Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Sieben Tage: Geschichte einer Entscheidung
Sieben Tage: Geschichte einer Entscheidung
Sieben Tage: Geschichte einer Entscheidung
eBook236 Seiten3 Stunden

Sieben Tage: Geschichte einer Entscheidung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Marlene freut sich auf ruhige Ostertage, seit einem Jahr ist sie Witwe und kämpft um das Überleben ihres Betriebes, da steht plötzlich Jakob vor der Tür, der Sohn ihres verstorbenen Mannes. Er möchte endlich seinen Erbteil, die Feiertage werden turbulenter verlaufen, als sie es sich erhofft hat ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Juli 2015
ISBN9783732350971
Sieben Tage: Geschichte einer Entscheidung

Ähnlich wie Sieben Tage

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Sieben Tage

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Sieben Tage - Paul Horn

    Karfreitag

    1

    Die Stimme des Nachrichtensprechers kündigt einen nasskalten Feiertag mit Temperaturen um die sieben Grad an, das ungemütliche Wetter der letzten Tage wird also bleiben, vielleicht soll sie gleich den Tag im Bett verbringen? Marlene dreht sich auf die andere Seite und versucht noch einmal einzuschlafen, eben noch ist sie mit Heinrich im offenen Daimler die kurvige Küstenstraße entlang gefahren, als ihnen plötzlich ein breiter Milchtransporter entgegen gekommen ist und Heinrich nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Sie öffnet die Augen, noch ist es im Zimmer dunkel und Regen fällt gegen das Fenster, also wühlt sie ihren Kopf noch einmal ins Kissen, aber eine Stunde später hört sie bereits wieder die Stimme aus dem Radio, steht auf und schleppt sich ins Badezimmer. Als sie sich an den Heizkörper lehnt, und langsam die Wärme in ihren Körper strömt, kann sie allmählich den ersten Gedanken fassen. Vor ihr liegt ein langes Wochenende, für das sie keine Pläne hat und auch keine hat machen wollen, die Einladung der Freunde zum Osteressen hat sie ebenso abgelehnt wie Mutters Vorschlag, sie doch endlich einmal wieder im schon frühlingshaften Badischen zu besuchen. Auch Pauls Einladung zu einem gemeinsames Abendessen hat sie abgesagt, woraufhin er sich den restlichen Nachmittag hinter seinem Bildschirm verschanzt und die Angebote bei ‚autoscout’ nach einem neuen Transporter studiert hat, den sie sich im Moment gar nicht leisten können, und dabei mit den Fingern am linken Ohrläppchen gezupft hat, wie er es immer macht, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen läuft.

    Sie kämmt die feuchten, kinnlangen Haare nach hinten und betrachtet sich im Spiegel, sie ist noch schmaler geworden, und ihre Lippen sind es ohnehin. Der Traum von einem sinnlichen Mund hat sie als junges Mädchen umgetrieben, und während sie sich das Gesicht eincremt, muss sie über diesen banalen Wunsch vergangener Tage schmunzeln, zieht dann Jeans, T-Shirt und einen alten, warmen Pullover an und geht die knarrenden Holztreppenstufen hinunter ins Erdgeschoß. Seit letztem Jahr lässt sie nachts das Licht in der Küche brennen, nicht so sehr aus Angst vor Einbrechern, sondern weil sie morgens die Vorstellung beruhigt, dass schon jemand die Zeitung liest und auf sie wartet. Sie startet die Kaffeemaschine und öffnet den Kühlschrank, er ist für die Feiertage reichlich gefüllt, denn natürlich hat Frau Michels wieder ungefragt vorgesorgt und vier warme Gerichte zubereitet, doch schon beim Gedanken an die üppigen Fleischmengen in den beschrifteten und verschlussdichten Plastikschüsseln zieht sich ihr Magen zusammen. Sie setzt sich auf die Eckbank und genießt den ersten Schluck Kaffee, überfliegt die Titelseite der Zeitung vom Vortag und blättert die Sportseite auf, für Samstag sind spannende Begegnungen in der Bundesliga zu erwarten, wenigstens das. Dann wandern ihre Augen zur Küchenzeile mit der abgenutzten Arbeitsplatte aus Resopal. Weder Kacheln noch Oberschränke, nur weiß getünchte Wände und eine neue Arbeitsplatte aus Holz, das sind damals ihre Wünsche gewesen, doch dann haben sie nur das alte Geschirr in den Keller geräumt und das schmale Brett für ihre Kannen und Krüge angebracht, neben den neuen Gardinen und Stuhlpostern die einzigen Dinge aus ihrem alten Leben. Wie immer tickt der Sekundenzeiger der alten Wanduhr zu laut, vielleicht sollte sie über die Feiertage doch wieder über einen Umbau der Küche nachdenken und ihre alten Entwürfe herausholen, das laute Ungetüm wird auf jeden Fall keinen Platz mehr haben. Nie hat Heinrich zugegeben, dass er damals eigentlich gar nichts im Haus und auf dem Hof verändern und noch nicht einmal auf diese hässliche Uhr verzichten wollte, und so haben sie bei ihrem Einzug nur die sandfarbenen Kacheln entfernt, die Wände neu verputzt und weiß gestrichen und das neue Brett für ihre Kannen und Krüge angebracht.

