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Schatten im Hafen
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eBook303 Seiten4 Stunden

Schatten im Hafen

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Über dieses E-Book

Unendlich lange fünfundzwanzig Jahre hat Bruno Traber im Gefängnis Santa Fu gesessen. Jetzt ist er zurück in Hamburg St. Georg.
Getrieben von der Frage, was in jener längst vergangenen Nacht, die nicht nur sein Leben zerstört hat, tatsächlich geschehen ist, beginnt er eine gefährliche Suche in der Vergangenheit.
Eine mörderische Jagd nimmt ihren Lauf. Brutal, tödlich und erbarmungslos. Doch irgendwo in den nächtlichen Schatten im Hafen verbirgt sich eine schreckliche Wahrheit.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum9. Jan. 2017
ISBN9783741882432
Schatten im Hafen

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    Buchvorschau

    Schatten im Hafen - Martin Bischoff

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    1

    If you miss the train I’m on,

    You will know that I am gone

    You can hear the whistle blow a hundred miles.

    A hundred miles, a hundred miles,

    A hundred miles, a hundred miles,

    You can hear the whistle blow a hundred miles.

    500 Miles,

    PETER, PAUL & MARY

    Als sein Schließer wie jeden Tag um 05:30 Uhr seine Zellentür öffnete, lag er schon seit Stunden wach. Eigentlich hatte er gar nicht geschlafen, sondern die ganze Nacht über mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf seiner Matratze gelegen und die Decke angestarrt. Wie hätte er in dieser Nacht auch schlafen sollen? Seine letzte Nacht im Knast. Die letzte. Nach fünfundzwanzig Jahren.

    Mehr als die Hälfte seines Lebens hatte er im Bau verbracht. Jahr um Jahr. Vor fünfundzwanzig Jahren war er in die Hölle gestoßen worden und heute spuckte sie ihn einfach wieder aus. Oder war es ganz anders? Erwartete ihn die wahre Hölle draußen? Außerhalb der Mauern von Santa Fu, wie die Justizvollzugsanstalt Hamburg-Fuhlsbüttel im Milieu genannt wurde? Er hatte Angst. Würde die Stadt ihm noch vertraut sein oder vollkommen fremd? Eine neue Welt am Ende? Und dann die Menschen … Würde es noch vertraute Gesichter geben oder nur Fremde? Oder waren vielleicht sogar die ehemals vertrauten Menschen zu Fremden geworden?

    Fünfundzwanzig Jahre. Vor seinem geistigen Auge hatte er fünfundzwanzig Jahre lang die Gesichter seiner Freunde gesehen: Piet, Ricky und die anderen. Und Ole. Und natürlich Kerstin. Fast jede Nacht. Wieder und wieder. In seinem Kopf waren sie zeitlos, nie gealtert, sahen immer noch wie zwanzig aus oder jünger. Ob sie überhaupt noch alle lebten? Vielleicht waren sie ja in andere Städte umgezogen und wussten gar nicht, dass er heute rauskam? All diese Fragen bereiteten ihm eine Heidenangst.

    »Los, Bruno, hoch mit dir. Heute ist doch dein großer Tag«, riss ihn die Stimme des Justizvollzugsbeamten Norbert Kuntze aus seinem ängstlichen Trübsal.

    »Hast ja recht«, nuschelte er in Kuntzes Richtung, setzte sich auf und schwang die Beine von seiner Koje. Kuntze hatte einen Monat nach seiner Verurteilung in Santa Fu angefangen. Schon komisch, damit kannte er ihn streng genommen länger als seine Freunde. Bruno war zwanzig gewesen, als er seine Haftstrafe angetreten hatte. Jetzt war er fünfundvierzig. Eine ganze Generation später.

    Er rieb sich mit den Händen über das Gesicht, ein alltägliches Ritual, um die Müdigkeit zu vertreiben. Und heute war es tatsächlich nicht mehr als ein Ritual: Von Müdigkeit keine Spur. Seine Nerven waren vor fiebriger Aufregung zum Zerreisen gespannt.

