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Rethra
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eBook343 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Fabian Leuttner ist Volontär beim "Mitteldeutschen Tageblatt". Eines Tages erhält er von seinem Förderer und Herausgeber der Zeitung einen interessanten und zugleich brisanten Auftrag. Er soll herausfinden, warum Hajo Hapke, einer der führenden Archäologen in der ehemaligen DDR, plötzlich von der Bildfläche verschwand und mit ihm all seine Forschungsergebnisse.
Leuttner wird mit einer jungen Frau bekannt gemacht, was zu einer folgenschweren Begegnung führt. Schon auf dem gemeinsamen Weg zu Hapke wird deutlich, dass hinter diesem Auftrag weiterführende Interessen stehen.
Aufschluss darüber gibt ein tragisches Ereignis. Im Winter 1983 ereignete sich in einer vogtländischen Kleinstadt ein Verkehrsunfall, bei der eine Frau ihr Leben verlor. Der augenscheinliche und dafür verurteilte Unfallverursacher war der Archäologe Hajo Hapke. Aber der Unfall war kein Unfall. Tatsächlich handelte es sich um eine misslungenen Versuch des MfS, Hapke zu liquidieren. Als Hinweise auftauchen, dass der Herausgeber des "Mitteldeutschen Tageblatt" ein ehemaliger Oberstleutnant der Stasi war, werden langsam die wahren Hintergründe des Auftrages deutlich. Der ehemalige Oberstleutnant besitzt inzwischen nicht nur eine Zeitung und einen kleinen Verlag, sondern fördert auch private Ausgrabungen, um das westslawische Heiligtum Rethra zu finden. Als Führungsoffizier trug er die Verantwortung für die Ereignisse im Jahre 1983. Und es gibt ein Dokument, was dies eindeutig belegt. Er ahnt, dass Hapke ihm nicht nur gefährlich werden könnte, sondern auch, dass dieser den Schlüssel der genauen Lokalisierung Rethras in den Händen hält. Er muss pokern. Notfalls töten. Denn er will beides: seinen Widersacher ausschalten und dessen Forschungsergebnisse. Was er nicht weiß, ist, dass Hapke längst Vorbereitungen getroffen hat.
Der Volontär, Fabian Leutmer, und seine Begleiterin geraten in einen Sumpf von Verstrickungen, Machtspielen und wunderlichen Ereignissen. Ohne es zu ahnen, sind sie selbst zu Spielbällen geworden. Sie stehen längst unter Beobachtung und dies von beiden Seiten. Schließlich werden sie mit den verheerenden Auswirkungen einstiger staatlicher Willkür konfrontiert und müssen letztlich erkennen, dass sogar die eigenen Angehörigen verstrickt waren.
Als Fabian Leutmer endlich die ganze Wahrheit erfährt, ist es zu spät. Die Dinge nehmen ihren unheilvollen Lauf, doch eine Frage bleibt. Wird das Geheimnis Rethras endlich gelüftet werden?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Sept. 2013
ISBN9783847637578
Rethra
Autor

Jo Hilmsen

1966 Geboren in Altenburg (Thüringen)

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    Buchvorschau

    Rethra - Jo Hilmsen

    Kapitel 1

    Manche Erinnerungen sind wie ein Lächeln, andere verursachen ein Frösteln oder lassen einem die Schamesröte ins Gesicht schießen.

    Es gibt Erinnerungen, die schmecken süß, andere bitter. Manche möchte man für immer verbannen, manche ewig kosten.

    Keine Ahnung, aus wie vielen Erinnerungen ein Menschenleben bestehen kann. Und wozu sie eigentlich nützen. Und doch kommen sie manchmal wie von selbst. Die Bilder. Die Erinnerungen. Die Gespenster.

    Ich war töricht und naiv. Und verliebt. Mehr vielleicht, als ich es damals zugegeben hätte. Noch immer bleibe ich stehen, wenn mir eine Frau begegnet, die eine Ähnlichkeit mit ihr hat und sei es nur eine ganz kleine.

    Zorn oder gar Wut empfinde ich nicht mehr. Vielleicht wird man mit der Zeit tatsächlich versöhnlicher. Vielleicht ist das der eigentliche Sinn von Erinnerungen – Frieden zu schließen, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen. Wer weiß?

    Was ich weiß, ist, dass es mich fröstelt, wenn ich ihren Namen denke. Einfach so.

    Vittoria.