    Wie jeden Morgen ist Heinrichs Platz leer, hängt seine braune Strickjacke über der Stuhllehne, vor einem Jahr ist er gegangen, so denkt sie immer noch, als wäre er nur für ein paar Tage weggefahren. Doch mittlerweile tröstet auch dieser Gedanke nicht mehr, heute ist sein erster Todestag, und während ein neuer Kaffee durchläuft, sieht sie aus dem Fenster. Regen so dicht wie Schnüre, breite Pfützen auf dem rechteckigen Hof zwischen den drei Gebäuden, doch vor dem Büro steht ein unbekannter, schwarzer Wagen. Sofort erinnert sie sich an den Besuch der beiden dicken Kühnes vom Vortag, als sie frech und siegessicher ihr Angebot wiederholt haben und der Jüngere sie dabei auch noch schamlos gemustert hat. Vielleicht sitzt er dort schon wieder in seinem Wagen und bereitet die nächste Unverschämtheit vor? Sie nimmt den letzten Schluck Kaffee und steigt im Hausflur in ihre Gummistiefel, zieht den gefütterten Regenmantel an und öffnet die Haustür.

    Der schwarze Porsche mit Berliner Kennzeichen ist abgeschlossen, auf dem Rücksitz liegt eine Reisetasche, die Motorhaube ist kalt und Marlene ist auf einmal hellwach. Der Wagen muss Jakob gehören, wer sonst würde einfach seinen Wagen hier abstellen? Vielleicht ist er noch ein paar Schritte in die Felder gegangen, aber bei dem dichten Regen eher unwahrscheinlich, womöglich hat er im Schuppen Schutz gesucht, und als sie die schwere Holztür öffnet, kann sie gerade bis zur hinteren Rückwand blicken und dort im schwachen Licht des kleinen Fensters einen ausgerollten Schlafsack im Heu sehen. Der junge Mann schläft auf der Seite, sein braunes Haar steht struppig vom Kopf, und der rechte Arme bedeckt das Gesicht, er schläft so fest, dass ihn auch das Knarren der Tür nicht geweckt hat. Also doch Jakob, leise schließt sie die Schuppentür und stolpert mit mulmigem Gefühl im Magen wieder zurück ins Haus.

    In der Küche setzt sie Teewasser auf und zieht Heinrichs dicke Strickjacke an, aber das Frösteln hört nicht auf. Nachdem sich Jakob vor einem Jahr weder auf ihren Anruf gemeldet hat noch zur Beerdigung gekommen ist, hat sie nicht mehr damit gerechnet, noch etwas von ihm zu hören. Doch dann hat er über seinen Anwalt mitteilen lassen, dass er auf der Auszahlung seines Erbteils besteht, und in den letzten Monaten sind diese Schreiben im Ton schärfer und im Inhalt beunruhigender geworden. Jetzt spürt sie wieder das rhythmische Stechen über den Augen, das in letzter Zeit immer Kopfschmerzen ankündigt, geübt reibt sie mit den Zeigefingern über ihre Schläfen und schließt die Augen. Der Feiertag wird wohl doch unruhiger werden, als sie es sich noch vor dem ersten Kaffee vorgestellt hat.

