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In Sippenhaft: Ein Hannah Vogelsang Krimi
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eBook323 Seiten4 Stunden

In Sippenhaft: Ein Hannah Vogelsang Krimi

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Über dieses E-Book

"Ich ziehe den Kopf wieder zurück und lausche. Nichts. Nur ein paar Blätter rascheln, als der aufflackernde Wind sie über den Hof fegt.
Dann kracht ein Schuss."


Zwei Männer, erschossen an einer Autobahnraststätte. Der eine: Klempner. Der andere: hochdotierter Unternehmensanwalt. Was verband die beiden? Was führte sie diesen Ort? Warum mussten sie sterben?

Hannah Vogelsang, unangepasste Bielefelder Kriminalpolizistin, tappt zunächst völlig im Dunkeln.

Und als wäre der knifflige Fall nicht schon genug, ist da auch noch die neue Kollegin Nicola - undurchdringlich, ambitiös, viel zu attraktiv - die Hannah völlig durcheinander bringt.

Die atemlose Suche nach dem Täter führt Hannah tief ins Umfeld der beiden Opfer – und fördert einiges zu Tage, was mächtig stinkt. Außerdem tritt sie mal wieder Leuten auf die Füße, mit denen man sich lieber nicht anlegt. Und nebenbei kommt sie auch noch Nicolas traurigem Geheimnis auf die Spur.

Beim Showdown mit einem unerwarteten Gegner muss Hannah ihre Fehler teuer bezahlen ...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum16. Mai 2014
ISBN9783844293395
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    Buchvorschau

    In Sippenhaft - Annette Hurrelmann

    Kapitel 1

    Auf dem Parkplatz

    Ich habe nie gut schlafen können, schon als kleines Kind nicht. Über die Jahre habe ich mich damit abgefunden, dass ich mich jeden Abend ein, zwei Stunden in den Kissen herumwälze, bevor ich Schlaf finde. Dadurch habe ich zumindest am Ende des Tages etwas Zeit für mich und meine Gedanken.

    Trotzdem, als mich an diesem Montagmorgen das Telefon weckt und die Anzeige an meinem Radiowecker 2:37 Uhr blinkt, würde ich viel darum geben, diese zwei zusätzlichen Stunden Schlaf gehabt zu haben. Ein Anruf um diese Zeit bedeutet unweigerlich, dass es mit der Nachtruhe vorbei ist. Ich taste schlaftrunken nach dem Hörer und führe ihn zum Ohr.

    „Raststätte Bielefeld", sagt Müller, bevor ich es überhaupt geschafft habe, mich zu melden. Eindeutig steht ihm der Sinn nicht nach langen Einleitungen oder Höflichkeiten.

    „Bin gleich da", sage ich und lege auf. Mehr Worte braucht es zwischen mir und meinem Chef nicht.

    Ich muss mich unter Shabas langen Gliedern herauswinden, um aus dem Bett zu steigen. Für sie ist das Wort ‚Schlafprobleme’ ein Fremdwort. Sie taucht ins Land der Träume ab, sobald das Licht gelöscht ist, und dann können weder Telefon- oder Weckerklingeln noch Schütteln und Anschreien sie wieder zurückholen bis genau zu der Zeit, wo  ihre innere Uhr sagt, dass sie aufstehen muss. Ohne Zweifel ist Shaba, eigentlich Shabnam Bahrami, ihres Zeichens Bielefelds wagemutigste Taxifahrerin und außerdem die größte Herzensbrecherin der lokalen Szene, ein ganz besonderer Mensch.

    Sie schläft ungerührt weiter, während ich aus dem Bett steige, mir Unterwäsche, Jeans, Socken und Pullover überstreife, und kurz im Badezimmer verschwinde, um zumindest schnell die Zähne zu putzen und vor dem Spiegel die dunkelblonden Dreadlocks zurechtzuschütteln. Dann schlüpfe ich in Stiefel und Lederjacke, ziehe die Wohnungstür hinter mir zu, bin auf dem Weg.

