unbeschuht betreten werden, was bei einigen Gästen, ausgenommen Skandinavier - doch von denen hatten sie nicht allzu viele in ihrem Bekanntenkreis - zu dauerhafter Irritation führte (und zu manch peinlichem Anblick, wenn die Strümpfe der unverhofft Unbeschuhten zu wünschen übrig ließen). Wahrscheinlich hatte dieser Heuchler eine fette Prämie von seinem Chef kassiert, als er ihnen diesen Lagerbestseller andrehte, und gewiss hatte der sich dafür etwas Schönes kaufen können, während sie nun Unsummen in Laminatpflegezusätze investierte. Unzählige Male hatte sie es sich in ihrer Phantasie zusammengesponnen, wie er triumphierend sein mageres Fäustchen geballt hatte, während sie mit seeligem frisch-betuppt-und-nix-bemerkt-Lächeln zu ihrem Auto geschlendert waren, hocherfreut über den Neukauf. Und die ganze Zeit, die flöten ging, die schöne wertvolle Zeit, die sie nun mit der Reinigung des Fußbodens vergeudete. Der große Teppich unter dem Sofa verbarg mittlerweile zum Glück einen beträchtlichen Teil des Wohnzimmers. Den brauchte man nur zweimal wöchentlich zu saugen. Nun ja, die Küche als bevorzugter Aufenthaltsort hatte auch ihren Reiz.

    Dennoch, blanke Wut und das Gefühl, von vorne bis hinten veräppelt worden zu sein, blieben.

    Denn an Tagen wie diesen, an Tagen, an denen Besuch ins Haus stand, musste alles tiptop sein, was das verhasste Laminat selbstverständlich mit einschloss. Sie konnte nichts dagegen tun, irgendwie pflegte sie diesbezüglich eine hartnäckige Pedanterie, dabei wäre es wahrscheinlich klüger gewesen, den Besuchern am Eingang einfach getönte Sonnenbrillen in die Hände zu drücken mit der Bitte, diese beim Betreten des Wohnzimmers aufzusetzen. Das hätte der Party einen ganz eigenen Stempel aufgedrückt. Zumindest wären die Fotos dann mal sehenswert gewesen. So würde sich der alt bekannte Langweilerhaufen zusammenfinden, sich erst betrinken, zu fortgeschrittener Stunde hemmungslos besaufen und inmitten dieser Horde würde ihre Schwiegermutter heimlich ihre weißen Handschuhe aus ihrem possierlichen Jäckchen fischen und mit spitzen, behandschuhten Fingern über die Möbel streichen. Was für ein Miststück. Und hätte sie sie nicht im letzten Jahr dabei ertappt, hätte sie es nie für möglich gehalten, dass sich jemand tatsächlich so viel Mühe geben würde, um ihre Unzulänglichkeit als Hausfrau aufzuspüren. Miststück. Je öfter sie das stumm vor sich hersagte, desto befreiender wurde es: Miststück, Miststück, Miststück. Genau genommen putzte sie so gründlich für ein Miststück – war es das wert?

    Dabei wusste sie genau, dass sie schon morgen alles wieder von vorne würde reinigen müssen, denn ihr Mann hatte es sich verbeten, dass seine Geburtstagsgäste auf Strümpfen auf seiner Party durch die Räume tapsten. Aber Schwiegermuttern stöckelte in wenigen Stunden ins Haus, da gab es kein Entrinnen vom Wischmop, Staubtuch und dem Glasreiniger, denn nichts entging den kritischen Handschuhen dieser elendigen Superhausfrau, die vermutlich täglich ihr Häuschen schrubbte und ihre Mahlzeiten als Beweis ihrer Reinlichkeit vom Fußboden einnahm. Putzen für ein Miststück, das in jeder Suppe ein Haar fand, und sei es noch so klein. Was konnte es an einem Freitag vier Wochen vor Weihnachten Schöneres geben?

    Wenigstens brauchte sie sich keine Sorgen ums Essen zu machen, das wurde geliefert. Wozu Schwiegermuttchen nur ein hämisches „So!" beisteuerte, denn bei ihr gab es nur Selbstgekochtes aus Bio-Zutaten. Zumindest normalerweise, an Feiertagen kreiste über ihrem Herd die Vorratspackung Sahne abwechselnd mit dem Stück guter Butter und ganz viel Öl. Doch Rache war süß – bis heute war es der dummen Gans ein Rätsel, warum der Salat, den sie unbedingt zum Hochzeitsbuffet hatte beitragen müssen, völlig versalzen war. Gegen einen Spendenbetrag von gerade mal zehn Euro zum Kauf einer neuen Barbie hatte ihr kleines Blumenstreukind unbemerkt den Salzstreuer über der Schale geöffnet und großzügig nachgewürzt. Wie herrlich bestechlich Kinder doch waren. Moral Fehlanzeige.

