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Strandtrift
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eBook220 Seiten3 Stunden

Strandtrift

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Über dieses E-Book

Jeder der in den Spiegel schaut, wird sich nicht unbedingt selbst darin erkennen. Realitäten scheinen manchmal banal und manchmal unheimlich. Die Vergangenheit ist ein Buch, welches niemals zu Ende gelesen werden kann. Dinge, die passiert sind, lassen sich nicht ändern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Feb. 2020
ISBN9783750225176
Strandtrift
Autor

Jo Hilmsen

1966 Geboren in Altenburg (Thüringen)

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    Buchvorschau

    Strandtrift - Jo Hilmsen

    Dienstag, 8. Januar 2002 15:08

    Jo Hilmsen

    Strandtrift

    sieben Geschichten

    Inhalt chapter1Image1.jpeg

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    Horst im Glück 6

    Die Geschichte vom traurigen Sonntag 24

    Strandtrift 51

    Helen 85

    Das Turnier 110

    Wunder geschehen 126

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    Horst im Glück

    An einem freundlichen Sommernachmittag beschloss Horst W., getreu seiner Gewohnheit, noch einen Spaziergang zu machen.

    Da er seine Gesellschaft weder mit einer Frau, einem Hund oder sonst jemandem teilte, bestand das Ritual seines Gehens lediglich darin, den Schlüssel nicht zu vergessen. So kniff Horst die Augen zusammen und schielte zur Schlüsselleiste. Die war leer. Also wanderte sein Blick weiter. Zunächst über einen Stapel klebrigen Geschirrs, einer Menge Unrat und dann über einen maroden Schrank, beladen mit Papierkram. Schließlich entdeckte er den Schlüssel dort, wo er ihn zuletzt abgelegt hatte – zwischen einer Hose, einem sich langsam auflösenden Hemd und einigen vor sich hin muffelnden Socken. Horst nahm mit gespreizten Fingern eine der Socken zur Hand und verzog angewidert das Gesicht. Dann wackelte er mit dem Kopf und stolperte, den kleinen Metallbund in die Hosentasche stopfend, nach draußen.

    Horst W. war ein Sammler. Er sammelte Dinge, die andere wegwarfen. In seiner kleinen Wohnung fanden sich bereits derart viele solcher Dinge, dass er seit einiger Zeit ernsthaft in Erwägung zog, die leer stehende Wohnung über ihm aufzubrechen, um dort seine verrosteten Fahrradrahmen, Blechschüsseln, Nähmaschinengestelle, Kerzenständer, bauchige Flaschen und was sich sonst inzwischen alles so angesammelt hatte, unterzubringen. Leider mangelte es Horst ein bisschen an Konsequenz. Und diese Charaktereigenschaft bewirkte wiederum, dass er bei all seinen Vorhaben meist nie über den Vorsatz hinauskam. Seine Neigung zu Müßiggang und kreativer Beschaulichkeit, wie er es selbst nannte, war ein Klotz. Und der war so dick, dass Horst sich immer wieder selbst im Wege stand. Nichtsdestotrotz ist ein Sammler ein Sammler. Und Leidenschaft, Leidenschaft. Also marschierte Horst W. los. Und wie es sich für einen Sammler seines Schlages gehörte, bewegte er sich von Mülltonne zu Mülltonne, äugte dort hinein, stöberte hier ein wenig oder ließ seinen Blick über verwahrloste Höfe, einsturzgefährdete Häuser oder andere Stellen öffentlichen Ärgernisses schweifen. Zu seinem Verdruss hatten es sich allerdings die Stadtväter seit kurzem in den Kopf gesetzt, Ordnung in der Stadt zu schaffen. Seine Paradiese wurden rarer und Horst W.´s Blicke von Woche zu Woche finsterer. Mannshohe Bretterverschläge verhinderten in der Frauengasse auch nur eine Ahnung von Sperrmüll, die meisten Mülltonnen waren mit Metallgittern gesichert und all die einstigen Ecken seiner Stöbereien brillierten nur noch mit einer Grasnarbe.

    „Diese Hohlköpfe verderben einem den ganzen Spaß, fluchte er laut vor sich hin. „Sollen die doch ihr Rathaus begrünen.