    An der Autobahn A2, die sich im Osten an Bielefeld vorbeischwingt, liegt die Autobahnraststätte Bielefeld kurz vor der Abfahrt Zentrum. Das ist an sich nicht weit, nur muss ich erst ewig die Herforder Straße nach Norden fahren, um die richtige Auffahrt zu erreichen. Zum Glück ist um diese Zeit praktisch kein Verkehr, so brauche ich trotzdem nicht mehr als 20 Minuten, bis die Hinweisschilder zur Raststätte aus der Dunkelheit auftauchen.

    Ich glaube nicht, dass ich schon einmal hier war. Die Orte, die vor der eigenen Haustür liegen, kennt man oft am wenigsten. Zuerst sehe ich eine Tankstelle, hell erleuchtet und offensichtlich geöffnet. Da dort aber keine Menschenseele zu erkennen ist, folge ich weiter der Fahrspur, die hinter dem Tankstellengebäude vorbei zum Parkplatz führt. Dann gabelt sich der Weg. Rechts geht es zu den Stellplätzen für LKWs, auf denen ein Autotransporter mit mehreren Kleinwagen und ein weißer Lastwagen mit Kofferaufbau parken. Die linke Spur führt vorbei an einem Restaurant, das dunkel und unbelebt daliegt, zum Parkplatz für Personenwagen und zum Picknickbereich. Dort hinten sehe ich das Blinken der Blaulichte und den starken Schein der Leuchten, mit denen unsere Techniker nächtliche Tatorte ausleuchten.

    Ich stelle meinen mintgrünen Polo neben den Polizeifahrzeugen ab und steige aus. Das rotweiße Absperrband ist unnötig, denn Schaulustige sind keine da. Ich schlüpfe darunter durch und bleibe erst mal stehen, um die Szene auf mich wirken zu lassen.

    Müller, von dem ich alles gelernt habe, was ich über Mordermittlungen weiß - und das ist nicht wenig - schwört darauf, dass der erste intuitive Eindruck vom Tatort besonders wichtig ist. Schau dir alles erstmal aus der Entfernung an, und lass eine Vision entstehen, was sich abgespielt haben könnte. Mein erster Gedanke ist, dass irgend ein entscheidender Teil des Bildes fehlt. Ich kann es nicht konkret benennen, aber mein Gefühl sagt, dass ich nicht alles sehe, was ich sehen sollte.

    Was ich sehe  außer  den Technikern, Fotografen und Leuten von der Spurensicherung, die bereits herumwuseln - sind zwei Autos, die nebeneinander auf einem der Parkstreifen abgestellt sind. Eins ist ein weißer VW-Transporter mit Bielefelder Kennzeichen, das andere ein fetter dunkelblauer Audi A8, der vor Sauberkeit im Licht der Tatortlampen glänzt. Das  Nummernschild weist ihn als dem Landkreis Lippe zugehörig aus. Die Wagen sind vorwärts eingeparkt, aber während der Lieferwagen sich ordentlich an seine Parklücke hält, steht der Audi schief da und blockiert so mindestens anderthalb Stellplätze. Auf dem leeren Parkplatz ist das natürlich völlig egal - aber es kommt  mir merkwürdig vor, dass dieses  so sorgfältig gepflegte Auto  so nachlässig abgestellt wurde.

    Die Fahrertür des A8 ist geöffnet, daneben auf dem Asphalt liegt die Leiche eines Mannes. Ich trete näher heran, um ihn mir genauer anzusehen. Es ist ein großgewachsener Mittfünfziger mit asketisch schlankem Körperbau und schütteren graublonden Haaren. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug aus edlem Stoff, unter dem ein blütenweißes Hemd mit akkurat gebundener blauer Krawatte herausschaut. In der Mitte seiner Stirn ist ein kleines, sauberes Einschussloch.

    „Sofort tot?" frage ich Robert Brandner, unseren Gerichtsmediziner, einen niedlichen jungen Österreicher, der neben dem Toten auf dem Boden hockt. An seiner Seite steht die abgestoßene lederne Arzttasche, die er von seinem Großvater geerbt hat, der ebenfalls Gerichtsmediziner war.