    Sie selbst hatte um den Salat einen großen Bogen gemacht. Alle übrigen Gäste ebenso, weil sich die Kunde vom versalzenen Salat in Windeseile herumgesprochen hatte. Nur ihr Schwiegervater, der Mann mit den amputierten Eiern und dem daraus resultierenden (und natürlich streng internen) Spitznamen «Wallach», hatte etwas davon essen müssen. Aber der trug ja auch eine lindgrüne Krawatte passend zum Kleid seiner Angetrauten (ihre Mutter hatte später anhand guter Beweisfotos belegen können, dass es sich um den identischen Stoff gehandelt hatte), dabei hasste der Grün, ganz zu schweigen von Lindgrün. Grün war ja bekanntlich die Farbe des Lebens, doch nebenbei auch die Farbe des Giftes.

    Seitdem lehnte der Sohn regelmäßig alle gut gemeinten Essensspenden aus der Küche seiner Mutter ab, doch das Geheimnis des Salates blieb bis zum heutigen Tage ungelüftet. Sollte der alte Drachen irgendwann einmal in einem Altenpflegeheim schmoren, und diese blühende Zukunft lag vor ihr, würde sie ihr die Wahrheit genüsslich stecken, quasi als Entschädigung für all die Jahre voller Beziehungsstress, die das Miststück verursacht hatte. Miststück.

    Manchmal hielt sie nur der Gedanke an diesen Tag der Wahrheit davon ab, der Mausi, wie ihr Wallach sie zu nennen hatte, gehörig die Meinung zu geigen. Mein Tag wird kommen, dachte sie dann stets, Mausi, wart's nur ab.

    Weg mit diesen Gedanken, es gab noch so viel zu tun! Putzen, das Geschirr bereitstellen, die Tische für das Essen zusammenschieben und mit Papierdecken („Umweltverschmutzung", so Mausis Kommentar) einhüllen, Servietten und Besteck in Körben anrichten, Getränke aus dem Keller herauftragen, die Deko anbringen und zu guter Letzt auf den Paketboten lauschen, der das letzte Geschenk liefern sollte.

    Da ihr Göttergatte sich heute entgegen der Absprache keinen freien Tag genommen hatte, musste sie nun mehr oder weniger alles alleine machen. Für den Service bekam sie dann abends die alljährliche Belohnung – ein naiv freudiges, alkoholgeschwängertes „Dankeschön und eine chaotische Küche als Überbleibsel eines anstrengenden Tages. Natürlich würde er morgen früh etwas ganz Wichtiges zu erledigen haben, dabei war doch Samstag. Meistens hatte er nach solchen Feierlichkeiten einen Termin bei der Autowerkstatt, und der verantwortungsbewusste Mann wartete die wenigen Stunden auf seinen Wagen, um jederzeit nach dem Rechten schauen zu können. Versorgt mit seinem Laptop zog er los, um aufopferungsvoll auf sein Vehikel zu achten, das seiner Firma gehörte. So war es auch in diesem Jahr geplant, wie sie nach einem informativen Anruf bei der Werkstatt herausbekommen hatte, welch netter Schachzug. Leider konnte die Werkstatt den morgigen Termin aufgrund von plötzlich aufgetretenen Terminüberschneidungen nicht einhalten – erstaunlich, was doch das Versprechen auf ein großzügiges Extra-Trinkgeld bei ihrer nächsten Inspektion so ausmachte! Der entsprechende Anruf würde auf seiner Mailbox auf ihn warten. Der Gatte blieb ergo wohl mangels Termin daheim, doch überraschend würde sie unterwegs sein, denn sie hatte sich in weiser Vorausschau für den Vormittag einen Termin bei der Kosmetik geholt. Zum Entspannen. Womit sein Gesäusel von „Gönn dir doch auch mal was! unverhofft wahr werden würde.

    So eilte sie die nächsten Stunden im Laufschritt durchs Haus, um zu erledigen, was zu erledigen war. Das Geschenk mit dem garantierten Liefertermin kam natürlich nicht (morgen würde es mit Sicherheit dann ankommen, wenn sie gerade unterwegs war, so dass das neugierige Ex-Geburtstagskind in den Karton spähen und dabei selbstverständlich auch die Rechnung finden würde), so dass sich das Geschenk auf die Klassiker der männlichen Geschenkekunde reduzieren würde: Einen Pulli, einen Pyjama und Socken hatte sie noch liegen, während das Spiel und die dazugehörige Playstation III, die er sich seit Monaten wünschte und für dessen Kauf er bisher zu geizig gewesen war, leider noch in einem Paketwagen irgendwo in Deutschland herumjökelten. Eigentlich hatte sie auch noch ein Foto rahmen wollen für seinen Schreibtisch, doch das hatte sie leider verpatzt, das musste nun bis Weihnachten warten.

    Nach dem dreistündigen Marathon durchs Haus war sie im wahrsten Sinne des Wortes fertig. Das Essen wurde geliefert, ihr Mann war noch immer nicht da, dafür kamen die misstrauisch alles und jeden beäugende Mausi und ihr Wallach. Für die ersehnte Dusche blieb Kirsten daher keine Zeit, so mussten der Deostift und jede Menge Makeup herhalten, um ihr erhitztes Gesicht vorzeigbar zu machen.