    Ich bleibe stehen, wenn mir eine Frau begegnet mit einer kleinen Ähnlichkeit und denke: Vittoria. Mehr nicht. Und dann kommt das Frösteln und dann ist es meistens auch gleich wieder vorbei.

    Der kalte Hauch einer Vergangenheit streift mich, wie ich es nenne. Dabei besteht diese Vergangenheit im Grunde nur aus ein paar Wochen. Und genauer betrachtet aus Tagen, einigen Stunden. Also gemessen an der Zeit, aus kaum mehr als Nichts.

    Manchmal hilft Laufen, manchmal Starren, manchmal nichts.

    Kapitel 2

    Es war im letzten Jahr meines Volontariats beim „Mitteldeutschen Tageblatt" in Halle an der Saale. 1997.

    Die Aussicht auf eine Stelle als Redakteur war, realistisch gesehen, ähnlich wahrscheinlich, wie Claudia Schiffer bei McDonalds zu treffen. Leute, die weitaus besser waren als ich, standen fürs Zeitungsschreiben Schlange, und ich zog bereits in Erwägung, mich in naher Zukunft eine Weile mit Kellnern oder irgendeinem anderen Job über Wasser zu halten. Doch ich wollte Artikel schreiben, recherchieren, wenn möglich Dinge aufdecken, die andere unter den Tisch kehrten. Ich wollte Journalist sein. Und ich wollte dafür kämpfen. Und dann bot sich diese Chance. Eine große Sache. Ein Aufblitzen an meinem beruflichen trüben Horizont. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, hätte ich mich anders entschieden.

    Als Günther Haas, mein damaliger Chef und Förderer, an jenem heißen Montagmorgen mein kleines Büro betrat, waren für mich die Würfel unumstößlich gefallen. Haas war mein Beschützer und fast so etwas wie ein Freund. Aber er war auch mein Verführer. Dünnhaarig, von kleiner Gestalt und ein bisschen grau im Gesicht. Sein, bereits aus der Mode gekommener, Strelson-Anzug wirkte knittrig und abgetragen, was ihn allerdings eher sympathischer machte.

    Und ich ließ mich widerstandslos von ihm umschmeicheln und ködern.

    „Ist das nicht ein Wetterchen?", waren die ersten Worte, die Haas zu mir sagte, um dann erst einmal laut und unglaublich nass zu niesen.

    „Gesundheit!", wünschte ich und fingerte mir eine Zigarette aus meiner Schachtel. Wenn der Chef mich in meinem Büro besuchte, dauerte es meistens eine Weile, bis er wieder ging. Haas nieste abermals. Diesmal gelang es ihm rechtzeitig ein Papiertaschentuch aus seiner ausgebeulten Hosentasche zu zupfen.

    „Dieser verdammte Heuschnupfen!, fluchte er. „Glauben Sie mir, Leuttner, es gibt nichts Übleres in dieser Stadt als eine Scheiß-Akazienallergie. Wir sind ja hier quasi von diesem Gestrüpp umlagert.

    „Das sind Robinien", flüsterte ich und zündete mir rasch die Zigarette an.

    „Was?"

    „Äh, die Bäume hier an der Straße sind Robinien. Wird auch die falsche Akazie genannt." Haas kniff die Augen zusammen.

    „Oh, ein Pflanzenexperte sind Sie auch noch. Na wunderbar!" Ich errötete.

    „Nun ja, so würde ich das nicht nennen. Frau Siewert hat mich aufgeklärt."

    „Frau Siewert? Hat ein bisschen einen Narren an unserem Volontär gefressen, unsere Frau Siewert." Haas grinste.

    Haas hatte an mir auch einen Narren gefressen, das wusste ich von Frau Siewert. Deshalb konnte ich mir Dinge erlauben, von denen Andere in meiner Position nur träumten. Und normalerweise wäre dies Anlass gewesen, ein bisschen zu plaudern, aber Haas schien etwas anderes zu wollen. Er räusperte sich und fixierte mich eine Weile, bevor er sagte:

    „Vielleicht sollten Sie sich noch ein bisschen dem Pflanzenstudium widmen. Könnte Hapke beeindrucken."

    „Hapke?, fragte ich verdutzt. „Wer ist Hapke?

    „Eine berechtigte Frage, sagte Haas geheimniskrämerisch. „Deswegen bin ich hier. Bevor wir zu diesem Thema kommen. Haben Sie den Artikel über diesen dubiosen Nachbarschaftsstreit fertig?