    Horst hatte inzwischen den Park erreicht. Aber der Park interessierte ihn eigentlich nicht mehr. Seit selbst der kleine Teich darin von seinen Algen befreit worden war, empfand er für dieses grüne Kleinod nur noch Verachtung. Kieswege hatte man angelegt, das Gras auf fünf Zentimeter gestutzt und selbst die Bäume wirkten, als wäre eine Putzkolonne über sie hergefallen. Ordnung ist Zweckmäßigkeit, dachte er und Zweckmäßigkeit der Anfang von Diktatur. Idylle zum Einlullen. Und irgendwann folgt der Todesstoß.

    Enten zogen kleine Wellenstriche, ein Schwanenpaar gründelte am Ufer. Und im Pavillon, unweit einer Gruppe Rotbuchen, vertrieb sich ein junges Liebespaar die Zeit mit Zärtlichkeiten. Etliche Spaziergänger flanierten die Kieswege entlang. Die Hitze lud zum Müßiggang ein. Sogar die Spatzen in den Wipfeln der Kastanien, Buchen und Eichen lärmten nur gedämpft.

    Horst begann zu keuchen. Schleppenden Schrittes überwand er den Drang umzukehren und erreichte schließlich schwitzend den Bahnhof. In seinem knallroten Kopf wirbelten Begriffe wie Bahnhofsmission, Bahnhofskiosk, Bahnsteiglümmler oder Bahnbullenwichser.

    Kaum mehr frequentiert, ist er, der Bahnhof, dachte Horst. Fahren seit langem alle lieber mit ihren Autos, die Leute. Zugreisen, Reisezug. Zugereist. Wer reist hier noch zu? Abreisen ist angesagt. Davonrennen, weil´s hier nichts mehr zu holen gibt. Provinznest – schick aber öde. Wen wundert´s? Alles abgewickelt: die Nähmaschinenbude, die Staubsauger-fabrik, das Walzwerk. Kohle wird seit Jahren nicht mehr abgebaut und die meisten Felder sind blühende Biotope. Brachland, Ödland. Abgewickelt, ausgewickelt. Neue Hotels. Für was? Tourismus für Nekrophile? Kultur wird hochgelobt. Und Feste über Feste. Jeden Monat ein anderes. Eine Stadt feiert ihr Ausbluten. Ein Rentnerparadies. Die Jungen sehen, dass sie Land gewinnen oder lümmeln an den Bushaltestellen herum und klopfen markige Sprüche. Weg mit dem! Weg mit diesem! Sauber soll´s sein. Sauber und ordentlich.

    Horst blieb stehen. Er klopfte sich den Staub von der Hose und betrachtete seine Schuhe.

    „Auch nicht mehr das Wahre", murmelte er und stieß den linken großen Zeh gegen das bereits an mehreren Stellen poröse Leder. Dann ging er weiter. Eine nagelneue Brücke überspannte die Bahngleise. Sogar einen Aufzug gab es seit kurzem. Horst entschied sich für die Treppe. Von der Brücke aus hatte man einen schönen Blick auf die Stadt. Der massige Kirchturm von St. Bartholomäi, der schlanke Backsteinturm der Brüderkirche, Rathausturm und Wasserkunst. Und natürlich das Schloss. Allesamt mit einem frischen Anstrich. Auf der anderen Seite der Bahnbrücke gab es eine Abkürzung zur Mülldeponie. Sie führte durch Laubenkolonien, vorbei an einem Spiel- und einem Sportplatz. Es folgte eine stillgelegte Fabrik zur Rechten und eine ehemalige Kaserne zur Linken. Ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich zwischen den letzten Häusern der Stadt, dann kam ein kleines Feld, mit Mohnblumen rot besprenkelt und schließlich der Müllplatz: halb Deponie, halb Schrottplatz. Obwohl Horst im Grunde ziellos gelaufen war, folgte er doch seinem inneren Kompass. Und dessen Nadel zeigte unmissverständlich in eine Richtung.

