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Mein Bornholm
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eBook165 Seiten2 Stunden

Mein Bornholm

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Über dieses E-Book

Im Sommer nach der Wende führt ein Zufall Birk Meinhardt auf die dänische Sonneninsel Bornholm, wo die Einheimischen ihn mit Lichthupe begrüßen und seine Kinder runde Heuballen erklimmen und sich den feinen Sand des Südstrandes durch die Finger rieseln lassen. Aber das Meer ist nicht anders als vor Rügen. Erst Jahre später kehrt Meinhardt zurück. Immer intensiver erschließt er sich die Insel, und spätestens, seit er die Landschaft entlang stillgelegter Gleise auf dem Rennrad durchfährt und sich auf die Bornholmer Spuren Hans Henny Jahnns begibt, der hier an seinem Hauptwerk schrieb, fühlt er sich ihr dauerhaft verbunden. Lesend und schreibend taucht er immer tiefer in ihre (Kultur-)Geschichte ein – bis Bornholm beginnt, auch sein eigenes Leben und Schaffen zu prägen.
SpracheDeutsch
Herausgebermareverlag
Erscheinungsdatum26. Juli 2022
ISBN9783866488137
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    Buchvorschau

    Mein Bornholm - Birk Meinhardt

    Die Unbedarftheit der Neulinge

    Ein Wirt weist den Weg. Eine Lichthupe wird erwidert. Ein Hamburger guckt ablehnend.

    Hatte Vitt dreizehn Häuser, oder vierzehn, oder fünfzehn? Jedenfalls war – und ist es – ein kleines Dorf. Es ist das nördlichste Ostdeutschlands, wir machten dort mehrmals Urlaub in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, aber was heißt, wir machten: Wir durften dort Urlaub machen, in dieser stillen Idylle nahe bei Kap Arkona, in einer Remise, die aus heutiger Sicht eine elende Kammer war und damals der Inbegriff des Glücks: Mensch, Vitt! Dort konnte man allein sein am Strand. Dort dudelte kein Kofferradio. Dort baute man aus Ästen und Bettlaken ein Zelt und legte die Kinder mittags zum Schlafen hinein, freilich galt es, vorher die dicken schweren Steine wegzuräumen. Mensch, Vitt, der Strand war voller buckliger Steine, und das Wasser war arschkalt, denn es war erst Mitte Juni, später war die Buchte, war das Schloss nicht mehr frei.

    Übrigens begriffen wir gar nicht, dass Mittsommer war. Heute sitzen wir in der Zeit bis spät in die Nacht daheim im Garten und erfreuen uns daran, wie zögerlich und unvollständig es dunkel wird, wie der Himmel uns eine Ahnung von Silber hinterlässt. Im Winter wiederum sitzen wir drinnen und brummen, vier erst, und schon finster; wir unterscheiden die Jahreszeiten bis ins Detail, haben eine Aufmerksamkeit dafür entwickelt, wie sie unser Leben beeinflussen, damals waren wir ohne dieses Achtsame, weil wir nur so durch die Jahreszeiten flogen.

    In Vitt saßen wir abends in der Kneipe, denn lesen konnte man nicht in der Unterkunft, dem Sohn hatten wir gesagt, wenn was ist mit dir oder deiner kleinen Schwester, kommst du rüber und holst uns. Das nutzte er ausgiebig. Er saß dann immer eine Weile auf meinem Schoß oder auf dem meiner Frau und gluckste, noch ein Bier, noch ein Bier. Und er lauschte, was geredet wurde. Einmal erzählte die Wirtin, wie und wohin ihr Mann abgehauen war, weniger von ihr als aus dem Staat, aber letztlich schon auch von ihr, bei Nacht mit dem Holzboot nach Bornholm, meine Frau und ich hatten keinen Begriff von der Entfernung. Hatten Bornholm beim Einschlafen schon wieder vergessen, nur dass der Wirt, der egoistische, ja wohl seine Frau im Stich gelassen hatte, das versicherten wir uns noch.