    Ich reichte ihm mein Blatt Papier. Haas las die Zeilen, wischte sich die geschwollenen Augen und gab mir den Artikel sichtlich erfreut zurück.

    „Gefällt mir, mein Lieber. Sehr gut! Was glauben Sie wie viele Kilo Akten bei den Gerichten darüber lagern, dass sich zwei Streithähne nicht über einen Gartenzwerg einigen können. Ihr Ton gefällt mir. Denke, die Leute mögen ein bisschen Zynismus zwischen den Zeilen. Und wie Sie ihn dosieren, finde ich ganz geschickt. Die Überschrift ist ein bisschen großkotzig für meinen Geschmack: Albrecht der Bär gegen Heinrich dem Löwen am Gartenzaun. Aber gut. Zumindest erweckt er Aufmerksamkeit. Nur, diesen konfuzianischen Schlusssatz sollten Sie besser streichen. Das Moralisieren können Sie sich für den Feierabend aufheben."

    „Was du selbst nicht wünschst, tu nicht den Anderen?"

    „Richtig. Weg damit." Haas´ breites Grinsen legte seine Zähne bloß.

    „Verzeihung, wenn ich Ihnen da widerspreche. Sind diese dummen Streitereien, nicht der Ausdruck fehlender Grundsätze, oder?", sagte ich, mit einem kleinen Anflug Unbehagen.

    Haas durchmaß den kleinen Raum mit lebhaftem Schritt.

    „ … das Ergebnis von Langeweile, Übersättigung und jeder Menge Sorglosigkeit. Hören Sie, mein lieber Leuttner, Ihre konfuzianischen Grundsätze in allen Ehren. Aber wir sind hier eine Zeitung! Und eines können Sie mir glauben: In unserem Metier herrschen Darwinsche Gesetze."

    „Natürlich."

    Haas war stehen geblieben und schüttelte sich unter einem weiteren Nieser.

    „Gesundheit!"

    „Herrgottnochmal! Ich sagte bereits, dass ich allergisch reagiere auf diese Akazien oder Robinien. Wir kämpfen ums Überleben, das kann ich Ihnen versichern. Und wenn Sie die Leute mit Ihren moralischen Banalitäten zu langweilen beginnen, finden Sie sich schneller als Sie denken, als Würstchenverkäufer vor dem Händeldenkmal wieder. Und nicht nur Sie."

    Würstchenverkäufer, dachte ich. Immer noch besser als Zeitungsjunge. Haas hatte sich beruhigt und lenkte ein.

    „Wollen Sie nun etwas über diesen Hapke hören?"

    Ich nickte und über Haas´ Gesicht flog ein Lächeln, nicht ohne eine Art scharfer Befriedigung.

    Haas seufzte kurz und schob sich dann einen Stuhl heran. Ohne mich aus den Augen zu lassen, fingerte er ein Zigarillo aus seinem weißgoldenen Etui mit dem Logo unserer Zeitung, klopfte es ein paar Mal auf der Tischplatte fest und zündete es an. Sein Blick wurde gutmütig.

    „Nichts für ungut. Ich kann Ihren Gedankengängen durchaus folgen. Ich mag Sie und Ihre Ideen, das wissen Sie. Vielleicht sollten wir mal ein Bier zusammen trinken gehen und dann können wir auch über Konfuzius oder den kategorischen Imperativ diskutieren. Ihr Artikel ist nicht übel. In den letzten Monaten haben Sie eine Menge gelernt, wie ich finde. Und Sie stehen noch am Anfang."

    Ich fühlte mich geschmeichelt und schwieg.

    Eine Fliege hatte sich auf einen der kleinen Speicheltropfen von Haas niedergelassen, der neben meinem Telefon gelandet war und begann gierig die Flüssigkeit in sich einzusaugen. In den Sonnenstrahlen, die meinen Schreibtisch und den Fußboden betasteten, tanzten Staubpünktchen.

    „Hapke?"

    „Genau. Sind Sie bereit zu dem möglicherweise größten Abenteuer Ihres Lebens?"

    „Bin ich."

    Angesichts der Tatsache, dass mir im Augenblick fast jede Aufgabe lieb war, sofern sie nichts mit morbiden Nachbarschaftsstreitigkeiten zu tun hatte, muss ich gestehen, dass ich in meiner Eitelkeit sogar so etwas wie Stolz empfand. Aber dies sollte sich ändern. Schon bald.

