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eBook440 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Stellen Sie sich vor, ihre damals zehnjärige Tochter ist vor fünf Jahren spurlos verschwunden. Vermutlich entführt. Ihr komplettes Leben gerät aus den Fugen. Sie suchen und entdecken, dass Sie mit ihrer Wut, Trauer und dem Wunsch nach Rache nicht allein sind.
Und eines Tages steht der Mann vor Ihnen, der Ihnen und Ihrer Tochter das angetan hat und er will tauschen ... Was würden Sie mit diesem Mann tun?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Juli 2013
ISBN9783847643487
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    Buchvorschau

    Lieblingsorte - Marc Rosenberg

    Gegenwart

    Oktober 2010, am Morgen im Wald

    Für einen Moment ist es still ... trotz der vielen Menschen hier an diesem Ort, die nicht hier sein sollten, hier in diesem Wald ... die nicht hierher gehören, hier in diesen Wald ... sie stören ... an diesem Ort ..., der so still ist, wie ... wie der Tod ... sie zerstören die Ruhe des Waldes ... und die Stille des Todes ... der Tod ist still und ... friedlich, wenn er da ist ... wenn es vorbei ist ... wenn der Tod da ist, ist es still ... endlich ...

    Er hört die Stille ... und bleibt stehen ... und lauscht ... weil er ihn hören will ...

    Er schließt die Augen.

    Als würde der Wald den Atem anhalten. Er atmet tief ein. Hält die Luft an. Und lässt sie langsam entweichen, er öffnet die Augen. Lauscht. Ein Moment der Stille. Er schließt die Augen. Und öffnet die Hände. Streckt sie nach vorn, wie Schalen geöffnet, um zu empfangen, um aufzufangen. Er spürt die Stille des Waldes. Der Wald hat seine eigenen Gesetze. Stille gehört dazu. Wie der Eingang zu einem dunklen, tiefen Schlund. Diese einzigartige Stille des Waldes, der man sich nicht entziehen kann, auch wenn man hier ist, weil der Tod auf einen wartet. Die Stille nimmt ihn auf, einfach so. Er wehrt sich nicht.

    Weil der Wald anhebt, den Tod zu verschlingen.

    Ja. Da. Da ist eine Erinnerung.

    Unbestimmt. Unklar. Nur gefühlt. Im Gedächtnis verborgen. Eine gespeicherte Erinnerung. Ohne Worte, unausgesprochen, eine gefühlte Erinnerung. Der Körper vergisst nicht.

    Nie. Nichts.

    Nein, der Körper vergisst nicht, nichts ...

    Doch die Erinnerung nimmt noch keine Gestalt an, bleibt unbestimmt, trüb, schemenhaft. Wie ein Schatten, der ihn umgibt und umschleicht und sich in ihm windet, aber ... verschwindet.

    Nein, der Körper vergisst niemals.

    Den Körper kannst du nicht verarschen.

    Was für eine Stille!, denkt er dann, was für eine gottverdammte Stille.

    Und dieser Geruch! Die Welt atmet ein und aus. Ein ewiger Kreislauf.

    Er atmet langsam weiter, atmet tief ein und wieder aus. In diesem Wald bleibt einem nichts anderes übrig als zu atmen, sich den Gesetzen des Waldes zu unterwerfen. Atmen. Und sich einverleiben lassen. In diesen Kreislauf.

    Ursprünglich, das ist das Wort, das ihm einfällt. Ursprünglich, wild und vergänglich zugleich. Wild und unbezwungen. Zerstörbar nur durch Menschenhand. Nur der Mensch hinterlässt seine Spuren. Und das hat er getan. Ein Mensch hat hier im Wald seine Spuren hinterlassen.

    Leben und Vergänglichkeit, Kommen und Gehen in einer harmonischen, stillen und innigen Umarmung. Seit Hunderten, vielleicht seit Tausenden von Jahren. Ungestört. Unzerstört. Erbarmungslos, rücksichtslos. Ursprünglich. Archaisch. Und doch ist da mehr als nur das, was er sieht und riecht.

    Er fühlt etwas, er fühlt es, die Erinnerung. Er erinnert sich, sein Körper erinnert sich.

    Er öffnet die Augen. Atmet. Schüttelt sich. Und damit die Erinnerung fort.

    Was würden diese Bäume erzählen, wenn ich ihre Sprache verstehen könnte? Was könnten sie mir erzählen, was wollten sie mir erzählen?

    Was habt ihr gesehen?

    Das würde es mir erleichtern, denkt er, das würde mir meine Arbeit erleichtern.

    Er denkt an die Bäume des Fangorn-Waldes aus Der Herr der Ringe. Die brauchen Stunden, um sich nur Hallo zu sagen.

    „Die haben Zeit, flüstert er. „Zeit.