    „Davon gehe ich aus. Endgültig kann ich das aber aber erst nach der Obduktion sagen. Ich schätze, er ist seit einer guten Stunde tot."

    Müller ist hinter mich getreten. „Hallo, Hannah. Tut mir leid, dass ich dich so früh aus dem Bett werfen musste."

    Müller ist ein sanfter Mann mit rundem Kopf, rundem Bauch und einem großen Herzen. Über die vier Jahre, die ich mit ihm nun zusammenarbeite, ist er so etwas wie ein zweiter Vater für mich geworden. Ein zweiter Vater, der mir inzwischen viel näher steht als mein eigentlicher, erster Vater. Zu Müllers vielen guten Wesenszügen zählt der absolute Respekt, den er den Fähigkeiten seiner Mitarbeiter entgegenbringt. Niemals habe ich es erlebt, dass er sich als allwissender Boss aufspielt, oder dass er unsere Theorien oder Ideen zu einem Fall geringschätzig abtut.

    Zudem, und auf diese Eigenschaft Müllers habe ich leider schon mehrfach in meiner Karriere bei der Bielefelder Polizei zurückgreifen müssen, ist er immer bereit, sich schützend vor seine Leute zu stellen. Er tut das ohne Rücksicht auf sein Ansehen und die eigenen Zukunftsaussichten in unserem Betrieb. Letztendlich ist Müller aber wahrscheinlich sowieso einfach ein zu guter Mensch, um es in seiner Karriere noch viel weiter zu bringen, als bis zu seiner jetzigen Position. Ihm fehlen der Machthunger, der politische Verstand und die Bereitschaft, über andere Menschen hinwegzutrampeln.

    Nur eins gibt es, was mich an Müller befremdet, das ist seine Religiosität. Mit seiner Familie, die aus einer freundlichen blonden Frau und zwei wohlgeratenen blonden Töchtern mit Pferdeschwänzen besteht, geht er eisern jeden Sonntag in den Gottesdienst - in den katholischen. Ich habe Vorbehalte gegen institutionalisierte Religion im Allgemeinen und gegen diese Ausprägung im Besonderen. Aus gutem Grund, wie ich finde, denn wie du mir so ich dir ... Doch Müller lebt seinen Glauben auf eine so liberale und private Art und Weise aus, dass ich mich daran nicht wirklich stoßen kann. An sich selbst hat er die höchsten moralischen Ansprüche, aber nichts steht ihm ferner, als über andere zu urteilen oder ihnen den richtigen Weg weisen zu wollen. Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass er mit meiner Lebensführung auch nur die kleinste Schwierigkeit hat.

    Allerdings zahle ich Müller die großen Verdienste, die er zweifellos um mich hat, auch in barer Münze zurück. Ich bin eine gute Polizistin, selbst wenn ich manchmal zu impulsiv handle oder unbedacht den falschen Leuten auf die Füße trete. Er weiß, dass er sich auf meine Hingabe an diesen Job und auf meinen Instinkt verlassen kann - vor allem aber auf meine Loyalität. Ich würde mich, ohne einen Augenblick zu zögern, für Müller vierteilen lassen.

    „Nicola und Peter sind auch gerade gekommen. Er legt seine Hand auf meine Schulter. „Lass uns eine kurze Lagebesprechung machen, die weiteren Aufgaben verteilen.

    Peter Trimmer und Nicola Ostermann sind die beiden weiteren Mitglieder meiner Ermittlungsgruppe.

    Trimmer ist hinter Müller der nächsthöchste im Dienstrang. Er ist ein völlig anderer Mensch, ein ekeliges kleines Männchen, das sich die Haarsträhnen über die Glatze klebt - wahrscheinlich mit Spucke - und es nicht für nötig hält, mit seiner Xenophobie, Misogynie und Homophobie hinter dem Berg zu halten. Damit reizt er mich ständig bis aufs Blut. Heute trägt er eine große grüne Lodenjacke, in der er aussieht wie ein Oberförster auf der Pirsch, und darunter ein kariertes rotes Hemd, das mindestens zehn Jahre alt ist. Mit seinem feuchten Mündchen saugt er an einer seiner obligatorischen Kippen.