    Ein biestiges „Kirsten, du schminkst dich zu stark war der Dank für ihre verzweifelten last-minute-Bemühungen, und zum Glück klingelte es in dem Moment, in dem ihr das unfeine „F... dich! aus dem gelipglossten Mund rutschte. Ups, Glück gehabt.

    Zwei Stunden später war die Party in vollem Gange, und sie kam sich vor wie eine mittelprächtige Saftschubse. Kirsten, hol dies, Kirsten, kannste mal das, Kirsten, wo sind die, so ging das pausenlos. Das Geburtstagskind strahlte angesäuselt vor Glück inmitten der inzwischen unübersichtlich ausgeuferten Gästeschar und sonnte sich in den Kommentaren zur gelungenen Party. Und kannste-mal-Kirsten war die nimmermüde Nachfüllerin der flüssigen und festen Vorräte, doch verglichen mit ihrem Nachmittag als Putzfrau war der Job definitiv ein Meilensprung auf der Karriereleiter eines erfüllten Lebens als Ehefrau. Gerade in diesem Moment stand sie mit dem Rücken an die weiß getünchte Wand gelehnt, gönnte ihren müden Füßen in den zu engen Pumps eine Pause und beobachtete das Geschehen mit einer Mischung aus Verachtung und Scham, weil sie sich wiederholt dabei ertappte, wie sie dem Geburtstagskind, ihrem Angetrauten, nicht nur Gutes wünschte. Wie er da stand, schwadronierend und schwitzend, wie sie alle an ihm klebten, nicht etwa weil sie ihn mochten, nein, weil er ihr Chef war. Wie seine elendige Mutter ihn anhimmelte, wie einen Popstar! Lächerlich! Ihr Gesicht verzog sich gedankenverloren zu einem bittersüßen Lächeln. Ja, der Florian. Wat haste dir verändert.

    „Ganz schön stressig so ein Geburtstag, was?"

    Ein junger Mann stand neben ihr. Wo er so plötzlich hergekommen war, konnte Kirsten nicht sagen, als wäre er plötzlich vom Himmel gefallen. Er lächelte sie abwartend an, abwartend auf eine Reaktion ihrerseits, und Kirsten fiel nichts Besseres ein als ein lahmes „Tja, so ist das nun mal." Schlagfertigkeit adé. Als hättest du die jemals besessen! Jämmerlich!

    „Brauchst du Hilfe?, fragte er sie und sie antwortete knapp „kann nicht schaden, sichtlich erstaunt über dieses unerwartete Angebot. Unverzüglich begann er damit, leere Flaschen vom Tisch zu räumen, die er geschickt durch die Menschenmenge in die Küche manövrierte. Kirsten löste sich von der Wand, schnappte sich einen ganzen Stapel schmutziger Teller und eilte dem Unbekannten hinterher, so schnell es die brennenden Füße in den verfluchten Pumps zuließen. Wenn Florian mitbekam, dass sie seine Gäste zum Helfen einspannte, würde es Ärger geben, also nahm sie sich vor, den Fremden gleich wieder aus der Küche zu werfen, so großzügig und edelmütig sein Hilfsangebot im Angesicht der pulsierenden Party auch war.

    Er schien sich auszukennen in ihrem Haus, denn er hatte bereits die Tür zur Speisekammer geöffnet und sortierte die leeren Flaschen in die Getränkekisten ein, die sie unter dem großen Vorratsregal hingestellt hatte. Verdutzt öffnete sie die Tür des Geschirrspülers und merkte genervt, dass dieser gerade gelaufen war. Und rate mal, wer den angestellt hat? Genau - du, du vergessliche Nuss! Leise fluchend griff sie sich ein Geschirrtuch und begann mit dem Ausräumen der Spülmaschine. Ein Küchenverkäufer hatte ihr einmal erzählt, dass das Ein- und Ausräumen des Geschirrspülers insgesamt so viel Zeit wie ein Abwasch kostete, nur dass man beim Abwasch ein größeres Erfolgserlebnis aufgrund der offensichtlich erbrachten Leistung bekam. Damals hatte sie den Mann zunächst nur für einen schlechten Verkäufer gehalten, doch heute wusste sie, dass sie es mit einem Verkäufer zu tun gehabt hatte, der Frauen das kleine bisschen Glück von Nicht-Spülhänden einfach nicht gönnen wollte. Was für ein Quatsch! Als ob irgendeine Frau auf der Welt ihr Glück in einem Stapel abgewaschenen Geschirrs suchte. Nur noch fix den Kram trockenzuwischen war wirklich besser als mühsam alles per Hand zu spülen. Ein Segen, dass Florian das genauso sah und auf einen Geschirrspüler bestand, Verkäufergeschwafel hin oder her.

    Der Fremde stand neben ihr und hatte sich ebenfalls ein Geschirrtuch gegriffen. Allerdings hatte er das nasse erwischt, mit dem man kein Geschirr der Welt mehr hätte trocknen können, höchstens säubern.

