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Wort_Zone 1.0: Magazin für alle Arten von Literatur
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eBook206 Seiten1 Stunde

Wort_Zone 1.0: Magazin für alle Arten von Literatur

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Über dieses E-Book

Neue Prosa, Lyrik und Essays von Wolfgang Brenneisen, Markus Bundi, Hermann Kinder, Adrian Naef, Walter Neumann, Peter Salomon und vielen anderen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. März 2015
ISBN9783738697803
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    Buchvorschau

    Wort_Zone 1.0 - Books on Demand

    Buchbesprechungen

    Hermann Kinder

    Die Verlorenen radelten nach Amsterdam (1960)

    Die Verlorenen radelten nach Amsterdam, um sich ein wenig ganz zu verlieren. Henning sagte Spinoza, Otto von vorne Koffie, Peter De Stijl, E Javaanse Jongens, Otto von hinten sagte Oho, die Grachten. Bis kurz vor Emmerich ging es halbwegs gut, wenn auch nicht schön. Die Sonne war mal ein gleißender Teller im Dunst, dann wieder ganz im Dunst, der den Himmel weißlich und das Grün giftiger machte, verschwunden. Das änderte sich nicht, das steigerte sich, je höher die Sonne stieg. In der Ebene kamen sie gut voran. Sie verfuhren sich [keine Radwege, keine Radkarten] – Otto von vorne hatte von seinem Onkel eine Karte bekommen, Deutschland-Nord, die vom Harz in der SBZ bis Nimwegen reichte und die sie nur ein einziges Mal zu Rate zogen –, verfuhren sich nochmal, und nachdem sie lange, die Radstangen wacklig zwischen den Beinen, gestanden und gestritten hatten, wo lang es gehen solle, wollten sie einem Bauern hinterher, der mit seinem Trecker Furchen durch ein abgeerntetes Kornfeld zog, aus dem die gelben Stoppel standen. Hinter dem Trecker fielen Möwen in die Furchen ein, Krähen, die sich mit den Möwen und den anderen Krähen zankten. Sobald der Bauer die Verlorenen gesehen hatte, schaute er, schräg auf dem blechernen Treckersessel sitzend, nur hinter sich, wendete ohne Halt und bemerkte sie nicht. Der Bauer war der einzige Mensch am Niederrhein. Bei Wesel stellte sich kein Echo ein, so sehr sie auch brüllten zu jedem Wäldchen, die Hände als Trichter um den Mund gelegt. In Rees tranken sie Tee, den ihnen ihre Mütter in Sprudelflaschen aus Glas und mit Bügelverschluss gefüllt hatten [kein Plastik]; Otto von vorne aus einer in grauen, an den Druckknöpfen angerissenen Filz gehüllten Feldflasche seines Onkels, in der der Tee auch nicht warm geblieben war. Und rauchten. Sie fuhren in fester Formation: Otto von vorne wegen seines schweren Rades hinten, dann Henning, dann E und Peter, Otto von hinten vorne voraus, freihändig und auf der Mundharmonika, die er Fotzenhobel nannte, spielend das »Wirtshaus an der Lahn«, zu dem wohl nur er Strophen kannte, wenn er die aber, den Fotzenhobel absetzend, singen wollte, gab es lautes Geheule der anderen. Und nun hatte die Sonne doch über den Dunst gesiegt, die Kopfweiden qualmten, die Wiesen köchelten, und die Ulmen und Eichen standen klar vor Blau. Die Verlorenen begannen von innen zu dämpfen. Otto von vorne, den sie den Campingvertreter nannten, hielt alle Naslang an und zog etwas aus oder an und dafür etwas anderes aus. Sie waren keine Kameradenschweine und warteten. Selbst bei Sonne sah man hier nichts als mal einen roten Kirchturm über Krüppelweiden, Busch und Allee, aber nach der Entfernung, die sie nach einem Kilometerzähler maßen, der an Ottos von vorne Vordergabel angebracht war und den ein an einer Speiche befestigter Sporn trieb, vermuteten sie, sich Emmerich zu nähern. Da schlug Ottos von vorne Hinterrad durch auf einem Feldstein; es war hier das Wenigste asphaltiert. Der Reifen war sofort platt. Kein Wunder, denn Otto von vorne hatte seinen Gepäckträger unvernünftig überlastet. Zwar waren die schwarzen Kothebahnen auf alle verteilt worden, doch Otto hatte den schwarz, auch braun, auch silbrig gescheuerten Kochtopf, den sein Vetter, Wölflingsmeister der St.-Georgs-Pfadfinder, wie die Kohte ausdrücklich nur ihm in Obhut gegeben hatte, ausgestopft mit Geschirrtüchern und ausgemusterten Konservenbüchsen aus Heeresbeständen, die ihm sein Onkel vermittelt hatte, der auch darauf bestanden hatte, dass Otto von vorne die bewährte Wolldecke mitnehme, die rote Streifen »Marine« überzogen, während die anderen sich von Es Bruder, der in Ferienarbeit als Wagenpage mit der Touropa zwischen Dortmund und Ruhpolding, Dortmund und Lindau, Dortmund und Lienz, Dortmund und Villach gependelt war, sich federleichte Einmaldecken gekauft hatten. Der Lohn von Es Bruder als Wagenpage bestand zu einem Gutteil aus den Spesen vom Verkauf der Einmaldecken vor der Nacht im Liegewagen. Er verkaufte sie für zwei Mark, hatte sich einen Vorrat von gebrauchten Einmaldecken angelegt, die er an die Verlorenen für eine Mark verkaufte, E bekam seine geschenkt. [Keine Isomatten, keine Daunenschlafsäcke.] Otto baute sein Rad ab, das auf Sattel und Lenker gedreht wurde. Otto von hinten holte aus der braunen Ledertasche unter dem Sattel, die nur noch an einer Schlaufe festhing, Knochen und Flickzeug, sie zerrten den Schlauch aus dem Mantel, flickten, waren zu eilig, und beim Anpumpen des Schlauchs platzte der rotschwarze Flikken. Den schwarzen Schlauch mit dem zweiten Flicken mussten alle mal über den Handrücken legen und fest mit der Hand auf die Gummilösung pressen, während die anderen rauchen durften. Der zweite Flicken hielt. Beim Versuch, den Mantel über den Schlauch in die Felge zu zerren, brachen sich E und Peter je einen Fingernagel ab. Otto von vorne baute sein Rad wieder auf, wozu manche Gürtel und abgelegte Schlipse des Onkels vonnöten waren.