    Ich weiß, dass Müller große Stücke auf Trimmers Fähigkeiten hält, und ich muss zugeben, dass er tatsächlich ein Meister darin ist, jede nur erdenkliche Information über eine Person aus den verborgensten Ecken herauszukitzeln. Aber ich bin auch der Meinung, dass seine Vorurteile die Qualität seiner Arbeit erheblich beeinträchtigen. Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen, diese Einschätzung, wann immer möglich, deutlich kundzutun. Laut Müller benehmen wir uns wie zwei räudige Hinterhofkatzen, ständig damit beschäftigt, einander die Krallen ins Gesicht zu schlagen.

    „Das ist ein Tatort hier, sage ich zu Trimmer, „da kannst du doch nicht alles mit deiner Zigarettenasche besudeln.

    „Hör auf mit dem Herumgezicke schießt er zurück. „Das fegt alles der Wind weg.

    „Schluss jetzt damit, fährt Müller dazwischen, „wir haben wirklich Wichtigeres zu tun, als uns hier gegenseitig anzublöken. Dann verfliegt sein Ärger so schnell, wie  gekommen , und er fragt Nicola: „Alles unter Kontrolle bei dir zu Hause? Wenn nötig, kann dich jederzeit jemand zurückfahren."

    Sie schüttelt abwehrend den Kopf. „Toni schläft tief und fest, vor sieben Uhr wacht die nicht auf."

    Nicola ist das neueste Mitglied unseres Teams, erst vor gut sechs Wochen ist sie von der Kölner Kriminalpolizei zu uns gekommen. Sie ist alleinerziehende Mutter einer fünfjährigen Tochter - wobei ich erst dachte, es sei ein Sohn, weil sie immer von ‚Toni’ spricht, wenn sie ihr Kind erwähnt. Aber dann wurde ich eines Besseren belehrt.

    Vor einer Woche, als ich mit Shaba am Samstagnachmittag im  Herbstsonnenschein einen kleinen Bummel durch den Park machte, entdeckte ich Nicola und ihr Kind am Teich beim Entenfüttern. Die Kleine war ganz eindeutig ein Mädchen, eine Art Miniaturausgabe ihrer Mutter mit denselben schulterlangen gelockten dunklen Haaren und klaren grünen Augen, nur zuzüglich einer kleinen Prise Babyspecks.

    „Komm, lass uns rübergehen, ich stelle euch vor", sagte ich zu Shaba, die sich nur widerwillig  fügte.  Denn erstens hat sie ein ziemlich ausgeprägtes Gespür dafür, wenn ich an einer anderen Frau auch nur ein ganz winziges bisschen interessiert bin. Sie selbst besteht auf einer offenen Beziehung, will mir gegenüber niemals über ihr Kommen und Gehen Rechenschaft ablegen und zieht reihenweise andere Frauen durchs Bett - doch zugleich ist sie kleinkariert eifersüchtig, wenn es um mich geht. Der zweite Grund ist, dass Shaba Kinder nicht ausstehen kann. Vielleicht liegt es daran, dass sie selbst drei jüngere Schwestern hat, auf jeden Fall ist für sie jeder Mensch, der noch nicht die Volljährigkeit erreicht hat, in etwa so attraktiv wie eine Kakerlake. Umgekehrt können Kinder Shaba allerdings auch nicht riechen.

    Das erste, was Nicolas Tochter zu Shaba sagte, war: „Du siehst aus wie eine Ente."

    „Antonia!", sagte Nicola entsetzt, womit zumindest das Rätsel um den Namen gelöst war.

    Ich aber musste fürchterlich lachen, denn eine Ente ist nun wirklich das letzte Tier, mit dem Shaba Ähnlichkeit hat. Eher erinnert sie an eine Giraffe, wegen ihrer Größe, oder an einen schwarzen Panter, weil sie so dunkel, geschmeidig und sexy ist. Und ständig auf Beutezug.