    „Das Tuch ist ganz nass", sagte er anklagend.

    Fast erwartete sie von ihm, dass er sich selbstständig ein neues Tuch aus dem Schrank holte, doch den Gefallen tat er ihr nicht. Vielleicht war die Sache mit der Speisekammer doch lediglich ein Glückstreffer gewesen, gewiss hatte einfach nur die Tür offen gestanden und den Blick auf die Getränkekisten freigegeben. Abwartend stand er vor ihr. Sie löste sich aus ihrer Starre, griff wortlos in den Schrank, gab ihm ein frisches Tuch und augenblicklich legte er los.

    „Darf ich fragen, wer Sie sind?", fragte Kirsten freundlich nach zehn polierten Gläsern, um die peinliche Stille zu durchbrechen. Fang nicht auch noch ein Gespräch mit dem an, schmeiß ihn raus hier! Wenn Florian das mitkriegt, ist die Hölle los!

    „Ich bin Christoph", lautete die knappe Antwort. Nun hat er auch keine Lust mehr auf ein Gespräch mit dir. Kein Wunder, bei deinem Esprit!

    „Ich mache gerade ein Referendariat in Florians Abteilung", fügte er hinzu.

    Der Referendar also, so so. Über den hatte Florian bisher nichts berichtet.

    „Florian hat noch gar nichts von Ihnen erzählt", tastete sie sich weiter vor.

    „Naja, ich bin ja nur der Referendar, und als Chef hat man ja immer gut zu tun." Er lächelte entschuldigend, verlegen. Er war das kleine Teelicht in einem Rudel von Flutscheinwerfern.

    Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Er war jünger als sie und äußerst attraktiv. Früher hätte er perfekt in ihr Beuteschema gepasst, heute kam sie sich neben ihm ziemlich alt und unscheinbar vor. Er war deutlich größer als Florian, mindestens 1,85 Meter, hatte kurz geschnittenes blondes Haar, das er sich sorgfältig mit Gel frisiert hatte, ein ebenmäßiges Gesicht mit einer geraden Nase, einem markanten Kinn und tiefblauen Augen, die unter schmalen Augenbrauen hervorstrahlten wie Edelsteine. Am auffälligsten waren seine sinnlichen Lippen, nicht zu schmollig, aber auch nicht so dünn wie die schmalen Lippen ihres Gemahls. Das einzige, was dünn an dem war, von den Ohrläppchen mal abgesehen.

    Er musste relativ sportlich sein, denn unter seinem eng anliegenden grauen Pullover zeichnete sich ein tadelloser Oberkörper ab. Und auch in seiner Levi's-Jeans machte er eine gute Figur, was nicht jedem Mann beschieden war, ihrem eigenen schon gar nicht, der nach der Anprobe von etwa zwanzig Levi's-Jeans im Laden den Traum aufgegeben hatte und auf andere Hersteller ausgewichen war. Als er nach dem Geschirrtuch gegriffen hatte, waren ihr seine schlanken Hände ins Auge gefallen, mit langen schlanken Fingern. Florians Hände wirkten dagegen wie griffige Mini-Bifis.

    Trotz seines attraktiven Aussehens hielt er sich offenbar lieber in der Küche auf, als sich unter seine Kollegen in spe zu mischen, was die Damenwelt jenseits der Tür sicherlich bedauerte, da sich ansonsten nicht allzu viel für die Augen erfreuliches Mannswerk auf der Feier befand.

    „Und was machst du so?, fragte er beiläufig, „du bist Florians Frau, oder?

    „Ja, stimmt. Und ansonsten eine langweilige Halbtagssekretärin."

    „Warum bezeichnest du dich als langweilig?, fragte er neugierig, „du bist doch nicht langweilig!

    „Wie soll ich denn das verstehen?", fragte sie unfreundlich zurück. Schmeiß ihn endlich hier raus! Gib ihm ein Bier und sag ihm, er soll spielen gehen mit den hübschen jungen Dingern, die auch anwesend sind! Und bremse deinen Herzschlag ab, das ist ja peinlich!

    „Einfach nur, dass du auf mich keinen langweiligen Eindruck gemacht hast", antwortete er knapp, doch er blickte ihr dabei nicht in die Augen, sondern senkte seinen Blick auf die Fliesen, die nicht mehr ganz so perfekt glänzten wie am Nachmittag. An einem Schrank bahnte sich eine dunkle Flüssigkeit den Weg nach unten, vermutlich Rotwein. Der Anblick der schon wieder dreckigen Küche verbesserte ihre Laune nicht wirklich.

    Kirsten schielte ihn kurz von der Seite an, lenkte jedoch augenblicklich ihren Blick wieder weg von ihm und in ihr regte sich ein Anflug von wirklicher Unbehaglichkeit, die nicht mehr nur bei dem Gedanken an den vermeintlich wütenden Florian aufkam. Wollte dieser Jüngling sie etwa anbaggern? Es gefiel ihr gar nicht, wie er sie verstohlen taxierte, allerdings machte er sich als Küchenhilfe ausgezeichnet, denn mit flinken Fingern räumte er den Geschirrspüler schon wieder ein und hatte dabei dasselbe System wie sie. Florian hatte bis heute nicht kapiert, auf welche Seite die Gläser kamen, doch der hier machte es gleich richtig.