    In Emmerich suchten sie die holländische Grenze und standen plötzlich vor einem Schlagbaum. Auf die Forderung, den Paspoort vorzuzeigen, waren sie vorbereitet bis auf Peter, der nur einen abgelaufenen Schülerausweis bei sich hatte. Peter wollten sie nicht einreisen lassen. Henning versuchte es mit Latein; Otto von hinten mit Englisch. Die niederländischen Grenzbeamten sagten, sie verstünden kein Wort Deutsch. Als es E, der im Schauspielunterricht auch Dialekte zu üben hatte, mit zwei Sätzen Plattdeutsch von Fritz Reuter versuchte, wandten sich die Beamten ab. Was hätten sie denn nach Holland schmuggeln können, dort war ja alles Gute günstiger? Schwarzes Gold, antwortete einer der Beamten. Sie verstanden nicht. Kohlen, erklärte der Grenzer. Alle mussten alles abbauen, öffnen und ausbreiten. Und wieder einsammeln, schließen und aufbauen. Die Marinedecke behielten die Zollbeamten. Die olivengrünen Konservenbüchsen aus Heeresbeständen gaben sie zurück. Sie waren nun in Holland, Peter nur gnadenhalber, aber Holland sah aus wie Deutschland. Erst nach Elten wurden die geduckten Backsteinhäuser bunter, weiße Fensterrahmen, rote Türen, vor denen blaue Bänke standen. Es mehrten sich die Lebensmittel-, Kaffee- und Zigarettenläden, wo sie Javaanse Jongens kauften, sich gleich einen Vorrat in die Blechbüchsen drehten. Henning und Otto von vorne dazu Filterhülsen, die den anderen fast so verächtlich waren wie Denicotea-Filter, mit denen ihre Väter rauchten, mit denen sie, wenn sie die Filter wechselten oder die Spitzen in den Papierkorb ausbliesen, alles verdreckten und verstanken. Sie rauchten mit schlechtem Gewissen in Feindesland. Es ist ja, sagte Henning, als seien wir im Warschauer Pakt gelandet. Oder bei den Erlkönigen, sagte E. Es dämmerte, sie schoben ihre Räder abseits in ein kleines Wäldchen, bis keine Stimmen, Trecker, Autos mehr zu hören waren und wo in all dem Feuchten die Kohte aufgebaut werden konnte. Sie verteilten sich im Wald, vermieden Rufe, das Knacken des nassmorschen Holzes, auf das sie traten, ließ sich nicht vermeiden. Otto von vorne plante, wie die Kohte aufzubauen sei, und es gelang ihnen zusammen nach einigen Abstürzen, die schwarzen Bahnen an den gesammelten Stangen und dem Hängekreuz aufzuziehen. Dann setzen sie den Kochtopf auf Steine, feuerten an, Rauch stieg aus dem Rauchloch der Kothe. Keine Gesänge, keine Mundharmonika. Die Büchsen mit der Gulaschsuppe aus Heeresbeständen ließen sich mit dem Fahrtenmesser öffnen – jeder trug eines am Gürtel –, aber die Suppe nicht mit dem Fahrtenmesser löffeln. Allein Otto von vorne hatte von seinem Vetter ein zusammenklappbares Blechbesteck bekommen, das sie nun löffelum teilten, E kam auf die Idee, den Trinkbecher, den ihm seine Mutter zugesteckt hatte, zu nutzen. Er war zusammenklappbar und bestand aus sich vergrößernden Plastikringen, die sich versenken ließen in einer roten, brustkaramellgroßen Dose. Die leichten gebrauchten Einmaldecken polsterten nicht, hielten auch den feuchten Boden nicht ab.