    Und wir schliefen, schliefen fest, als die Mauer fiel, zuerst am Übergang Bornholmer Straße. Dort drängten sich die Massen, und wir draußen in Köpenick schliefen, wie die Mehrzahl der Bürger, wie die viel größere Masse, die schlicht nichts mitbekommen hatte. Was sie in den Jahren danach lieber nicht zugab, denn in den Medien kamen einzig und allein die zu Wort, die auf den Beinen gewesen waren; was war man denn für ein Mensch, wenn man nicht zu ihnen, zu den Allgegenwärtigen gehörte, was war man denn für eine Schnarchnase? Am Morgen wussten es natürlich alle. Nur wir waren immer noch ohne Ahnung. Wir wunderten uns bloß, dass die Handwerker nicht kamen. Endlich, nach Jahren, sanierten sie in unserem Mietshaus die Rohre, die Wasser- und Fäkalienleitungen zerbröselten ja auch schon, seit einer Woche hatten wir kein Wasser, ein gutes Zeichen fürs rechtschaffene Arbeiten der Handwerker, aber heute erschienen sie nicht, was zum Teufel war los? Ich ging in den Bauwagen vorm Haus. Darin saß einsam und verlassen der Meister. Ich stellte ihm meine Frage, da lachte er auf: Seien Sie froh, dass wenigstens ich hier bin. Er berichtete mir, was geschehen war, und ich ging beunruhigt zurück ins Haus: Wer wusste denn, wann seine Leute wiederkämen, und ob überhaupt? Das war mein Gedanke in jenen Minuten. Meine Wahrheit, die dann wie ein kleiner Kiesel mitgespült wurde im großen geschichtlichen Fluss, nur im Tauchgang des Schreibens kann ich ihn fassen und hochzeigen, hier, hier ist er, nichts da mit Bornholmer Straße, mit jubelndem Aufbruch, Wasser soll endlich wieder fließen durch die verdammten Rohre in der alten Wohnung, Wasser!

    Im Mai darauf bekamen wir einen Brief von den Besitzern des Grundstücks, auf dem die Remise stand. Es waren nette Leute, konsequentere als wir, Aussteiger aus dem Vogtland, die ihre Jobs und mit ihnen jede Menge Regeln und Einschränkungen aufgegeben und dort oben in der Abgeschiedenheit von Vitt eine ziemliche Unabhängigkeit erlangt hatten. Sie schrieben, ihr Lieben, sind neue Zeiten nun, wissen nicht, was sie bringen, seid nicht sauer, aber müssen euch absagen für dieses Jahr. Mit anderen Worten: Sie hofften auf Westgäste. Wir nahmen es zur Kenntnis. Passierte schließlich jeden Tag Neues und Gravierenderes. Irgendwann würde Sommer sein, und wir würden irgendwohin fahren, und bis dahin würden wir arbeiten, denn was gab es Schöneres, als jetzt zu arbeiten; ich war Journalist damals, ich schrieb über Sport, nun auch ohne Einschränkungen. So verstrich ein Großteil des Sommers, so jagte ich durch ihn hindurch, die Tage wurden schon erkennbar kürzer, darum nun mal Butter bei die Fische, wohin?

    Einfacher, geradezu trivialer Zusammenschluss der Synapsen: Vitt, der Wirt, sein ungeheures Wagnis, sein erreichtes Ziel, das für uns nicht mehr als ein Name war, Bornholm. Fahren wir nach dort.

    Ein flüchtiger Blick auf die Landkarte auch bloß, kein Erkennen der Rautenform, des Parallelogramms, nur ein Feststellen, wo das eigentlich lag, aha, knapp unterhalb von Schweden und weit oberhalb von Polen – und es war dänisch? Dänisch, so stand es aufgedruckt, wobei ich gerade etwas merke: Ich könnte schon gewusst haben, wozu es gehörte, ganz so unbedarft war ich, waren wir, nun auch nicht, ich muss ein bisschen achtgeben beim Schreiben, bestimmte frühere Stimmungen und Eigenschaften, nur weil es jetzt so schön passt, nicht noch anzureichern, dänische Insel also, ich hab es gewusst wahrscheinlich. Sicher. Absolut. Ich bin doch nicht blöd.