    „Und du, gab sie natürlich sofort zurück, „siehst aus wie eine Nervensäge.

    Worauf es an mir war, tadelnd „Shaba, also bitte!" zu sagen.

    Als Shaba und ich dann nach einem kurzen und auf beiden Seiten eher verkrampften Gespräch in die andere Richtung abgingen, hörte ich noch mit halbem Ohr, wie Antonia zu ihrer Mutter sagte: „Und die andere sieht aus wie ein Bär. An der Nase."

    Weder meine Nase noch meine Statur an sich haben viel mit einem Bären gemein - Gott sein Dank. Trotzdem war mir in diesem Fall der Bezug sofort klar: Ich trage einen kleinen silbernen Ring durch meinen linken Nasenflügel, den die Kleine assoziiert haben muss mit dem Bild vom Tanzbären in irgendeinem Zirkusbilderbuch.

    „Das Opfer heißt Hans-Hermann Zeisler, sagt Müller. „Dr. Hans-Hermann Zeisler, um genau zu sein. Er ist 54 Jahre alt und wohnhaft in Oerlinghausen. Der Audi ist sein Wagen. Seine Brieftasche mit Ausweis, Zulassungspapieren und 200 Euro in bar steckte in der Innentasche seines Mantels, der auf dem Rücksitz des Wagens lag. Raubmord können wir als Mordmotiv damit wohl schon ausschießen. Zeisler war Partner in der Kanzlei Zeisler, Knopf & Partner, das geht aus den Papieren hervor, die wir in seiner Aktentasche gefunden haben. Sagt das einem von euch was?

    Trimmer hat ein fotographisches Gedächtnis zu solchen Dingen. „Zeisler, Knopf & Partner ist vor etwa 15 Jahren von Hans-Hermann Zeisler und seinem ehemaligen Studienkollegen Friedrich Knopf gegründet worden. Damals hieß die Kanzlei nur Zeisler & Knopf. Sie war spezialisiert auf Unternehmensrecht - Zeislers Domäne - und Steuerrecht - dafür ist Knopf zuständig. Dann, nach ein paar Jahren, stieg eine dritte Person ein, eine Frau,  Expertin für geistiges Eigentumsrecht."

    Er schiebt seine Kippe in den anderen Mundwinkel. „Die hat es aber nicht lange ausgehalten, wahrscheinlich war der Laden eine Nummer zu hoch für sie ... Seitdem sind Zeisler und Knopf wieder allein, von der Dame ist nur das ‚& Partner’ im Namen zurückgeblieben."

    „Danke, Peter, sagt Müller. „Zeisler ist durch einen Kopfschuss getötet worden, aus etwa fünf, sechs Meter Entfernung, meint der Doktor. Gefunden wurde der Tote von einem tschechischen Lastwagenfahrer, der hier die Nacht verbracht hat. Der ist dann zur Tankstelle gelaufen, um die Polizei zu verständigen.

    „Was ist mit dem Lieferwagen hier?, frage ich. „Wo ist der Fahrer?

    Müller zuckt die Achseln. „Wissen wir nicht. Wir haben uns den Wagen noch nicht näher angesehen. Die Fahrertür ist nicht abgeschlossen, die Kabine leer, bis auf ein bisschen Krimskrams. Bleistifte, ein Rechnungsblock, Butterbrotpapiere und so. Aber es ist ja klar, wo wir nachforschen müssen."

    In der Tat kann es keinen Zweifel darüber geben, woher der Wagen stammt. „Klempnerei Glembowski - ihr Spezialist für Abwassersysteme" steht in fetten schwarzen Buchstaben auf der Seite des Wagens. Darunter ist ein langes silbernes Rohr gemalt, das über die gesamte Seite des Fahrzeugs läuft und aus dem vorne ein Tropfen Wasser quillt. Vielleicht habe ich ja eine dreckige Phantasie, aber ich denke nicht unbedingt an Abwassersysteme, wenn ich mir das angucke.