    Am Morgen stank es sehr nach Gülle. Ihr Waldplatz lag feldnah, der Bauer verspritzte die Gülle in hohen Schirmbögen aus dem Wagen, der nicht anders aussah als ein Güllewagen in Westdeutschland. Als sie aufgerüstet hatten und geflohen waren, begann es zu regnen. Nun ging es gar nicht mehr so gut. Trotz der geliehenen, geschenkten grauen Kleppermäntel, die im Gegenwind von der See her, unten den sie sich zu bücken suchten, hinter ihnen flatterten. Als sie südlich von Arnheim an einem der Knie des Nederrijns rasteten, Kopf und Schulter mit den Kothebahnen bedeckten, rauchten, dann sich vom Klietschbrot abschnitten, kullerte das Glas mit der Vierfruchtmarmelade die Böschung hinunter und in den Fluss. Als E es retten wollte, rutschte ihm das aufgeweichte Portemonnaie, das aus fester Pappe war, aus der Hosentasche, die Gulden in den Ufermatsch. Da lachten die Verlorenen und halfen aufzuklauben. Matschbollen beschwerten ihre Schuhe, und Henning meinte, jede Kultur habe doch ihr Recht, was man an den Holzschuhen der Holländer sehen könne. Sag lieber Niederländer, riet Peter, Kilroy ist überall. Der fiese Regen rann ihnen in den Kragen und aus den Schuhen wieder heraus. Wer eine Brille trug, sah mit und ohne Brille nichts mehr. Den Vorderreifen flogen Spritzbögen voran. Zwischen Wageningen und Rhenen fanden sie ein Gasthaus, Amstel-Bier, bekamen Herberge aber nur im alten Stall voller abgetakelter Möbel. Sie schliefen unter einem dreibeinigen Billardtisch, auf von Holzwürmern zernagten Stühlen, unter einem Tisch, auf dem von Motten gelöcherte Teppiche lagen. Am Morgen schnauften die Kühe auf der Weide vor dem Stall. Der Wirtssohn brachte eine Blechkanne echten, heißen Kaffees und sagte: Heil Hitler.

    Der Regen hatte kaum nachgelassen. Die Fahrt verlangsamte sich. Missmutig saßen sie auf den Kleppermänteln, nebeneinander auf Abstand bedacht wie Hühner auf der Stange, auf einem lehmigen Damm und schauten der Fähre zu, die drüben ablegte, hier anlegte, hier ablegte,

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