    Längst weiß ich, die Insel war einmal schwedisch, ich kenne herrliche blutige Geschichten aus jener Zeit, herrliche, weil es schon so lange her ist: Lass eine schaurige Begebenheit nur weit genug in der Vergangenheit liegen, und sie wird zu einem Märchen. Eines mag ich erzählen. Das vom letzten Tag der Schweden auf Bornholm, beziehungsweise von der letzten Nacht, der vom 8. auf den 9. Dezember 1658. Sie waren 1500 Mann. Ihr Befehlshaber hieß Prinzenskjöld, Skjold ist der Schild übrigens, der Name war ihm aufgrund seiner Unerschrockenheit und seiner mächtigen Statur vom König Karl Gustav verliehen worden. Und Prinzenskjöld zeigte sich, seinem Rufe gemäß, auch auf der Insel als rau, streng und unerbittlich. Er trieb die waffenfähigen Einheimischen in Schwedens Flotte und setzte alles daran, hohe Steuern zu erpressen, obwohl Bornholm gerade von einer Pest heimgesucht worden war und die meisten Höfe darniederlagen. Weder konnten noch wollten die Bauern zahlen. Einer nach dem anderen weigerte sich. Da ergriff Prinzenskjöld, welcher in seiner Jugend ein schlichter Reiter im Heer gewesen war, die Wut, und er beging einen Fehler: Um die Steuern einzutreiben, schickte er tausend seiner Männer von der Festung Hammershus auf die verstreut liegenden Höfe. In kleinen Trupps verlangten sie Quartier. Tagsüber pfändeten sie, was ihnen unter die Hände kam, nachts betranken sie sich fürchterlich, und darauf nun, auf Vereinzelung und Versoffenheit, bauten die Bornholmer ihren Plan, sie warteten nur auf den rechten Zeitpunkt. Dieser war gekommen, als Prinzenskjöld, begleitet lediglich von seinem Sekretär sowie zwei Reitknechten, beim Bürgermeister von Rønne erschien. Er nahm Platz an einem großen Tisch, dessen steinerne Platte auf mächtigen Eichenholzfüßen ruhte. Gerade beschwerte er sich über den Starrsinn der Bürger, als zwölf von ihnen, bis an die Zähne bewaffnet, in den Saal traten. Der Bürgermeister erklärte, kein Bürger und kein Bauer werde mehr zahlen. Prinzenskjöld stieß Flüche und Drohungen aus, da stürzte einer seiner Knechte herein und meldete, auch draußen würden sich Männer zusammenrotten. Prinzenskjöld, nun endlich seiner bedrohlichen Lage gewahr, sprang auf, stieß mit seiner fast unmenschlichen Kraft den Tisch gegen die Verschwörer, sprang aus dem Haus und eilte zum Stall, wo er sein Pferd wusste. Indes, der Stall war verriegelt. Das Pferd schlug gegen die Tür, drängte zu seinem Herrn, dieser aber hatte schon zwei Wachen niedergestreckt und die Straße gewonnen. Dort blieb er nicht lange unerkannt. Man feuerte auf ihn, vergeblich, der Prinz mit dem Schild schien unverwundbar. Plötzlich rief ein Bürger aus einem Fenster heraus: Gegen Blei ist er sicher, mit Silber muss er geschossen werden! Schon riss sich der wackere Mann die schweren Silberknöpfe von seiner Festjacke und lud damit seine Büchse, er zielte auf den Statthalter – und dieser sank, tödlich getroffen, zu Boden. Auch seine Begleiter wurden ermordet. Sodann ritten Boten über die gesamte Insel und verbreiteten die Weisung, niemand möge zögern mit dem Schweineschlachten, fürwahr, so lautete das Wort. Um Mitternacht begann das Blutbad, untermalt und übertönt vom Geläut der Glocken, denn nicht Bauern waren Urheber des Planes und Anführer des Aufstandes, sondern Geistliche. In Gottesglauben und mit lange angestauter Wut metzelten Männer und Frauen, Greise und Kinder, Herren und Knechte die Schweden, 965 fanden binnen weniger Minuten den Tod, die meisten im Schlaf. Und der erste Tag in Freiheit und in größter Sünde brach an, und die Bornholmer sandten eine Depesche an Frederik III., König von Dänemark, und boten ihm ihre Insel als ewiges Eigentum, und der König nahm an und versprach ihnen zum Lohne auf gleich lange Zeit die schönsten Privilegien und schwor darüber hinaus, niemals, niemals mehr werde ihre Insel an die Schweden fallen. Und so ist es gekommen. So ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Die Geschichte ist aus.