    In diesem Moment schwang die Tür auf und Florian betrat den Raum. Man konnte mühelos erkennen, dass er bereits mehr als ein Bier zu viel getrunken hatte. Sein wässriger Blick heftete sich mit einem Anflug von Wut an Kirsten, dann erstaunt an seinen Referendar mit dem Geschirrtuch in der Hand: „Ach du, was machst du denn hier?", fragte er mit schwerer Zunge.

    „Sie haben mich doch eingeladen, Herr Meiffert", entgegnete dieser unsicher.

    „Jaja, winkte Florian genervt ab, „was machst du hier in meiner Küche mit meiner Frau?

    Kirsten wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Christoph jedoch schien der marode Zustand seines Vorgesetzten mehr zu belustigen, denn er antwortete grinsend:

    „Ich helfe ihr beim Ausräumen der Spülmaschine."

    „Warum hilft ein Kerl wie du einer Hausfrau bei der Arbeit? Los, ab ins Wohnzimmer mit dir, hab mal ein bisschen Spaß, amüsier dich!"

    Ohne Widerworte legte Christoph das Geschirrtuch auf die Geschirrablage der Spüle und verließ mit einem entschuldigendem Achselzucken in Kirstens Richtung den Raum.

    „Vielleicht bis später", murmelte er leise.

    Florian grinste sie süffisant an, dann verließ auch er die Küche wieder. Und Kirsten stand allein inmitten der sich auftürmenden Arbeit und bedauerte es insgeheim, das Gespräch mit dem attraktiven Referendar nicht weiterführen zu können. Es war so lange her, dass sich ein Mann ihr gegenüber so interessiert verhalten hatte wie dieser junge Typ. Das schmeichelte ihr, denn in ihrer Ehe mit Florian war schon seit längerem der Alltag eingekehrt, der jegliche Aufregung und Romantik zugunsten von Monotonie verdrängt hatte. Wann immer sie das Gespräch auf dieses Thema zu lenken versuchte, blockte Florian genervt ab und versicherte ihr, dass er sie so liebe und begehre wie am ersten Tag. Doch dessen war sie sich nicht mehr so sicher wie noch vor drei Jahren. Damals hatte er sie immer noch mit verliebten Blicken angesehen, hatte sie stolz wie ein Gockel präsentiert, wenn sich dazu die Gelegenheit ergab und hatte sie unaufhörlich liebkost, gestreichelt und geküsst, auch gerne in der Öffentlichkeit. Mittlerweile hatte er dieses Verrücktsein nach seiner Frau eingetauscht in pure Gleichgültigkeit ihr gegenüber, und daraus resultierte ihre anhaltende Unlust, ihn irgendwohin zu begleiten. Vielleicht gingen sie noch als Freunde durch, doch als Ehepaar?

    Und wenn sie mal miteinander schliefen, brauchte er kein Vorspiel mehr, stattdessen spulte er sein ödes Programm ab, bis er gekommen war oder sie so tat als ob, danach drehte er sich um und schlief, ging ins Badezimmer oder surfte am PC und ließ sie frustriert wie eine Katze im Regen im Bett zurück.

    So stand sie allein in der Küche und hing ihren Gedanken hinterher, während nebenan die Party in vollem Gange war. Da öffnete sich die Tür wieder und Christoph schob sich lächelnd herein, einige Gläser in den Händen, vielleicht als Alibi für sein erneutes Erscheinen. Augenblicklich pochte ihr Herz vor Aufregung ein wenig schneller und sie ermahnte sich zur Besonnenheit. Sie war eine zumindest äußerlich glücklich verheiratete Frau, die Frau seines Chefs, und der war nebenan, um seinen Geburtstag zu feiern. Sich einzubilden, dass sie mit diesem Mann so etwas wie flirten konnte, war pure Fantasie, ein Hirngespinst der Extraklasse.

    „Da bin ich wieder", sagte Christoph fröhlich und gab der Tür mit dem Fuß einen Schubs.

    Sie lächelte ihn zaghaft an und antwortete einsilbig mit einem „Schön".

    „Ich finde das immer sehr schade, dass man bei solchen Feiern meistens nichts von der Dame des Hauses hat." Seit seinem letzten Besuch in der Küche schien er mutiger geworden zu sein, denn nun sah er ihr beim Sprechen ins Gesicht.

    „Es ist halt viel zu tun", entgegnete sie ihm lahm wie eh und je und ärgerte sich insgeheim darüber, nicht schlagfertiger zu sein, denn was konnte ihn bei diesen knappen Antworten noch in der Küche halten? Sie bückte sich und wischte den klebrigen Schrank mit dem Lappen ab, um irgendetwas zu tun.