    Als er die Mülldeponie erreicht hatte, wunderte er sich ein wenig über sich selbst. Denn er hätte schwören können, dass er bislang nicht ein einziges Mal an dieses, für ihn fast letztes Paradies gedacht hatte. Stattdessen dachte er an Skorpione. Fast tausendvierhundert Arten gab es von dieser Spezies. Ihr Stachel enthielt am Schwanzende ein Neurotoxin, welches selbst Menschen gefährlich werden konnte. Sie waren absolute Einzelgänger. Aber das war es nicht, worüber Horst grübelte. Horst W. grübelte über den Tanz der Skorpione während der Paarung. Die Tiere packten sich bei den Scheren und führten einen Reigen auf wie Tangotänzer. Bedacht darauf, den Partner auf Abstand zu halten und doch nicht loszulassen. So wie sie normalerweise ihre Beute hielten, um sie dann mit ihrem Stachel zu töten, bereiteten sie nun den Geschlechtsakt vor. Er konnte Stunden dauern, der Skorpionentanz. Und so kam Horst gedanklich vom Tanz der Skorpione zu seinem letzten eigenen Geschlechtsakt vor ungefähr neun Jahren. Dabei geriet er ins Stocken.

    Horst lief den Zaun auf der Suche nach einem Loch ab, um sich die Kletterei zu ersparen. Es gab noch immer genügend Leute, die hier nach Brauchbarem suchten oder ihren Müll heimlich herbrachten. Musste man ja neuerdings alles bezahlen, dachte Horst. Und richtig! Nach wenigen Metern fand Horst eine aufgerissene Stelle im Zaun, durch die er bequem hindurch schlüpfen konnte.

    „Ja, ja, kicherte Horst, „Ordnung hat seinen Preis!

    Obwohl er ziemlich außer Atem war, machte er sich sogleich an die Arbeit. Normalerweise ging er bei solchen Gelegenheiten planlos vor. Überließ sein Glück dem Zufall. Doch angesichts des erbärmlichen Anblicks seiner Schuhe, hoffte er insgeheim, ein paar Neue zu finden. Er griff sich einen Knüppel und begann zu stochern. Ein alter Lederkoffer, der zunächst seine Hoffnung hegte, enttäuschte. Er enthielt nichts als verrottete Bettwäsche und Handtücher.

    Ein gelber Sessel hatte so große Löcher, dass er bequem eine Hand hindurch stecken konnte. Horst fand ein Paar durchaus brauchbare Lederschuhe, aber die waren mehrere Nummern zu klein. Händeringend stolperte er über allerlei Dinge, denen er zunächst wenig Beachtung schenkte: ein Brotkasten, einen roten Wäschekorb, eine Tüte voller Kompressen und Papier und eine halb verrottete Holzkiste. Er wühlte sich den Müllberg hinauf, nur weil er etwas Glitzerndes erblickt hatte, das sich beim näheren Hinsehen als zerborstenes Spiegelglas entpuppte. Dann fand er Gefallen an einem Karton voller Plüschtiere und verbrachte einige Zeit damit, die Teddybären, Puppen, Hunde und eine Giraffe zu inspizieren. Einst geliebt und nun verstoßen, dachte er. Er nahm einen Teddy mit ockerfarbenem Fell und hielt ihn in die Höhe.

    „Du hast bestimmt schon so manches Kinderherz getröstet, was.", sagte er zu dem Bären und tätschelte ihm zärtlich den Kopf.

    „Und jetzt will niemand mehr etwas von dir wissen, soso." Horst verschob die Lippen und steckte das Plüschtier in seine Tasche. Über ihm kreisten Möwen und Krähen.