    „Geschmackvolles Logo" sagt Nicola, die anscheinend eine ähnliche Assoziation hat. Sie macht ein paar Schritte zurück, um das Bild nochmal aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen - doch dann wird ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem gefesselt. Sie tritt vor, an die Hecktüren des Lieferwagens heran, und geht in die Hocke.

    „Guckt euch das mal an", sagt sie.

    Aus dem Spalt unter den Türen quillt eine rote Flüssigkeit heraus und läuft in einem dünnen Rinnsal über die Stoßstange. Unten löst sich ein Tropfen und platscht auf den Boden. Den nächsten Tropfen fängt Nicola mit ihrem Finger auf. „Das ist Blut."

    „Sofort die Türen auf", befiehlt Müller und ruft im selben Atemzug Brandner herbei.

    „Sakrament, stößt der hervor, als er in der Laderaum blickt. „Der hier hatte nicht so viel Glück.

    Als Glück würde ich das, was Zeisler geschehen ist, nun nicht unbedingt bezeichnen. Aber es ist klar,  dass der Mann im  Lieferwagen, anders als der Anwalt, einen heftigen und schmerzhaften Todeskampf hinter sich hat. Nicht nur seine Kleidung, Jeans und Wollpulli, sind rot getränkt, sein Blut ist auch über die gesamte Fläche des Laderaums verschmiert, als habe er sich gewunden und gewälzt. Selbst auf den Seitenwänden sind einige Zentimeter über dem Boden blutige Handabdrücke und Schmierspuren zu sehen.

    Der Doktor springt in den Wagen und beugt sich über den Körper. Dann schüttelt er zu uns hin den Kopf. „Ein Bauchschuss, sagt er. „Sieht aus, als sei er letztendlich verblutet.

    „Wann?", fragt Müller. Ich weiß, er befürchtet, dass wir vielleicht schon draußen gestanden haben, während der Mann starb, dass wir ihm eventuell hätten helfen können.

    „Nee, nee, sagt Brandner, der Müller auch verstanden hat. „Der ist schon mindestens eine Dreiviertelstunde tot – und vorher hätte man wahrscheinlich auch nichts mehr machen können.

    Er tastet in den Hosentaschen des Toten und findet einen Autoschlüssel, den er uns nach draußen reicht, aber keine Brieftasche oder sonstige Dokumente, die uns helfen könnten, den Mann zu identifizieren.

    „Oh, Mist, sagt er dann. „Jetzt bin ich in irgendwas reingetappt. Tut mir leid. Er hebt den Fuß und löst ein zusammengeknülltes Blatt Papier von seiner Schuhsohle. Vorsichtig, mit zwei behandschuhten Fingern, nehme ich es entgegen. Obwohl es blutgetränktist, lässt sich erkennen, dass es sich um eine Seite aus unserer Regionalzeitung handelt. Ich ziehe sie ein wenig auseinander und finde oben am rechten Rand das Datum: 14. Mai 1994.

    Wir tüten das Papier ein und machen dann Platz für die Fotografen. Müller schickt uns fort, um die Zeugen zu vernehmen. „Peter, du kümmerst dich um den tschechischen Fernfahrer. Nicola, geh rüber zur Tankstelle und befrage den Kassierer. Und für dich, Hannah, habe ich eine ganz besondere Aufgabe. Der zweite Lastwagenfahrer, der heute Nacht hier auf der Raststätte war, ist Belgier und spricht nur französisch. Und du bist ja diejenige hier mit einer klassischen Bildung."

    Das mit der klassischen Bildung stimmt zwar so weit, immerhin bin ich auf das angesehenste humanistische Gymnasium in Bielefeld gegangen - aber großartige Französischkünste hat mir das nicht eingebracht. An meiner Schule glaubte man vielmehr so sehr an den Bildungswert alter Sprachen, dass alle Kinder als erste Fremdsprache Latein lernen mussten. Für den Alltagsgebrauch nützliche Sprachen kamen im Curriculum dann leider erst später vor.