    Das ist das, was ich nicht habe, denkt Bernd Hebel. Zeit.

    Er ist an diesem Morgen hier in diesem Wald, weil die Zeit für jemanden abgelaufen ist.

    Er dreht sich langsam im Kreis und schaut sich um. Es ist noch früh am Morgen. Und doch zu spät. Nebel, Tau, Spinnennetze, Bäume. Büsche, Moos, Gras, Sträucher, Vogelgezwitscher, leises Rauschen und hier und da ein heimliches Rascheln. Sie wissen, dass er da ist. Sie sehen ihn, aber er sieht sie nicht. Das Leben findet im Verborgenen statt. Hier im Wald findet das Leben unsichtbar und im Verborgenen statt. Vieles wird erst sichtbar, wenn es dunkel wird.

    Er schließt die Augen. Er riecht seine Kindheit. Holz, Rinde, Laub, Fäulnis, Feuchtigkeit und Vergänglichkeit. Und seine Jugend. Zügellosigkeit und Neugierde, Hemmungslosigkeit und wilde Rohheit. Gier und Verlangen, Lust und Erregung. Unersättlichkeit. Schweiß, Urin, nackte Haut, Hitze, Sperma, Leben und diesen einzigartigen, erregenden Geruch an den Fingern. Und sein Körper erinnert sich noch, wie sie sich anfühlte.

    Ihr Name? Ihren Namen hat er vergessen. Aber dieser Geruch ist geblieben. Und dieses Gefühl an den Fingern und im Kopf. Der Körper erinnert sich, immer. An Details. Und er vergisst nicht und verzeiht nicht, nicht immer jedenfalls. Ihr Gesicht? Weg. Ihr Name? Er runzelt die Stirn. Was wohl aus ihr geworden ist? Sein Leben hat anderswo stattgefunden. Ihres auch.

    Vermutlich hat er seine halbe Kindheit im Wald verbracht. Um vor der anderen Hälfte zu fliehen. Er öffnet die Augen und lächelt. Er schaut zurück. Und geht dann zu dem Grund, der ihn her geführt hat: Der Tod.

    Eine Leiche ist eine Leiche ist eine Leiche, wiederholt Bernd Hebel gebetsmühlenartig diese einfache, aber zwingende Tatsache und Wahrheit, die ein paar Meter weiter vor ihm liegt, wieder einmal. Egal wie sie aussieht, es ist nur eine Leiche. Er will sich vorbereiten auf das, was kommt.

    Wahrheit ist immer konkret, denkt er, das hat Brecht schon gewusst.

    Und das hier ist konkret. Noch konkreter geht’s nicht. Vollkommen konkret tot.

    Eine dieser Tatsachen und Wahrheiten liegt nur wenige Meter vor ihm, in einer Senke im Waldboden. Nackt. Auf Laub gebettet. Von Erde umgeben. Auf der Seite, leichte Embryonalhaltung. Der Kopf und damit das Gesicht zum Boden verdreht. Abgelegt. Aber nicht weggeworfen, wie das auch vorkommt. Nicht verscharrt. Offensichtlich. Blass und starr, aber seltsam friedlich liegt sie da. Trotz der bereits jetzt sichtbaren Verletzungen. Daneben eine Plastiktüte. Eventuell die Kleidung. Oder was man so in Plastiktüten neben Leichen findet. Er wird es erfahren, auch wenn er es nicht wirklich wissen will. Er kennt unzählige intime Details, die Menschen nur als Leiche preisgeben. Die Menschen erst als Leiche preisgeben. Leichen sind manchmal redseliger als die Lebenden. Die versuchen zu verheimlichen und zu vertuschen, sie lügen und betrügen, biegen die Wahrheit und zerren an ihr, bis sie bricht. Das tun Leichen nicht. Das können sie gar nicht. Leichen erzählen eine Geschichte. Immer. Eine wahre Geschichte. Man muss nur zuhören und verstehen.

    Und, das weiß Hebel, der erste Eindruck zählt.

    Er schüttelt den Kopf.

    Er schaut weiter. Beobachtet und registriert. Vieles, was er sieht, speichert er unbewusst. Aber es wird wieder auftauchen, irgendwann und ihm helfen und Hinweise geben.

    Eine erwachsene Leiche. Auf den ersten und oberflächlichen Blick ist noch alles dran. Vermutlich männlich. Tatsächlich, noch schwierig zu sagen. Er ist noch nicht nah genug dran.

    Was hat man dir, oh, armes Kind getan? Wer hat es dir, oh, armer Mann angetan? Das hat sich Freud wohl gefragt. Es gibt nicht immer Antworten auf diese Fragen. Manchmal will man die Antworten auf diese Fragen auch nicht kennen. Doch genau deswegen ist Bernd Hebel hier: Wegen der Antworten. Er wird sie geben müssen. Irgendwo wartet jemand, der will Antworten.