    „Nix für euch zu holen, ihr Mistviecher, was, schimpfte er. „Macht euch dorthin, wo ihr hingehört. Er griff nach einem Stein und schleuderte ihn in die Luft. Dann ließ sich Horst, um ein wenig zu verschnaufen, auf einer Holzkiste nieder. Er zündete sich eine Zigarette an, ließ die Beine baumeln und begann zu grübeln. Es war nichts Bestimmtes, worüber er grübelte. Mal dachte er daran, was eine Möwe dazu bewegen mochte, das Meer zu verlassen, um sich ausgerechnet den Müllplatz einer Kleinstadt als Nahrungsquelle zu suchen, mal dachte er an seine Schuhe, mal an das Plüschtier in seiner Tasche und an die Sache von vor ungefähr neun Jahren und dass das Ganze eigentlich auch nicht mehr so richtig funktioniert hatte – dass seit seiner Scheidung vor zehn Jahren eigentlich gar nichts mehr richtig funktionierte und dann, wie er es wohl am Klügsten anstellen sollte, sein umfangreiches Lager zu strukturieren. Letzteres brachte ihn so in Verwirrung, dass er gedanklich zurück zu dem Plüschbären floh und schließlich beschloss, mit der ganzen Strukturiererei erst einmal zu warten. Horst stand auf und trat als Geste der Entschlossenheit kräftig gegen die Kiste, auf der er gesessen hatte. Der Klang war seinen Ohren ähnlich vertraut wie die ersten Takte von Beethovens Ode an die Freude. Es war das unvergleichliche Klimpern voller Flaschen. Horst vergaß die Möwen, den Teddybären in seiner Tasche und selbst die Vision, ein Paar neuer Schuhe zu ergattern. Blitzschnell war er auf den Beinen. Und ebenso blitzschnell hatte er die Holzkiste geöffnet.

    Zwölf Flaschen Erdbeerwein! Horst bekam feuchte Hände vor Aufregung. Zwölf Flaschen! Was für ein Segen! Nur, wie sollte er sie transportieren? Die Kiste war zu marode. Sie würde auseinanderbrechen. Also musste etwas Anderes her. Horst verschwendete keine Zeit mehr. Auch wenn noch hunderte andere Dinge zu finden waren, hatte er nur einen Gedanken. Er brauchte ein geeignetes Behältnis zum Transport von zwölf Flaschen Wein.

    Nach einer halben Stunde Stöbern, Graben und Wühlen kehrte er erfolglos zu der morschen Kiste und deren wertvollem Inhalt zurück.

    Es war wie verhext. Auf der gesamten Müllhalde gab es nicht einen einzigen Gegenstand, mit dem er die Flaschen hätte transportieren können. Und wie es Horsts Art war, wenn er mit einer Sache auf der Stelle trat, versank er eine Weile in Trübsinn.

    „Verfluchter Sommer!" schimpfte er und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Schweißtropfen von der Stirn. Horst W. hasste den Sommer und vor allem das Gefühl, verdursten zu müssen. Hilfesuchend blickte er sich um und kniff seine Stirn angestrengt in Falten. Und weil er hier ganz bestimmt keine Hilfe erwarten konnte, kam ihm nach einer Weile die Erkenntnis, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als zurück zu seiner Wohnung zu gehen. Dort fand sich mit Sicherheit ein geeignetes Transportmittel.

    Horst hatte weder einen Blick für den Bahnhof, den kleinen Park noch für sonst etwas. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um die zwölf schmutzigen Flaschen und deren Inhalt. Anfangs noch beschwingt und voller Optimismus, wurden seine Schritte von Meter zu Meter schleppender und schwerer.

    Als er seine dunkle, einigermaßen kühle Wohnung aufschloss, war er so erschöpft, dass er auf den nächstbesten Stuhl niedersank und eine ganze Weile dumpf vor sich hinstarrte. Am liebsten hätte er sich seiner Lieblingsbeschäftigung hingegeben:

    Dinge betrachten und sie, wenn es ihm danach gelüstete, von A nach B zu legen. Doch der Gedanke an eine Kiste Wein bohrte sich wie ein Stachel in sein Hirn. Wie eine Fata Morgana sah er sie deutlich vor sich und die Möglichkeit, dass dieser Schatz einem Anderen in die Hände fallen könnte, missfiel Horst derart, dass er laut aufstöhnte. Mit dem Willen eines Besessenen, eines Eroberers raffte Horst W. sich auf, ergriff eine ziemlich zerschundene Ledertasche mit stabilen Trageriemen und machte sich ein zweites Mal auf den Weg zur Müllhalde.

    Am Teich warf Horst mit Steinen nach den Enten, in der Nähe des Bahnhofes pöbelte er einen Obdachlosen an, der ihn um etwas Geld bat und schließlich geriet er mit einem Polizisten in einen hanebüchenen Streit, der ihn freundlich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Horst auf dem Radweg dahin stapfte.