    „Florian hat schon so viel von eurem Haus erzählt, aber es ist wirklich toll", warf er ihr den nächsten Happen hin. Und dieses Mal würde sie es nicht schon wieder vermasseln.

    „Mein Vater hat es entworfen."

    „Oh, dein Vater ist Architekt?", fragte er höflich interessiert.

    Kirsten freute sich diebisch, denn der hübsche Fisch hatte angebissen.

    „Er ist sogar ein sehr erfolgreicher Architekt", fuhr sie mit stolzer Stimme fort und registrierte gleichzeitig verlegen, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

    „Du scheinst viele erfolgreiche Männer in deiner Umgebung zu haben", stellte er fest.

    Sofort schlug ihre Laune um, denn sie fühlte sich erinnert an die Vorhaltungen ihres Vaters, dass sie ihr Studium nie zu Ende gebracht hatte. Sie zog für einen Sekundenbruchteil ihre Stirn hoch, doch er hatte es sofort bemerkt.

    „Upps, falsches Thema", sagte er, weiterhin um Fröhlichkeit bemüht.

    „Und was machen Sie nun genau in der Firma meines Mannes?", hakte sie nach, dabei wusste sie es längst. Referendare waren da keine Seltenheit, doch eigentlich konnte das nicht sein, denn er war so jung. Hatte er sich einfach nur gut gehalten für sein Alter? Augenblicklich schoss ihr der Gedanke an die Anti-Aging-Augenpflege durch den Kopf, die sie sich neulich im Drogeriemarkt gekauft hatte. Bisher übrigens ohne sichtbares Resultat, die kleinen Fältchen waren noch immer da, leider. Lifting gefällig? Naja, wenigstens schlägt das Zeug zum Haarfarbeauffrischen von Florian auch nicht an.

    „Ich bin Christoph, sie brauchen mich nicht zu siezen."

    „Ich heiße Kirsten", entgegnete sie, geflissentlich ignorierend, dass er sie schon die ganze Zeit unverhohlen duzte.

    „Schön, Kirsten also, nickte er und lächelte, „ich habe Jura studiert und muss nun bis zum zweiten Examen ein bisschen praxisnäher ran.

    Diese Antwort überraschte sie. Wie alt war er, wenn er sein Studium schon fertig hatte? Die meisten Juristen, die sie kannte, und das waren viele, hatten ihr bisheriges halbes Leben an der Uni verbracht.

    „Ich bin 25", sagte er nur.

    „Ich hab doch gar nicht gefragt", fiel sie ihm ins Wort, doch er grinste nur.

    „Den Blick kenne ich aber schon zur Genüge, den ernte ich schon mein ganzes Leben, sagte er. „Ich bin ein Wunderkind, war auf einem Internat für Hochbegabte und bin mit Medizin schon durch.

    Kirsten wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte: Entweder er erlaubte sich einen kleinen Jux oder er war ein brillantes Wunderkind. Aber trugen Wunderkinder nicht Seitenscheitel, dicke Brillen, Hochwasserhosen und zu enge Pullover mit Rautenmuster? Unsicher wartete sie ab.

    „Nein, Blödsinn, erlöste er sie, „den Blick kenne ich. Ich war einfach nur schnell und einigermaßen gut. Und ich habe auf der Schule tatsächlich eine Klasse übersprungen, aber auch nur eine, und das auch nur, weil meine ehrgeizige Mutter mir vor der Grundschule schon zu viel beigebracht hat.

    „Nun, ich habe mein Studium nicht fertig bekommen, stattdessen habe ich Florian geheiratet", sagte sie mit einem bitteren Lächeln.

    „Und Florian meint, dass du nicht so wirklich arbeiten musst, weil er schon so viel tut, was?", schlussfolgerte er und lag damit leider nicht völlig daneben.

    „Tja, c'est ça."

    „Das alte Lied, das war bei meinen Eltern genauso. Mein Vater den ganzen Tag im Büro, meine Mutter zu Hause, bis er mit 'nem Herzinfarkt zu Boden gegangen ist. Danach ist sie erst rausgekommen aus dem ganzen Einerlei. Zwar ist er mittlerweile wieder fit, aber zum Glück sind sie nicht in alte Fahrwasser zurückgekehrt."

    Er machte eine resignierte Geste. Dann fügte er mit einem Blick zu ihr hinzu: „Schade, dass es noch immer solche Männer gibt."

    Wieder öffnete sich die Tür und Mausi stand im Raum.

    „Kirsten, näselte sie mit ihrer immerwährend arroganten Stimme, mit der man selbst Tote in die Flucht schlagen konnte, „die Getränke neigen sich. Du solltest sie nachfüllen. Blasiertes Frauenzimmer!

    Sie wandte sich Christoph zu und fragte pikiert: „Und wer sind Sie?"

    „Ich bin hier die Küchenhilfe", antwortete er mit ernsthaftem Gesicht.