    „Gut. Nur, ich muss Sie warnen, fuhr Haas fort, „Sie werden vermutlich nicht der Einzige sein, der sich auf seine Fährte begibt. Ich kenne ein paar Undercover- Spezialisten, die nur darauf gieren, in diese ominöse Geschichte Licht zu bekommen. Soviel ich weiß, scheut dieser Hapke die Journalisten wie der Teufel das Weihwasser. Deshalb werden Sie dort inkognito erscheinen. Für uns besteht die einmalige Gelegenheit, dass wir jemanden in seine Nähe bringen, ohne das Hapke Verdacht schöpft. Es sei denn, Sie vermasseln alles. Und nun halten Sie sich fest! Wir haben jemanden, der Sie zu ihm führen wird. So etwas wie ein Lockvögelchen. Ein kleines Täubchen, dem sich Hapke möglicherweise offenbaren will. Ihre Aufgabe besteht darin, dabeizusitzen, alles schön in Ihrem Gedächtnis zu speichern und später aufzuschreiben. Dezent nachfragen, ohne aufdringlich zu sein und vor allem, warten, warten und nochmals warten. Dies ist zwar alles noch die reinste Spekulation, dennoch eine Möglichkeit. Und wir wären schön dumm, diese nicht zu nutzen. Haben Sie alles verstanden?

    „Vorerst."

    „Na, wunderbar."

    Haas ging zu unserer mittelalterlichen Sprechanlage und drückte einen klobigen Knopf mit einer verstaubten hellgrünen Lampe. Aus dem Lautsprecher schnarrte und kratze die Stimme von Frau Siewert.

    „Ja, bitte!"

    „Sie können Sie jetzt hochschicken!"

    Zwei Minuten später klopfte es und Vittoria trat ein.

    Vittoria schien weder verunsichert, noch nervös. Sie maß uns mit überheblichem Blick, betrachtete beiläufig den schäbigen Raum, die sträflich vernachlässigten Pflanzen vor den beiden Fenstern zur Straße und dann das Chaos auf meinem Schreibtisch. Sie räusperte sich, drehte federnden Schrittes eine kleine Runde, als wäre sie in einem Museum und dann meinte ich in ihren Augen sogar so etwas wie Spott zu erblicken. Haas wollte sie vorstellen, doch sie kam ihm zuvor.

    „Guten Tag, ich bin Vittoria Frey", sagte sie, kam auf mich zu und reichte mir ihre Hand. Der Druck war sanft, wenngleich fest und ihre Hand zierlich und sehr zart. Sie trug ein bordeauxfarbiges leichtes Shirt, einen, nur um ein paar Nuancen helleren Rock, der sich eng um ihre Hüfte schmiegte und dunkle Pumps. Ihre Beine waren kräftig, dafür jedoch relativ lang. Der Gang entsprechend dynamisch, aber leichtfüßig. An beiden Ohren hingen geschliffene Sodalithe, die lässig über der pfirsichfarbenen Haut ihres Halses pendelten. Vittoria hatte dunkelbraune Haare, und ihr Gesicht war anmutig.

    Sie gab Haas die Hand. Der war nicht weniger verblüfft als ich. Vittoria holte kurz Luft und sagte mit einiger Verachtung in der Stimme:

    „Eines lassen Sie uns gleich zu Anfang klarstellen, ich bin nicht eine von Ihren dummen Informanten. Ich bin nur hier, weil Paul einer meiner besten Freunde ist."

    „Keine Sorge!, gab sich Haas rasch Mühe, zu versichern. „Sie befinden sich hier auf seriösem Terrain. Im Übrigen war Paul Bender einer unserer besten Mitarbeiter. Für uns ist es sehr bedauerlich, dass er sich für eine Weile aus diesem Geschäft zurückgezogen hat.

    „Ich bin Fabian Leuttner", sagte ich nach Fassung ringend, vollkommen verspätet und konnte nicht aufhören, diese Frau unentwegt anzustarren. Vittoria schaute verwundert in meine Richtung und sah mir unverwandt in die Augen. Geringschätzig, wie ich meinte. Haas schob das Kinn vor und tat geschäftig.

    „Die Zeit drängt, Kinder. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee, Vittoria?" Obgleich Haas ein pragmatischer Taktiker war, gefiel mir sein vertraulicher Ton im Augenblick ganz und gar nicht.

    „Ja."