    Anstatt fließend auf Französisch parlieren zu können, habe ich also das große Latinum. Der praktische Wert davon geht gegen  Null,  abgesehen von der Tatsache, dass ich die ersten 15 Sätze des Gallischen Kriegs auswendig hersagenkann. Leider finde ich selten Gelegenheit, jemanden damit zu beeindrucken. Shaba andererseits haben auch ihre fehlenden Lateinkenntnisse noch nie daran gehindert, jede Frau aufzureißen, an der sie interessiert ist.

    Trotz auf Lateinunterricht verschwendeter Schuljahre kriege ich die Zeugenbefragung mit dem Belgier ganz gut über die Bühne. Jean-Marie Vandelamotte schiebt eine beeindruckende Wampe vor sich her und bläst mir eine heftige Bierfahne ins Gesicht. Seine Aussage: Er ist auf dem Weg von Berlin nach Brüssel, musste aber wegen des Sonntagsfahrverbotes hier einen Zwischenstop einlegen. Samstag gegen einundzwanzig Uhr ist er angekommen und hat den ganzen Sonntag auf dem Rastplatz verbracht, hauptsächlich mit Schlafen und Zeitung lesen. Am Abend hat er sich im Restaurant ein Abendessen und „un petit verre de bière genehmigt. Danach ist er in die Schlafkoje seines Lastwagens gekrochen und sofort eingeschlafen, nur um wenige Stunden später durch Polizeisirenen geweckt zu werden. Von dem „malheureux incident im anderen Teil des Parkplatzes hat er absolut nichts gehört oder gesehen.

    Ich frage ihn nach dem anderen Lastwagen, dem des Tschechen. Nach zweiundzwanzig Uhr müsse der angekommen sein, sagt Vandelamotte, denn der Parkplatz sei noch leer gewesen, als er einschlief.  Dann möchte er wissen, für wie lange ich ihn noch von seiner  Nachtruhe abhalten will. Ein Fernfahrer müsse früh raus und jetzt habe er ja nur noch ein paar Stunden, bis es hell würde, mault er. Dass es hundertfünfzig Meter entfernt von ihm vor nicht einmal zwei Stunden eine Schießerei mit zwei Toten gegeben hat, scheint ihn wenig zu bekümmern.

    „Dauert nicht mehr lange, versichere ich ihm. „Ich würde nur gerne noch schnell einen Blick auf Ihre Ladung werfen. Was transportieren Sie denn?

    „Des épices" sage er.

    Ich brauche einen Moment, um in meinem Gedächtnis zu kramen, aber dann erinnere ich mich. Épices sind Gewürze.

    „Ein ganzer Lastwagen voller Küchenkräuter?"

    Er beliefere mehrere belgische Supermärkte mit Produkten eines Gewürzproduzenten aus Berlin, erklärt er etwas eingeschnappt, da komme schon einiges an Ladung zusammen.

    Auf meine Bitte hin geht er widerwillig mit mir um sein Fahrzeug herum und öffnet die Hecktüren. Er holt mir sogar eine Kiste heraus, die tatsächlich 200 Gläschen geriebene Paprika enthält.  Ich nehme noch seine Personalien auf und lasse ihn dann ziehen. Befriedigt verriegelt Jean-Marie Vandelamotte die Ladetüren, und der Duft nach sonnendurchfluteten südlichen Kräuterhainen verschwindet in der ostwestfälischen Herbstluft. Es hat angefangen zu nieseln. Die Kollegen von der Spurensicherung werden alles andere als begeistert sein.

    Als Nicola, Trimmer und ich mit den  Zeugenbefragungen fertig sind, ist es halb fünf Uhr morgens. Die beiden Leichen sind bereits abtransportiert worden, und die Techniker packen ihre Ausrüstung ein.

    „Wir sind hier auch fertig, sagt Müller. „Wenn ihr auf dem Weg zurück noch für einen Moment zu Hause vorbeifahren wollt, um euch frisch zu machen, ist das in Ordnung.