    „Nun, vernünftig, dass du dir Hilfe geholt hast, du schaffst das alleine ja immer so schlecht", stichelte sie zuckersüß in Kirstens Richtung. Die musste sich von innen auf die Unterlippe beißen, um nicht lauthals loszulachen, dabei erstarb ihr sonst immer jegliches Lachen in Anwesenheit dieses durchtriebenen Biestes. Miststück, Miststück!

    „Nun denn, seien Sie schön fleißig, junger Mann, munterte Mausi Christoph mit einer wohlwollenden Geste auf. „Gib ihm ein kleines Trinkgeld nachher, zischte sie Kirsten zu, dann verließ sie wieder die Küche. Der Duft ihres schweren, süßen Parfüms hing in der Luft und Kirsten riss voller Verachtung die Tür zur Veranda auf.

    „Wow, das nenn ich mal 'ne Schwiegermutter", scherzte Christoph anerkennend und Kirsten musste so heftig lachen, dass sie sich plötzlich an ihrer eigenen Spucke verschluckte. Er schlug ihr hastig auf den Rücken und reichte ihr zuvorkommend ein Glas mit Leitungswasser. Sie leerte es dankbar und zügig mit mehreren großen Schlucken. Peinlich berührt merkte sie, dass ihr Tränen über das Gesicht rannen. Wie peinlich!!!

    „Das passiert mir auch immer, wenn ich mich verschlucke", sagte er, wiederum mit diesem fröhlichem Singsang in seiner Stimme.

    „Danke", hüstelte sie heiser.

    „Keine Ursache, erwiderte er grinsend. Eine Weile sagten sie beide nichts. Kirsten wartete darauf, dass die dicke Kröte in ihrem Hals wieder verschwand. „Woher weißt du denn, das sie meine Schwiegermutter ist?, hakte sie schließlich heiser neugierig nach.

    „Naja, dein Mann hat sie vorhin ganz stolz allen als beste Mutter aller Zeiten vorgestellt."

    Typisch, Mausi hatte ihren großen Auftritt gehabt, während sie als Lehmludchen mit Schürze und strähnigem Haar die Küche übernehmen musste.

    In Christophs Hosentasche piepte es und er holte eines dieser unglaublich stylischen Mobiltelefone hervor. Mit entschuldigendem Blick nahm er das Gespräch an, drehte sich dabei von ihr weg und sprach leise:

    „Nein, ich bin noch auf der Party. Ja, ja, ich weiß. Es ist gut, ich hab's kapiert, Mutti!".

    Das letzte sagte er ironisch und lauter. Er legte auf und steckte das Telefon zurück in seine Hosentasche. Er schob den Ärmel seines hellgrauen Pullovers ein Stückchen hoch und schaute auf seine Uhr.

    „Ach, schon so spät, er hat recht! Ich muss jetzt los, leider. Ich hätte dir ja gerne noch weiter geholfen, aber ich muss früh raus, weil ich mit Kumpels Ski fahren gehe", sagte er bedauernd. Wieder grinsend fügte er hinzu:

    „Das war mein bester Freund, Markus, der mir gesagt hat, dass er mich morgen zur Not mit einem Eimer Wasser aus den Federn holt, und das möchte ich nicht riskieren, denn der macht sowas wirklich und er hat einen Schlüssel zu meiner Wohnung."

    „Ist doch kein Problem, viel Spaß beim Skifahren", sagte sie. Schade, er geht schon!

    „Aber es war schön, dass wir uns kennenlernen konnten, und vielleicht sieht man sich ja bald mal wieder", dabei sah er sie ernst aus viel zu fesselnden Augen an und Kirsten lächelte zaghaft zurück.

    „Sicher, warum nicht", antwortete sie ihm. Sicher doch Kirsten, kein Problem! Frag deinen Mann, ob er damit auch kein Problem hat.

    „Dann bis bald", sagte er leise und umarmte sie, kurz nur, aber innig. Verwirrt glaubte sie einen flüchtigen Kuss auf ihrem Scheitel zu spüren.

    Dann verließ er hastig die Küche, ohne sich noch einmal umzudrehen, und Kirsten blieb überrascht von dem unerwarteten Körperkontakt mit ihm zurück. Sie konnte kaum glauben, was da eben passiert war. Dieser junge Mann, dieser 25-jährige Jungjurist, hatte sich mit ihr unterhalten, mit der unscheinbaren, unsportlichen, unstudierten, kinderlosen Kirsten, die mit ihrem Mann seit sieben Jahren verheiratet war. Und der es nichts ausgemacht hatte, dass ihr Mann nicht unbedingt den gängigen Schönheitsidealen entsprach mit seiner schütteren Halbglatze, der konservativen Brille, der großporigen Haut und seiner insgesamt unsportlichen Erscheinung. Florian sah schon damals aus wie Muttis Liebling, doch das hatte Kirsten nie gestört, denn Florian war nett, lustig, zielstrebig, und er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, seine Zukunft mit Kirsten gemeinsam gestalten zu wollen. Sie war vollkommen besessen von diesem ehrlichen Mann gewesen, der im Gegensatz zu den attraktiveren Männern nie irgendwelche Spiele mit ihr gespielt hatte, der vom ersten Moment an zuverlässig und fürsorglich gewesen war und Kirsten auf Händen trug, seinerseits ebenfalls froh, endlich eine Partnerin gefunden zu haben. Er war der Spatz in der Hand, Männer wie Christoph glichen der unerreichbaren Taube auf dem Dach. Nun kam dieses attraktive Täubchen in ihre Küche hereinspaziert und sie schwärmte innerlich wie ein kleines Schulmädchen. Albern war das. Aber warum hatte er sie zum Abschied umarmt und geküsst? Umarmte man normalerweise Menschen, die man kaum kannte, noch dazu Menschen des anderen Geschlechts? Ehefrauen? Chef-Ehefrauen? Küsste man die, wenn auch nur scheu aufs Haar? Nein, das tat man nicht, das gehörte sich nicht, das war nicht richtig.