    „Sie?"

    Ich nickte. Haas tippte auf das hellgrüne Lämpchen und die Stimme aus dem Weltall erschall.

    „Bringen Sie uns doch bitte drei Kaffee, Frau Siewert. Und als ob das irgendeine Rolle spielte, schaute er flüchtig auf seine Uhr. „Und einen Cognac. Den rechts neben dem Kaffeeautomaten. Möchten Sie auch einen Leuttner?

    „Nein, danke!"

    „Sie?"

    „Gerne." Haas gluckste vergnügt.

    „Wunderbar! Drei Kaffee und zwei Cognac, Frau Siewert. Und, die nächste Stunde bin ich für niemanden zu sprechen." Haas rieb sich die Hände, und Vittoria musterte mich. Ich wollte etwas sagen, kam aber gar nicht dazu, denn Haas schien es plötzlich eilig zu haben.

    „Also, kommen wir zur Sache, sagte er zu Vittoria und kratzte sich etwas unbeholfen am Hinterkopf. „Wären Sie mit tausend Mark einverstanden. Selbstverständlich plus Spesen?

    Vittoria tat, als ob sie darüber nachdachte und antwortete dann:

    „Lassen Sie uns doch erst einmal den Kaffee trinken. Diese Dinge können wir später besprechen." Haas runzelte die Stirn.

    „Meinetwegen. Dann erzähle ich Ihnen erst einmal, wie ich mir die Aktion vorgestellt habe..."

    „Entschuldigung, wandte ich ein. „Ich hätte da noch ein paar Fragen? Haas warf mir einen verächtlichen Blick zu, als fühlte er sich von mir ein bisschen vorgeführt. Ich tat unschuldig und Vittoria amüsierte sich. Eine Sekunde später klopfte es, und Frau Siewert erschien mit einem Tablett Kaffee und zwei Gläsern Cognac.

    „Wo soll ich es hinstellen?", platzte die arme Frau heraus.

    „Herrgott, in diesem Saustall gibt es nur eine einzige Möglichkeit!", raunte Haas ärgerlich und zeigte auf meinen Schreibtisch.

    Vittoria kam langsam heran und lehnte sich an die Platte des Tisches. Sie war jetzt so dicht neben mir, dass ich sogar den Duft ihrer Haare einatmen konnte. Der Raum schien sich plötzlich in Bewegung zu setzen.

    „Hapke war in den Siebziger Jahren im Osten ein recht angesehener Archäologe. Sein Fachgebiet war Slawistik und seine Passion die Westslawen, begann Haas, „er hat an verschiedenen Ausgrabungen in Brandenburg und Mecklenburg teilgenommen und darüber mehrere Traktate verfasst. Sie wissen schon, wissenschaftlicher Kauderwelsch über Ausgrabungstechniken, frühzeitliche Tonscherben und weiß der Kuckuck... Hm, um es kurz zu machen, er war auf der Spur eines verloren geglaubten Heiligtums, welches besonders in den Zwanziger Jahren nach der Schliemannschen Entdeckung Trojas für einigen Wirbel sorgte. Ja, und plötzlich, sozusagen von heute auf morgen, verschwand der Name Hapke aus allen Fachblättern. Hapke wurde Keramiker. Haas nieste zweimal laut.

    „Gesundheit", sagte Vittoria und wirkte das erste Mal anteilnehmend. Haas hatte schon eine Unflätigkeit auf den Lippen, beherrschte sich aber und murmelte nur.

    „Drecksallergie...."

    „Ein Künstler?", fragte ich, um mich irgendwie zu beteiligen.