    Dieses Angebot ist eindeutig auf Nicola gemünzt, die ja noch ihre Tochter wecken und kindergartenfertig machen muss. Ich biete ihr an, sie mitzunehmen. Das ist vernünftig, denn sie hat kein Auto, und ihre Wohnung liegt nicht weit von meiner in der Nähe des Siegfriedplatzes im Bielefelder Westen. Sonst müsste sie wieder mit Trimmer fahren und wäre seinem Zigarettenqualm ausgesetzt, ganz zu schweigen von seinem blöden Gelaber. Aber ganz uneigennützig ist mein Verhalten natürlich auch nicht , gibt mir die Fahrt doch ein paar Minuten allein mit Nicola.

    Als wir zum Auto gehen, fällt der Regen schon in dichten Fäden, und Windböen fegen über den Parkplatz. Ich schaffe es nur mit Mühe, die Tür zu schließen, weil sich der Wind darin fängt.

    Nicola fröstelt auf dem Beifahrersitz und zieht ihren Mantel enger um den Körper.

    „Ich habe die Heizung schon angeworfen, sage ich. „Es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis man etwas davon merkt.

    Mein Auto war nie eine Luxuslimousine, und jetzt ist es zwölf Jahre alt und in Sachen Komfort weit entfernt vom neusten Stand. Ich hänge trotzdem an ihm. Wir haben schon einiges zusammen erlebt, wovon nicht zuletzt seine zahlreichen Kratzer und Dellen zeugen. Bei aller Liebe fasse ich mein Auto eben nicht mit Samthandschuhen an - zu Shabas Entsetzen. Auch Müller misstraut aus unerfindlichen Gründen meinen Fahrkünsten. Deshalb schließt er mich weitgehend von der Benutzung unserer zwei Dienstwagen aus und hält es für besser, wenn ich in meiner eigenen alten Kiste unterwegs bin.

    Wir fahren schweigend, während die Luftschlitze hustend anfangen, zumindest lauwarme Luft in den Innenraum zu pusten. Nach einer Weile werfe ich einen unauffälligen Seitenblick auf Nicola. Sie schaut gedankenverloren aus dem Fenster in den noch schwarzen Morgenhimmel und hat offenbar kein Bedürfnis nach Konversation.

    Ich kann nicht genau in Worte fassen, was mich so an ihr fasziniert. Klar, zuerst einmal ist sie eine schöne Frau, mittelgroß und mit einer schlanken Figur, die eher Zähigkeit als Zerbrechlichkeit ausstrahlt, aber irgendwie doch von beidem ein bisschen. Sie ist schlicht, aber gut gekleidet, meistens dunkel, und trägt keinen Schmuck, außer einer silbernen Uhr mit schwarzem Lederarmband. Kein Ring. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe geguckt.

    Sie hat ein gleichmäßiges, intelligentes Gesicht mit einer schmalen, geraden Nase und hohen Wangenknochen, eingerahmt von dunklem Haar, das leicht gelockt auf die Schultern fällt. Durch ihre linke Augenbraue zieht sich eine mehrere Zentimeter lange, noch ziemlich frisch verheilte Narbe. Ich mag den entschlossenen, etwas herben Ausdruck um ihren Mund. Aber ich glaube, das wichtigste sind ihre Augen. Sie sind smaragdgrün und blicken aufmerksam und konzentriert, oft auch mit etwas spöttischer Distanz auf die Welt. Erst auf den zweiten Blick nimmt man die dunklen Schatten war, die diese Augen umgeben, und durch die ein müder und abgekämpfter Zug in Nicolas Gesicht tritt. 

    Es mag sein, dass das einfach der Preis ist, den sie als alleinerziehende Mutter in einem anstrengenden Beruf zahlt. Doch habe ich auch schon bemerkt, dass ihre Augen bisweilen, wie zum Beispiel jetzt, wo sie die dunkle Landschaft draußen vorbeiziehen lässt, ohne sie wirklich wahrzunehmen, einen verletzlichen und zugleich abweisenden, undurchdringlichen Ausdruck annehmen. Vielleicht wird sie doch von mehr gequält,  als nur von zu wenig

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