    Als der neue Kaffee fertig ist, klingelt es. So schnell hat sie nicht mit ihm gerechnet, rasch zupft sie die viel zu große Strickjacke in Form, zieht sie dann doch wieder aus und hängt sie zurück über die Stuhllehne, dann streicht sie ihre feuchten Haare nach hinten und spannt ihren Körper an.

    Nachdem sie ein paar Mal tief durch geatmet hat, geht sie durch den Flur und öffnet die Haustür. Jakob scheint gleichfalls zu frieren, denn er hat den Kragen seines grauen Jacketts hoch geschlagen, und die schwarze Stoffhose ist ähnlich zerknittert wie sein Gesicht.

    „Guten Morgen".

    Seine Stimme ist so dunkel wie damals auf der Ansage seines Anrufbeantworters und klingt wie die ihres Mannes, seine Augen unter den dichten Augenbrauen sind fast schwarz.

    „Ja, komm’ rein", sagt sie und tritt zur Seite.

    Für Sekunden stehen sie unschlüssig im engen Flur, stumme Sekunden, die wie Minuten scheinen.

    „Ich habe gerade frischen Kaffee aufgegossen", sagt sie dann und geht in die Küche.

    Er folgt ihr, und seine Ledersohlen klacken bei jedem Schritt auf dem Mosaiksteinboden, genau das richtige Schuhwerk für einen Besuch auf dem Land, denkt sie und holt aus dem Küchenschrank ein zweites Gedeck. „Hast du Hunger?"

    „Schon, ja."

    „Ich könnte Rührei machen, mit Kräutern oder mit Speck?"

    „Gerne mit beidem", antwortet er und setzt sich auf Heinrichs Platz.

    Er hätte fragen müssen, wie eine erstarrte Säule steht sie in der Tür und wartet darauf, dass er wieder aufsteht und sich auf die Eckbank setzt, doch seine Augen wandern stattdessen durch die Küche, also geht sie zur Küchenzeile, holt alle Zutaten aus dem Kühlschrank und macht eine Herdplatte an. Während sie Eier, Milch und Kräuter in einer Schüssel verrührt, die schwere, gusseiserne Pfanne vom Haken holt, darin zuerst den Speck anbrät, ihn zur Seite schiebt und dann die flüssige Eiermasse in die Pfanne gibt, spürt sie Jakobs Blicke in ihrem Rücken.

    „Müde?", fragt sie.

    „Ja, ziemlich."

    Nun wendet sie das langsam stockende Rührei und zerteilt es mit einem Pfannenheber, salzt und pfeffert es und schiebt es auf einen Teller. „Wann bist du gekommen?"

    „So gegen vier."

    „Und warum hast du nicht vorher angerufen?", fragt sie und stellt den gefüllten Teller auf den Tisch.

    „Im Auto war es mir doch zu unbequem und da bin ich lieber in den Schuppen", antwortet er und schiebt schon den ersten Bissen in den Mund.

    Schnell stopft er Brot, Eier und Speck in sich hinein und hält das Besteck genauso wie Heinrich.

    Sie füllt sich eine neue Tasse Kaffee, obwohl ihr ein dritter selten gut bekommt. „Auch einen?"

    „Gerne, bitte schwarz, antwortet er, wischt sich dann mit der Papierserviette über den Mund und lehnt sich zurück, seine Blicke streifen über den Tisch und die Einbauschränke hinüber zum Fenster. „Alles noch genauso.

    „Heute ist sein Todestag", sie stellt seinen Kaffee auf den Tisch.

    „Ich weiß, seine Stimme klingt auf einmal müde, „war er krank?

    „Dr. Basten meinte, es ist ein plötzlicher Herzstillstand während des Schlafes gewesen, Heinrich hat wohl nichts mitbekommen", antwortet sie und lehnt sich an die Küchenzeile.

    Jakob beißt in das nächste Brot und kaut eine Weile. „Den Basten … den gibt’s also auch noch", nuschelt er mit vollem Mund.