    Sie wirkt aber schon noch weiter. Bis heute geblieben, vererbt und wieder vererbt, ist ein deutlicher Starrsinn der hiesigen Bauern, ein Hang zur Verschwiegenheit und kein Hang zu übertriebener Empfindsamkeit, aber dazu später, das alles erfuhr man nicht gleich am Anfang. Am Anfang krauchte man mit seinem Trabi auf die Povl Anker, das Röcheln des Auspuffs wurde übertönt vom Scheppern der Metallplatten, die in den Bauch der Fähre führen; Povl Anker, mir längst bekannt heute, war einer jener Geistlichen des legendären Bornholmer Jahres 1658, aber im nicht minder legendären ostdeutschen Jahr 1990 zählte nur, dass ich der Fahrer des einzigen Trabis auf dem Schiff war. Auch kein Wartburg darauf, kein Skoda. Wir waren die Vorreiter. Entdecker waren wir. Ein Gefühl von Stolz, wenn nicht Erhabenheit machte sich breit zwischen all den Westwagen, schon erstaunlich, dass man gar nichts tun muss, um Wohlgefallen an sich selber zu finden, nur ein ganz normales Holzhaus braucht man zu buchen, und diese Fährpassage hier.

    Die Bornholmer, so kam’s uns vor, freuten sich riesig über uns und unsere stinkende Pappe, fast jeder uns entgegenkommende einheimische Wagen gab uns die Lichthupe, das machte nun wieder uns froh, machte uns noch froher, als wir ohnehin schon waren, wir blinkten jedes Mal zurück zu diesen ausnehmend netten Menschen, bis einer uns gestenreich bedeutete, es bestünde Lichtpflicht. Das war leider schon am Ende des Urlaubs. Was aber auch nicht weiter schlimm ist. Eine kleine Episode zum Lachen, und eine zum Bewahren; wenn wir heute über die Insel fahren, muss ich zuweilen daran denken, wie die Scheinwerfer aufblitzten und ich dann und wann frohgemut durchs geöffnete Fenster noch dem Bornholmer winkte und der Bornholmer auf meinen Gruß hin guckte wie … ich würde mal sagen, wie einer der Dezemberverschwörer in den letzten Minuten des Stillehaltens. Heute würde ich das sagen. Der Mensch sieht oft nur, was er kennt.

    Was habe ich noch in Erinnerung von jenem fast überstürzten ersten Mal? Den beißenden Geruch abgebrannter Felder, schwarz lag die Erde, dampfend noch von der Hitze des zu Ende gehenden Sommers und der des gerade erloschenen Feuers, empfänglich für die nächste Saat. Wieder andere Felder waren voller Strohballen, das kannten wir nicht, Stroh in dieser Form. Bei uns im Lande fiel es zu Quadern gepresst von den Erntemaschinen. Man konnte sich daraufsetzen und in die Gegend gucken, nicht mehr und nicht weniger, hier aber, hier konnte man versuchen, die Ballen zu rollen. Kommt, Kinder, kräftig, noch kräftiger, seht ihr, er bewegt sich, und jetzt weiter, nicht aufhören, in Schwung halten, in Schwung. Und am Ende konnte man die jauchzenden Kinder auf den Ballen heben und sie ausgiebig die Beine baumeln lassen und durfte ihnen ja nicht wieder runterhelfen, denn das größte Vergnügen war natürlich das des Springens: Von weit oben und mit viel Schwung fliegen sie. Darum müssen sie sich abstützen auf den spitzen, im Boden stakenden Halmresten. Die beiden schreien auf und wollen losweinen, aber sie sind keine Babys mehr, der Große erhebt sich aus der Hocke und wischt sich bauarbeitermäßig die Handflächen an der Hose ab, und die Kleine, nicht minder heldenhaft, tut es ihm nach.

    Die Leute aus dem Ferienhaus gegenüber haben auch Kinder in dem Alter. Sie sind aus Hamburg, wie

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