    Den Rest des Abends verbrachte Kirsten weiterhin mit Küchenarbeit. Zu Florian ins Bett sank sie erst um drei Uhr nachts oder morgens, wie auch immer man das sehen wollte. Er schnarchte ein bisschen, was er immer tat, wenn er Alkohol getrunken hatte, doch bis heute hatte sie das nie beim Einschlafen gestört. Nun aber war sie so aufgekratzt, dass sie noch lange wach neben ihm in dem kalten Bett lag, dick eingemummelt unter ihrer Decke und mit Wollsocken an den Füßen, und seinem Schnarchen lauschte. Dabei schwirrten ihr unaufhörlich Gedanken durch den Kopf, Gedanken an Christoph, wie er da gestanden hatte mit dem Geschirrtuch in der Hand, wie fröhlich und selbstbewusst er gewesen war, wie er ausgesehen hatte. Sein Kleidungsstil unterschied sich völlig vom ausdruckslosen Stil ihres Mannes, den sie bis heute immer für ganz in Ordnung gehalten hatte. Bis heute.

    Aber er war auch 16 Jahre jünger als ihr Mann. Und ganze sieben Jahre jünger als sie. Kirsten kam sich plötzlich ziemlich verloren und alt vor.

    Katerfrühstück und Katzenjammer

    Florian verließ eilig das Bett gegen acht Uhr und stürzte auf die Tür des Badezimmers zu. Die Tür schloss sich mit einem Knall und hinter ihr wurden Würgegeräusche hörbar.

    Eine ganze Weile ging das so, Würgen, Toilettenspülung und das Geräusch von fließendem Wasser wechselten sich ab. Nach einer Viertelstunde stand er blass in der Tür und stöhnte, während er sich mit den Händen über sein müdes Gesicht fuhr. Kirsten schälte sich aus ihrem Kokon und schleppte sich mühsam zu ihm, jeden Knochen wegen der kurzen Nacht spürend.

    „Geht's wieder?", fragte sie mitfühlend im Kegel des Badezimmerlichts.

    „Das waren wohl ein paar Drinks zu viel", brachte er mit kratziger Stimme hervor. Er roch gleichzeitig sauer und nach Zahnpasta, seine Haare waren verklebt und sein Schlafanzug sah aus, als hätte er in der Nacht stark geschwitzt. Nach all den Jahren war es für sie immer noch ein ungewohnter Anblick, wenn er seine Brille nicht trug, denn das veränderte die Proportionen seines Gesichtes vollkommen. Mit Brille sah er aus wie ein erfolgreicher Mann, der mitten im Leben stand. Ohne Brille sah er verletzlich aus, was sicherlich daran lag, dass er tatsächlich ohne Brille schlecht gucken konnte, da seine Dioptrienzahl bei minus acht lag. So glich er einem orientierungslosen Maulwurf.

    „Ich gehe duschen, sagte er, „ich muss den Wagen in die Werkstatt bringen.

    „Mit dem Restalkohol im Blut?", fragte sie erstaunt. Wie praktisch, denn so brauchte sie ihm die Lüge von der Absage der Werkstatt erst gar nicht aufzutischen. Die hatte wohl vergessen, ihn anzurufen. Vielleicht konnte sie ja auch gleich noch das Manöver mit dem Kosmetiktermin umgehen, denn ihr war nicht nach Unternehmungen irgendeiner Art. Eigentlich wollte sie nur zurück ins Bett, zurück in die Wärme.

    Er seufzte, dann fügte er hinzu: „Vermutlich hast du recht, aber duschen gehe ich trotzdem, ich fühl' mich so siffig." Er umarmte sie kurz und gab ihr pflichtschuldig einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sich umdrehte, ins Bad schlurfte und die Tür hinter sich schloss. Sie hingegen tapste im nun wieder dunklen Raum zurück ins Bett, vorsichtig darauf bedacht, sich an der Ecke ihres Bettes nicht wieder den Fuß anzustoßen, wie es ihr schon so häufig im Dunkeln passiert war. Wenn sie wieder mit einem gebrochenen kleinen Zeh zum Arzt kam, würde ihr dieser wahrscheinlich

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