    „Hm, keine Ahnung. Sehr wahrscheinlich jedenfalls ist, dass diese Sache ein Flop wurde. Aber es kommt noch dicker. Ein Jahr später ließ er sich in Klingenthal im Vogtland nieder und arbeitete im Straßenbau: Lasterfahrer, Schmutz, Winterwartung und all die Dinge. Ja, und dann kam der große Knall. Hapke verursachte im Winter ´83 einen Unfall Klingenthal, bei dem eine Frau ihr Leben verlor und kam wegen schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang für sechs Jahre nach Bautzen. Haas kniff die Augen zusammen. „Und genau an diesem Punkt haben wir unsere erste Ungereimtheit. Bautzen stand im Osten für Schwerverbrecher oder Politische. Das gelbe Elend! Sie wissen schon. Normalerweise kam da niemand hin, der einen stinknormalen Autounfall verursachte und nach einem Jahr mit einer Bewährungsstrafe rechnen konnte. Übrigens war auch jener Unfall eine sehr dubiose Geschichte. Der Fahrer jenes Pkws, den Hapke mit seinem Traktor aufgeschlitzt hatte, war minderjährig. Im Auto saßen dessen Mutter und dessen Vater. Dieser Trottel hatte seinen Sohn fahren lassen, und weil die im Osten mit solchen Dingen bekanntlich nicht lange fackelten, wurde der Vater auch gleich eingebuchtet. Allerdings starb der Mann tragischerweise während der Haft. Aber das ist für unsere Sache nicht so wichtig. Nach seiner Entlassung kehrte unser Freund Hapke der Welt gänzlich den Rücken. Lebt seitdem in einer selbstgebauten Hütte irgendwo in den Bergen. Vollkommen zurückgezogen. Die Mauer brach, und mit ihr schwemmte eine Flut von Stasiakten ins Land. Über Hapke gibt es meterlanges Papier. Das haben wir bislang erfahren können. Nur, Hapke lebt immer noch in seiner Einsiedelei wie der heilige Antonius auf seinem Berg und auf jeden, der sich ihm zu nähern versucht, hetzt er seinen Hund. Hapke schweigt wie ein Grab und scheint sich um all die Dinge einen Federfurz zu scheren. Weder hat er Anzeige erstattet, noch ist er bei einem dieser Opfervereine vorstellig geworden. Haas roch an seinem Cognacglas, stellte es aber wieder ab. „Ihre Mission besteht darin, herauszufinden, warum seine Karriere vom Archäologen zum Straßenarbeiter abstürzte, und, was die Stasi mit alldem zu tun hatte."

    „Wissen Sie, wie diese Frau hieß?", unterbrach Vittoria ihn leise.

    „Welche Frau?"

    „Die, die bei dem Autounfall ums Leben kam."

    „Lassen Sie mich nachdenken. Ihr Name klang irgendwie französisch. Renoir, Reims, Ramis."

    „Ramin?"

    „Ja! Richtig, Sophia Ramin. Woher wissen Sie das?", sagte Haas und horchte auf. Vittorias Gesicht wurde weiß wie Mehl.

    „Ich bin den Ramins im Winter 1983 begegnet."

    Man hätte Haas´ Verblüffung mit Händen greifen können. Er langte nach dem Cognac und schüttete sich ihn buchstäblich in den Rachen. Sein Gesicht wurde einen Augenblick dunkelrot, und seine Augen bekamen jenen fiebrigen Glanz eines Jägers, der seit Wochen auf einem Hochstand haust und nun das erste Mal den heißersehnten Zwölfender vor Augen hat, dabei jedoch unfähig, die Flinte zu laden.

    „Wären Sie mit zweitausend Mark einverstanden?", sagte er deshalb.

    „Ja. Aber ich wäre auch mit tausend Mark einverstanden gewesen."

    Vittoria nahm einen Schluck Cognac und dann einen Schluck Kaffee. Während sie ihre Tasse abstellte, schob sie ihre Beine übereinander und klammerte sich dann für einen Moment mit beiden Händen an die Kante meines Schreibtisches. Ich spürte wie sie kurz schwerer atmete und dann, wie sie sich zwang, ruhig zu bleiben. Eine Sekunde später hatte sie ihre Beherrschung wieder gewonnen.

    Diese merkwürdige Veränderung machte mich stutzig. Mit dieser Familie musste es mehr auf sich haben, als nur eine Begegnung. Hatte sie irgendetwas mit dem Unfall zu tun? War sie eine Zeugin?

    Haas bemühte sich derweil, seine Verhandlungsschlappe zu überspielen.

    „Ihr Freund Bender hat mir erzählt, dass Hapke Ihnen einen Brief geschrieben hat. Was glauben Sie warum?"

    „Ich weiß es nicht. Ich kenne Hapke überhaupt nicht."

    „Er hat Sie zu sich in seine Einsiedelei eingeladen und Sie kennen ihn überhaupt nicht? Woher kennt er Sie?" Vittorias Gesicht begann unmerklich zu zucken.

    „Ich habe keine Ahnung."

    „Hm, das klingt ja alles ein bisschen merkwürdig. Oder?"

    Statt zu antworten, sah Vittoria zu mir.

    „Wie haben Sie sich denn nun Ihre Sache vorgestellt?"