    Eine Viertelstunde später schaufelte er lustlos sein Frühstück in sich rein. Hoffentlich wirklich sein letztes in Santa Fu. Seine Gedanken schweiften ab. War in jener Nacht tatsächlich alles so abgelaufen, wie es der Staatsanwalt im Prozess vorgetragen hatte? Er wusste es beim besten Willen nicht. War er wirklich ein kaltblütiger Mörder? Er würde es herausfinden.

    Auf der anderen Seite der Stadt, in Hamburg St. Georg, lebte Gerd Kramer. Kommissar Kramer war jetzt schon seit ein paar Jahren pensioniert und man konnte nicht behaupten, dass er die Polizeiarbeit in St. Georg vermisste. Nein, zum Verrecken nicht. Was er aber gerade in seinem Badezimmerspiegel sah, während er sich schwer auf sein Waschbecken stützte, gefiel ihm auch nicht: Ein müdes Altmännergesicht. Ein lichter werdender grauer Haarkranz umgab seinen Kopf. Ansonsten war in Sachen Haare Fehlanzeige. Polierte Platte nannten Münzsammler das wohl. Das einzige, was sich auf seiner Kopfhaut noch tat, war die ständige Zunahme von Altersflecken. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, die Haut kränklich grau. Sein Lieblings-Hassobjekt stellten jedoch seine Tränensäcke dar. So groß und tief, wie sie herunterhingen, schien es, als hätte er dort jeweils ein ganzes Schnapsglas in einem Geheimdepot versteckt.

    Jetzt blickte er seinem Spiegelbild in die Augen. Wässrig, von Adern durchzogen und bereits etwas trübe. Das Feuer, welches in ihnen gelodert hatte, war weitestgehend erloschen. Weitestgehend, aber noch nicht ganz. Und wofür er die verblichene Glut nutzen wollte, wusste er ganz genau. Es war noch keine Minute her, dass ihn ein Anruf aus seinem alten Revier aus dem unruhigen Schlaf gerissen hatte. Auch so eine Alterserscheinung. Der Schlaf stellte sich seltener und vor allen Dingen immer später ein. Wann habe ich das letzte Mal eigentlich richtig erholsam geschlafen?, fragte er sich. Er wusste es nicht.

    Die Nacht hatte er sich mit Krimiklassikern auf einem Privatsender um die Ohren geschlagen. Die Straßen von San Francisco, Der Kommissar, Starsky & Hutch. Anders als im wirklichen Leben konnte man Gut und Böse in den Serien noch unterscheiden, wusste was Recht und Unrecht war. Gegen 04:00 Uhr morgens hatte der Schlaf dann endlich ein Einsehen mit ihm gehabt.

    »Moin Chef«, war ihm die gut gelaunte Stimme von Hauptwachmeister Petzold aus dem Hörer entgegengeschallt. »Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass heute ...«

    »Dass Traber heute entlassen wird. Ich weiß, ich hab´s nicht vergessen«, schnitt er seinem ehemaligen Kollegen das Wort ab. »Und Petzold, ich bin nicht mehr Ihr Chef. Nur einer von Millionen Rentnern, die von einem Tag zum anderen nicht mehr gebraucht werden.«

    »Aber Chef, ich meine ...«

    »Schon gut, Petzold, und danke«. Damit beendete er das Gespräch und ließ sich aufs Bett zurückfallen.

    Die Bilder waren sofort wieder da: Bruno Traber, Speedy, blaue Augen, ein fünfundzwanzig Jahre jüngerer Kommissar Kramer, fortysomething und noch nicht aller Illusionen beraubt … Der Fall Traber hatte ihn nie losgelassen. Bis heute nicht.

    Schließlich setzte er sich wieder auf und holte den Smith & Wesson-Revolver aus der Schublade seines Nachtischchens. Kurz hatte er überlegt, vielleicht lieber die Walther PPK aus dem Nachttisch zu klauben, sich dann aber aus einem Impuls heraus für den Revolver entschieden. Er warf einen prüfenden Blick auf die Waffe. Geladen. Gut so. Kramer beugte sich vor und hustete, bis sich ein Schleimpfropfen in seinen Bronchien löste. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann schlurfte er ins Bad.