    Seine buschigen Augenbrauen und die lange Nase dominieren das schmale Gesicht, die Wangen sind blass und unrasiert und die Lippen breit und sanft geschwungen. Haare, Mund und Nase hat er wohl von seiner Mutter, aber von Heinrich auf jeden Fall Statur, Hände und Stimme. Dass zwei Menschen zum Verwechseln ähnlich sprechen können, hat sie nicht für möglich gehalten.

    „Er war fit für sein Alter", sagt sie und erschrickt über ihre Antwort, denn natürlich hätte sich Heinrich darüber geärgert, da ihm ihr großer Altersunterschied doch viel ausgemacht hat. Dass sie sich nicht früher kennengelernt haben, hat er oft bedauert, denn nun hat er ihr nur noch graue Haare auf alter Haut anzubieten.

    „Sein Cholesterin war ein wenig erhöht, aber wer hat das nicht heutzutage? Sonst war alles in Ordnung, er war kerngesund", sagt sie hastig, jetzt könnte ruhig das Telefon klingeln, sie würde gerne die Küche verlassen und ein belangloses Gespräch mit Sabine oder selbst mit Mutter führen.

    „Ich würde gerne ein oder zwei Tage bleiben, gestern auf der Fahrt habe ich daran gedacht, doch mal wieder in dem alten Kasten hier zu schlafen."

    Das kann sie ihm schlecht abschlagen, er ist Heinrichs Sohn, und sie sollten auch endlich das Erbe regeln, langsam beginnt sie den Tisch abzudecken. „Ja, natürlich, sagt sie und stellt das benutzte Geschirr in die Spülmaschine, „das Haus ist groß genug, und dein Zimmer oben unterm Dach gibt es auch immer noch.

    „Auch die alten Legosteine?, zum ersten Mal lächelt er, „aber ich kann natürlich auch ins Hotel gehen.

    „Das Bett müsste bezogen sein und Handtücher findest du im Bad", sagt sie so ruhig wie möglich und dreht sich zu ihm um. Er sitzt auf Heinrichs Platz und schiebt sich das letzte Stück Brot so ruhig und selbstverständlich in den Mund, als würde er jeden Morgen hier frühstücken.

    Als er die Küche verlässt und mit beiden Händen in den Hosentaschen über den aufgeweichten Hof zu seinem Wagen geht, öffnet sie das Fenster und nimmt ein paar tiefe Atemzüge um sich wieder zu beruhigen. Er hat auch noch den gleichen Gang wie sein Vater, mit großen Schritten und nach hinten gestrecktem Oberkörper, sie muss die Augen schließen, doch der Schwindel bleibt, also umklammert sie den Fenstergriff wie einen Rettungsring und versucht ruhig weiter zu atmen. Ein, zwei Tage nur, das wird sie aushalten. Schon kommt er mit seiner Tasche zurück, sie schließt das Fenster und setzt sich auf Heinrichs Platz, da hört sie bereits seine Schritte auf den knarrenden Treppenstufen. Er ist zurück, und sie wird die nächsten beiden Tage nicht mehr alleine im Haus sein. Doch das fühlt sich noch schlechter an, als alleine zu sein. Da Heinrich irgendwann nicht mehr von seinem Sohn gesprochen hat, hat sie auch aufgehört, nach ihm zu fragen. Natürlich hat sie ihn vor einem Jahr sofort angerufen und erinnert sich noch daran, dass seine Stimme auf dem Anrufbeantworter so sehr nach seinem Vater geklungen hat, dass sie die Verbindung gleich wieder unterbrochen hat. Beim zweiten Versuch hat sie dann den Hörer fest ans Ohr gedrückt und der tiefen Stimme gelauscht, die den Namen Hartmann genauso wie Heinrich auf der zweiten Silbe betont, beim dritten Anruf hat sie versucht, sich den mittlerweile Dreißigjährigen vorzustellen, und erst beim vierten Anruf hat sie endlich auf das Band sprechen können.

    Aus dem Dachgeschoß keine Geräusche, rasch zieht sie im Flur Gummistiefel und Mantel an und geht hinüber ins Büro, überfliegt die gegenseitigen Anwaltsschreiben des letzten Jahres, studiert die Bilanzen der vergangenen drei Jahre und sieht sich auch die aktuellen Zahlen an, denn für die Gespräche mit Jakob will sie gut vorbereitet sein.