    „Ich, ich weiß nicht", stammelte ich aus meinen Gedanken gerissen und errötete.

    „Nun?" Vittorias Blick wanderte zurück zu Haas. Ihre Augen funkelten und sie hatte sich wieder vollständig im Griff.

    „Eigentlich gibt es für uns nur eine Möglichkeit, Kinder. Ihr müsst als Pärchen auftreten. Ansonsten könnte Hapke nämlich Verdacht schöpfen." Mir wurde plötzlich heiß. Ein anstößiges Glucksen stolperte aus meiner Kehle.

    „Und wie stellen Sie sich das vor, Herr Haas?", sagte Vittoria, wieder souverän wie eine ausgebuffte Pokerspielerin. Und ich saß da, wie ein waschechter, zahmer Depp, festgenagelt und ohne Mitspracherecht.

    „Nun ja. Hapke hat Sie zu sich eingeladen. Richtig? Sie fahren zu ihm, kommen aber in Begleitung. Das heißt, wir sind natürlich jetzt in der Verlegenheit, diese Begleitung erklären zu müssen. Und da gibt es nur eine Möglichkeit: Sie, liebe Vittoria, müssen unseren Freund hier als Ihren Lover, Verlobten, Lebensabschnittsgefährten oder wie man das heutzutage nennt, vorstellen. Ansonsten schmeißt Hapke Sie nämlich achtkantig wieder hinaus. Sie beide, vermute ich."

    „Das habe ich schon verstanden. Sollen Ihr Herr Leuttner und ich die nächsten Tage bis wir zu Hapke reisen vielleicht ein Hotelzimmer beziehen, damit wir uns kennen lernen?"

    „Offengestanden hätte ich nichts dagegen!"

    „Moment mal, hakte ich ein, froh, endlich meine Sprache wiedergefunden zu haben, „darf ich auch mal etwas dazu sagen? Haas sah mich an wie einen Fremden und kniff wütend die Augen zusammen.

    „Oh nein, Sie mein lieber Leuttner halten den Mund. Wenn hier jemand etwas zu sagen hat, dann bin ich das. Oder? Aber mal im Ernst. Ich würde vorschlagen, dass ihr beide euch erst einmal alleine unterhaltet. In der Bodestraße um die Ecke gibt es ein ganz anständiges griechisches Restaurant. Was haltet ihr davon, wenn ihr dort jetzt hingeht und wir den Rest später besprechen. Die Scampis sind übrigens sehr zu empfehlen. Ihr könnt natürlich auf Kosten des Hauses essen."

    Damit war die Sache für Haas erledigt. Er kam zu mir, legte seinen Arm auf meine Schulter und tätschelte Vittorias Hand. Dann schob uns sanft zur Tür hinaus, zwinkerte vertraulich und winkte sogar.

    ---

    Statt ins Restaurant zu gehen, waren wir beide uns einig, ein wenig zu spazieren.

    Das Licht auf der Straße war ungemein selbstgefällig. Farbtupfer der verschiedensten Quellen schmeichelten dem Auge und einmal roch es nach Staub und dann wieder nach Sommer. Ich war aufgeregt und verwirrt und brachte eine ganze Weile kein Wort hervor. Vittoria lief neben mir und schwieg ebenfalls. Erst als das Verlagsgebäude hinter uns lag, wagte ich wieder zu sprechen.

    „Haas spielt gern. Kann manchmal ganz schön anstrengend sein. Aber eigentlich meint er es gut. Vittoria lächelte belustigt und betrachtete mich dann abfällig von der Seite. Ich plapperte weiter. „Seine forsche Art, mit Leuten umzugehen, empfinden viele als verletzend, wissen Sie. Ist nicht jedermanns Sache. Habe schön öfters erlebt, wie Mitarbeiter heulend aus seinem Büro gerannt kamen. Wie gesagt, eigentlich meint er es nicht so. Entschuldigt sich auch gleich. Im Grunde ist er ein gutmütiger Mensch. Gutmütig, aber auch clever. Sehr clever sogar.

    „Ich finde ihn arrogant. Er behandelt Sie wie einen kleinen Jungen. Merken Sie das nicht?"

    „Ich, ich bin Volontär", stammelte ich und verfluchte gleichzeitig meine verdammte Plapperei.

    „Nun, sagte sie weiter. „Ihr Haas möchte, dass wir uns kennen lernen. Tun wir ihm also den Gefallen. Fangen Sie an! Wie war Ihre Kindheit?