    Es war kurz nach 09:00 Uhr, als sich die schwere Tür der ersten Sicherheitsschleuse hinter Bruno und Kuntze schloss. Fünf Meter vor ihnen befand sich die Außentür der JVA-Fuhlsbüttel. In dem großen Metalltor wirkte die Tür klein wie ein Mauseloch. »Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wo es langgeht«, lotste Kuntze Bruno in das kleine Büro an der rechten Seite. »Ach Kuntze, vielleicht weiß ich wirklich nicht, wo es langgeht.«

    »Die Panik haben alle, die nach so langer Zeit rauskommen. Das legt sich aber nach ein paar Tagen.«

    »Tja, wenn du es sagst.«

    »Mhm«, nickte Kuntze bekräftigend und kratzte sich am Bauch, den er sich in den letzten drei, vier Jahren zugelegt hatte.

    Kuntze wird alt, dachte Bruno, während er dem Beamten in dem kleinen Büro zunickte. Ihn selbst hatten fünfundzwanzig Jahre Knast natürlich auch nicht jünger gemacht. Jedes Gott verfluchte Jahr hatte Falten in sein Gesicht gegraben und seine einst schwarze Lockenpracht war – wohlwollend betrachtet – eine fifty-fifty Mischung aus schwarz und grau. Na ja, wenigstens keine Glatze.

    Nur mit seiner Figur war er zufrieden. Klar hatte er über die Jahre einige Kilos zugelegt, aber er hatte nach wie vor keinen Bauchansatz, war immer noch schlank und drahtig. Kein Wunder, er hatte ja auch fünfundzwanzig Jahre lang mehr als genug Zeit gehabt, um sich sportlich fit zu halten. Bei diesem Gedanken musste er ein bitteres Lachen unterdrücken.

    »Traber, Bruno, geboren am 5. Oktober 1969?« Der untersetzte Justizbeamte hinter dem Schreibtisch warf ihm einen fragenden Blick zu.

    »Ja«, murmelte Bruno.

    »Ihre Sachen und ein Teil Ihres Überbrückungsgeldes. Quittieren Sie den Empfang bitte.« Der Beamte schob ihm mit der Rechten ein Plastikkörbchen rüber, mit der Linken einen Wisch zum Unterschreiben. In dem Körbchen lagen seine alte Schlägermütze, seine Entlassungspapiere, eine Durchhaltebroschüre für entlassene Knackis voller Tipps für einen erfolgreichen Neustart, ein Terminzettel, wann er sich in seiner Bewährungsstelle melden musste, die auch den Großteil seines Überbrückungsgeldes verwaltete, ein Briefumschlag mit 250 Euro und eine weiße Hasenpfote – sein Glücksbringer und eine der wenigen glücklichen Erinnerungen an seine Mutter, die ihm zwei weiße Hasenpfoten mit den besten Wünschen für seinen weiteren Lebensweg zu seinem zehnten Geburtstag geschenkt hatte. In einem anderen Leben hatte er die zweite Pfote Kerstin geschenkt. Kerstin. Unmerklich schüttelte er den Kopf und stopfte die Entlassungspapiere in die Innentasche seiner abgewetzten Fliegerjacke mit einem großen Weißkopfseeadler mit ausgebreiteten Schwingen auf dem Rücken; vor fünfundzwanzig Jahren waren solche Jacken schwer in. Dann nahm er den Merkzettel und das Geld. Mit der im Knast verdienten Kohle verfügt er über die stolze Summe von 396,40 Euro. Die »wunderbare Zukunft«-Broschüre für Knackis ließ er im Körbchen liegen. Den Justizbeamten hinter dem Schreibtisch interessierte das alles nicht. Er war nur scharf auf Brunos Unterschrift auf der Quittung.

    Zwei Minuten später stand er dann auch schon mit Kuntze an der Ausgangstür. War sie ihm vorhin noch klein wie ein Mauseloch erschienen, wirkte sie jetzt, wo er davorstand, beängstigend groß, obwohl sie doch nichts anderes war, als eine beschissene graulackierte Stahltür: zwei Meter hoch, einen Meter breit, mit Roststellen, wo die Farbe abgeblättert war.