    Als er endlich durch das Loch im Zaun geschlüpft war, sah Horst Sterne. Er spürte ein Brausen in den Ohren, sein Herz raste, als wollte es aus seinem Brustkorb hüpfen und überall in seinem Blickfeld tanzten kleine Pünktchen. Sein Kreislauf, der diese Art von Anstrengung nicht mehr gewohnt war, fuhr Achterbahn. Aber Horst W. konnte nicht mehr anders. Längst hatte sich in seinem Kopf ein Bild eingebrannt.

    Horst sah sich selbst. Er hatte es sich auf der Fensterbank seines kleinen Zimmers bequem gemacht und blickte entspannt auf die Gasse. Vor seinen Füßen stand eine Kiste voller Wein. Er nahm eine Flasche heraus, zog den Korken und probierte. Er spürte, wie die Flüssigkeit seine Kehle herablief und die Wirkung des Erdbeerweines sich langsam in seinem Kopf ausbreitete. Ein bisschen Schläfrigkeit würde sich breitmachen – dort auf seiner Fensterbank. Aber das störte nicht. Still war es um ihn herum. Still und behaglich. Und mit jedem Schluck versank Horst W. tiefer in den Zustand vollkommener Harmonie mit sich und der Welt. Das war Horsts Traum. Und deshalb ignorierte er sowohl die kleinen, flackernden Pünktchen vor seinen Augen als auch das warnende Zittern seiner Knie. Sein Magen randalierte und in seiner Brust lösten sich heftige Stiche ab, als ob sein Herz um Gnade bettelte. Es ist ein Jammer, dachte Horst, wenn das innere Universum dem Äußeren weichen muss, weil die äußeren Zwänge auf das Innere einen größeren Eindruck machen.

    Mit dieser Erkenntnis schob er den Deckel der Weinkiste beiseite und klatschte vor Entzücken in die Hände. Alles war so, wie er es verlassen hatte.

    Zwölf Flaschen Erdbeerwein warteten darauf, einen Platz in seinem Universum einzunehmen. Dieser Kosmos der Fragezeichen. Horst betrachtete kurz das Geschenk des Himmels und lächelte. Dann begann er zärtlich eine Flasche nach der anderen in seine alte Ledertasche zu legen. Still vor Genugtuung stapelte er seine Beute neben- und übereinander, verweilte kurz mit seinen Händen auf dem Glas und leckte sich in freudiger Erwartung die Lippen.

    Die Tasche erwies sich als zu klein. Horst W. machte ein schmollendes Gesicht und einen Moment huschte Verdruss in seine Gedanken. Doch sofort blitzte eine erlösende Idee in ihm auf. Eine einzige Flasche war übriggeblieben. Und zum Glück empfand Horst gerade in diesem Moment einen solchen Durst, dass er gar nicht darüber nachzudenken brauchte, was er tun würde.

    Er entfernte mit seinem Schweizer Taschenmesser den Korken und schnüffelte an der weißen Flüssigkeit. Horst der Sammler war vertraut mit Moder und Staub. Er berührte mit seinen Lippen den Flaschenhals und kostete. Der Geschmack des Weines war eine Mischung aus Essig mit Apfelaroma, abgestandenes Zuckerwasser und Erde. Horst schloss die Augen und trank. Wenngleich selbst Horst W. in seiner Abgebrühtheit das Gesicht verzog, ließ die Wirkung an nichts fehlen. Ein Hauch Dämmerung zog über sein Bewusstsein, gefolgt von watteweichen Wolken fröhlicher Leere.

    Ich werde diese Perlen der Natur hier nicht vergammeln lassen, dachte Horst und nahm einen zweiten, großen Schluck. Der Erdbeerwein schmeckte bereits besser. Plötzlich geschah etwas für ihn Unerwartetes. Eine dunkle Welle Schwermut erfasste ihn, und er empfand plötzlich einen Stich Angst. Eine leichte Brise Sommerluft schob die langen Strähnen seiner Haare ein wenig durcheinander. Horst schnüffelte in die Luft und dachte: Was ist das?

    Von irgendwoher meinte er, Musik herüber wehen zu hören, aber der einzige Lärm hier war das Geschrei der Möwen über seinem Kopf.

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