    Wir hatten inzwischen den Gimitzer Park erreicht und schlenderten am Ufer der wilden Saale entlang. Um diese Zeit gab es hier nicht viele Spaziergänger. Die einzigen Menschen, denen wir begegneten, waren eine blasse, junge Mutter, die ihren Nachwuchs vor sich herschob, zwei Schüler, die ihre Turnstunde verbummelten und ein Mann mit einem adipösen Pudel. Die Wipfel der Kastanien raunten sich Vertraulichkeiten zu und dazwischen lärmten ganze Heerscharen Spatzen.

    „Darf ich Sie etwas fragen?", sagte ich vorsichtig.

    „Bitte!"

    „Warum fahren Sie dorthin? Was wollen Sie von Hapke?"

    „Ich denke, das geht Sie nichts an."

    „Denken Sie nicht, dass es uns gut täte, wenn wir uns gegenseitig einen kleinen Vorschuss Vertrauen schenken? Schließlich müssen wir eine Weile miteinander auskommen."

    „Tun Sie meinetwegen das, wonach es Sie drängt, aber lassen Sie mich dabei aus dem Spiel."

    „Ich fürchte, dass dies schwierig werden wird. Was ist, wenn Hapke den Bluff merkt? Haben Sie keine Angst, dass er dann beleidigt sein könnte und seinen Hund auf uns hetzt."

    Seltsame Vorstellung, aber mir fiel nichts Besseres ein.

    „Vor was sollte ich Angst haben, er hat mir geschrieben."

    „Warum sind Sie nicht bereit, mit mir zu kooperieren? erwiderte ich. Glauben Sie mir, ich bin ebenso überrascht worden wie Sie.

    „Ich bin nicht überrascht worden. Jedenfalls nicht von diesem Haas." Vittoria blieb plötzlich voller Entrüstung stehen.

    „Denken Sie etwa, dass ich mit Ihnen zwei Tage lang herumturtele, nur damit Sie Ihren gottverdammten Artikel schreiben können. Was bilden Sie sich eigentlich ein?"

    „So meine ich das doch nicht!"

    Ich würde vorschlagen, dass ihr beide euch erst einmal alleine unterhaltet", äffte sie Haas nach und saugte die Oberlippe zwischen den Zähnen fest.

    „Was glauben Sie denn, was die schlüpfrigen Bemerkungen von Haas bedeuten sollten?"

    „Ich denke, wir sollten Haas einmal aus dem Spiel lassen und uns darauf konzentrieren, wie wir das Beste aus dieser Geschichte machen."

    „Dann betrachten Sie mich einfach als so etwas wie eine Fahrkarte! Eine Fahrkarte, die Sie zu Ihrem Bestimmungsort bringt. Das Hotel müssen Sie sich selber suchen."

    ---

    Etwa zur selben Zeit verließ Haas überaus glücklich das kleine Büro. Unten am Empfang saß Frau Siewert über Papiere gebeugt und kehrte ihm den Rücken zu. Leise ging Haas über den dicken Teppich auf sie zu und packte die nichtsahnende Sekretärin überschwänglich an den Schultern.

    „Na, Frau Siewert?!"

    Die Arme fuhr vor Schreck zusammen.

    „Herr Haas, schimpfte sie, „wenn Sie noch einmal machen, kündige ich!

    „Vergeben Sie mir, flötete Haas, „Sie kennen mich doch. Läuft eine Sache einmal zufriedenstellend, neige ich immer zu Albernheiten. Und weil das Haus heute ja geradezu leergefegt ist, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als Sie zu meinem Opfer zu machen.

    „Herrgott, ich spüre den Schreck noch bis in die Zehenspitzen!"

    „Darf ich Sie zu einem Cognac einladen?"

    „Nein, danke! Sie sollten sich vielleicht auch mal ein bisschen zurückhalten, Herr Haas. Wenn Sie weiter so trinken, wird ihre Leber bald aussehen wie die, die ich neulich im pathologischen Museum der Charite´ gesehen habe."

    „Sie fahren nach Berlin und gehen ins pathologische Museum. Wie grauenhaft. Und ich habe Sie immer für eine sensible Frau gehalten."

    „Das sollten Sie sich ruhig auch mal ansehen. Vielleicht gehen Sie dann verantwortungsbewusster mit ihrem Körper um." Haas schnitt

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