    Kuntze schloss auf. »Hör mal, Bruno«, er fasste ihn am Arm, »ich kann ja schlecht auf Wiedersehen sagen, also sag ich lieber man et jut. Und lass dir drei Tipps geben – das mach ich nur, weil ich dich irgendwie mag. Nach all den Jahren.«

    »Du willst mich jetzt aber nicht küssen, oder?«

    »Idiot. Hör zu: Versauf oder verhure dein Geld nicht in den nächsten Tagen, melde dich pünktlich bei deiner Bewährungsstelle und«, Kuntze machte eine kurze, aber bedeutungsschwangere Pause, »und um Gottes willen mach einen riesengroßen Bogen um St. Georg, okay?«

    Bruno wusste, dass Kuntze es nur gut mit ihm meinte und irgendein Teil von ihm mochte den Justizvollzugsbeamten wirklich gern. Kuntze und vor allen Dingen der Gefängnisdirektor hatten es immer gut mit ihm gemeint. Zwar konnten sie gegen das Veto der Staatsanwaltschaft auch keine Freigänge für ihn erwirken, aber wenigstens Schikanen der Staatsgewalt wie Einzelhaft etc. in Grenzen halten. Mangelnde Kooperationsbereitschaft und mangelnde Schuldeinsicht waren die ständig wiederkehrenden Argumente, die die Staatsanwaltschaft erfolgreich gegen Hafterleichterungen für Bruno ins Feld geführt hatte.

    Er schüttelte die Gedanken ab und zwang sich zu einem Lächeln. »Man et jut«, versuchte er den rheinländischen Akzent seines Gegenübers zu imitieren und reichte ihm die Hand. Ein kräftiger Händedruck, ein langer Blick, dann stieß Kuntze die Außentür von Santa Fu auf. Ein letztes Lächeln und Bruno schritt über die Schwelle. Mit einem hellen Knirschen schloss sich die Tür seines Zuhauses hinter ihm. Seines Zuhauses während der letzten fünfundzwanzig Jahre.

    Nach dem Frühstück hatte sich Kramer seinen beigen Trenchcoat übergeworfen und sich gemächlich in Richtung seines alten Reviers am unteren Steindamm aufgemacht. So früh am Morgen waren die Straßen von St. Georg noch leer. Keine Junkies, Dealer, Zuhälter und auch keine abgehalfterten Huren, die ihre Dienste für ein paar Euro feilboten, um sich ihren nächsten Schuss zu finanzieren. Die ordentlichen Huren, wie Kramer die nicht süchtigen Prostituierten für sich nannte, würden die Gegend rund um den Hansaplatz erst am späteren Nachmittag bevölkern. Jetzt herrschte noch Ruhe in seinem Kiez.

    In der Stralsunder Straße verteilte ein Mittelsmann die obligatorischen Krücken an die Mitglieder der bulgarischen Bettelmafia. Türkische, libanesische und vietnamesische Händler drapierten ihr Obst und Gemüse vor ihren Läden. Kramer sah zwei Geschäftsmänner, die eilig und unglaublich wichtig die Bürohäuser auf Höhe der Stiftstraße ansteuerten, und einen Betrunkenen, der versonnen sein Erbrochenes auf dem Gehsteig betrachtete. Der Kerl wirkte dabei so hoch konzentriert wie ein Hellseher, der versucht, die Zukunft im Kaffeesatz zu lesen. Nur dass der Typ in der stinkenden Pfütze maximal lesen konnte, was er letzte Nacht gesoffen hatte. Hinter dem Säufer erblickte Gerd Kramer an einer verwitterten Altbaufassade ein herzförmiges Graffiti: »Theresa + Robert, 20.07.2008« stand drin. Hatten sie im Revier nicht mal einen Polizeischüler mit so einer Sauklaue gehabt? Vielleicht ja, vielleicht nein. Er wusste es nicht mehr und es war auch egal. Er machte einen großen Bogen um den Kotzmeister und ließ seinen Blick von links nach rechts durch St. Georg

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