    2

    Die Absätze ihrer Stiefel haben bei jedem Schritt auf dem Steinboden der Sparkasse laut gehallt, als sie eine Woche nach Heinrichs Tod dem korpulenten Zweigstellenleiter Pfitzner in sein Büro gefolgt ist. Mit ruhiger Hand hat er zuerst in den Unterlagen geblättert und ihr dann mit monotoner Stimme die aktuellen Zahlen erklärt, auf Grund eines Beinahekonkurses hatten sie vor der Hochzeit nicht nur eine Gütertrennung verfügt, sondern auch, dass die Bauunternehmung vorerst weiterhin alleine auf Heinrichs Namen eingetragen blieb. Leider hatten sie später nicht mehr daran gedacht, dies wieder zu ändern. Die Zahlen haben Marlene an diesem sonnigen Vormittag nicht überrascht, da sie erst zwei Monate zuvor auf ihr Drängen hin das viergeschossige Stadthaus in der Kordulastraße ersteigert hatten, von dem sie sich nach Renovierung und Wiederverkauf einen guten Gewinn versprochen haben. Der gesamte Besitz ist also nach Heinrichs Tod maximal belastet gewesen, und die privaten Konten haben unter dem Strich exakt soviel Guthaben gezeigt, um die Kosten für Beerdigung und Grabstelle zu begleichen. Als sie Herrn Pfitzner daraufhin um eine vorläufige Schätzung zum Wert des gesamten Besitzes gebeten hat, hat er sich nicht festlegen wollen, und erst nachdem sie ihm erklärt hat, nicht alleinige Erbin zu sein, hat er zunächst seine Krawatte gelockert und dann mit goldenem Kugelschreiber flink ein paar Zahlenreihen auf einen Block geschrieben, hat addiert, dividiert und subtrahiert und sie anschließend wie ein Oberlehrer über seine Brille angesehen. „Zum Wert des Betriebes kann ich derzeit nichts sagen, hat er mehr geflüstert als gesprochen, „alles wird davon abhängen, wie gut und rasch sie das neue Objekt veräußern können, sie wissen ja, wie kritisch wir das beurteilen. Und der alte Hof, nun ja, wer möchte heute noch so etwas haben? Allenfalls ein Liebhaber. Alles zusammen, abzüglich aller Verbindlichkeiten, aber bitte, Frau Hartmann, das ist nur eine vorläufige Schätzung und natürlich alles ohne Gewähr, eine knappe Million vielleicht. Sie wissen ja selbst, der Wohnungsmarkt ist derzeit sensibel in jegliche Richtung.

    Als sie das Büro abschließt und über den matschigen Hof zum Haus zurückgeht, hat sie Pfitzners hämisches Grinsen von damals wieder in ihre wohl gehütete Erinnerungskiste verbannt. Damals sind die Zahlen schlecht gewesen, aber derzeit ist das Geschäft wieder auf einem guten Weg, vier Wohnungen in der Kordulastraße sind bereits verkauft, für die beiden größten Wohnungen gibt es einen ernsthaften Interessenten und der Zuschlag für das nächste Objekt in der Poststraße steht unmittelbar bevor. Möglicherweise ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um mit Jakob persönlich zu verhandeln und die Verhärtungen der letzten Wochen zurückzunehmen, mit einigem Geschick kann sie sich vielleicht schon in den beiden nächsten Tagen mit ihm einigen.

    Nachdem sie ihn weder in der Küche noch im Wohnzimmer findet, geht sie ins Dachgeschoß und klopft an seine Zimmertür. Nie kommt sie hier hinauf, Heinrich hat ihr nach ihrem Einzug das frühere Zimmer seines Sohnes einmal gezeigt und dabei ist es geblieben. Nach dem dritten Klopfen öffnet sie die Tür, das schmale Bett ist mit einer bunten Tagesdecke bezogen, beide Flügel des großen Fensters sind geöffnet, als solle der Geruch der Vergangenheit

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1