    Auf die Leiche wartet ein Lebender, und der will Antworten. Meistens jedenfalls. Doch manche Leiche war bereits als Lebender einsam und allein.

    Wir werden die Vermisstenanzeigen durchgehen müssen, speichert er.

    Sein Blick wandert zu der Gestalt, die sich über die Leiche beugt und sich bereits mit ihr beschäftigt. Andächtig, still und konzentriert. In sich und seine Arbeit versunken. Aber, das weiß Bernd, hell wach und äußerst aufmerksam. Bernd weiß, dass er weiß, dass Bernd dort steht. Auch wenn er ihn scheinbar nicht beachtet.

    Dr. Wilder weiß vermutlich schon Genaueres, denkt Bernd. Er weiß es immer schon genauer. Ein paar Blicke, und er weiß mehr über eine Leiche als über seinen Nachbarn, der bereits seit Jahren neben ihm wohnt, oder seine Kollegen, mit denen er schon jahrelang zusammen arbeitet. Eine Leiche ist für ihn wie ein Buch. Wenn man die Sprache kennt, kann man in einer Leiche wie in einem Buch lesen. Dr. Wilder ist gut, er kennt die Sprachen der Leichen. Vielleicht reden ihm lebende Menschen auch zu viel. Oder geben die falschen Antworten. Leichen reden nicht viel, aber sie sagen ihm alles. Wilder ist geduldig und er entlockt ihnen ihre Geheimnisse,

    Egal, wie sie aussieht, sagt sich Bernd. Egal, wie diese Leiche aussieht. Eine Leiche ist eine Leiche ist eine Leiche. Er wiederholt sein Mantra. Und sie wird erst dann wieder zu einer Person, oder zu einem Menschen, wenn sie mir ihre Geschichte erzählt hat.

    Er weiß: Jede Leiche erzählt ihre eigene Geschichte. Sie wird ihm ihre Geschichte erzählen, früher oder später. Er wird sie ihr entlocken.

    Bernd Hebel hebt den Kopf und dreht sich einmal langsam im Kreis. Es ist seine Art, sich dem Tod zu nähern. Langsam, beinahe andächtig. Sie muss auf ihn wirken. Die Leiche. Und die Umgebung, in der er die Leiche findet.

    Wie kommt man hierher, um eine Leiche abzulegen?, fragt er sich. Die Bäume stehen dicht. Warum kommt man hierher, um eine Leiche abzulegen? Ausgerechnet hier?

    Und steht wieder vor der Leiche. Sie bleibt, wo sie abgelegt wurde, er kann nur die Perspektive ändern. Doch das hilft manchmal schon, reicht aus. Um etwas zu sehen, zu erkennen.

    Trägt man sie allein oder braucht man Hilfe? Reifenspuren? Schleifspuren? Auf dem Waldboden liegt sehr viel Todholz. Äste, Stämme, Zweige, Stümpfe. Dichtes Gestrüpp. Allein hat man hier sehr viel Mühe. Zu zweit ist es schon einfacher. Mindestens ein sehr kräftiger Mann.

    Erste Tatsache: Irgendwo ist ein Mensch gestorben, ermordet worden, bestialisch zugerichtet, gefoltert worden. Letzteres in diesem Fall. Übel zugerichtet. In diesem Fall wirklich übel zugerichtet. Je näher er kommt und je länger er schaut desto mehr Details. Oder waren hier schon Tiere am Werk, um sich zu holen, was ihnen zusteht?

    Aasfresser. Diese tierischen Zeitgenossen verbindet der menschliche Verstand nicht gern mit einem menschlichen Körper, mit einem toten menschlichen Körper.

    Er ist sich sicher. Weil er es sieht, weil er es nicht zum ersten Mal sieht. Hier hat sich jemand Zeit gelassen. Aber nicht hier, nicht hier im Wald, hier ist die Leiche nur abgelegt worden, das sieht selbst er, sofort. Zu wenig Blut. Sehr wenig Blut. Die Leidenschaft hat woanders stattgefunden. Und hier war jemand leidenschaftlich, das sieht er. Sofort. Leidenschaft kennt viele Ausdrucksmöglichkeiten. Das hier ist eine spezielle Form der Leidenschaft.

    Hier war jemand sehr intim, wenn man es so sagen kann. Opfer und Täter hatten eine persönliche Beziehung. Vermutet Bernd Hebel. Sie standen sich nahe oder sind sich nahe gekommen, sehr nahe. Für das Opfer zu nahe, grenzüberschreitend. Durchdringend. Einschneidend.

    Es gibt immer einen Grund. Ein Warum; warum eine Person, ein Mensch eine Leiche wird, eine Leiche eine Leiche ist. Und er muss jetzt den Weg zurückgehen. Der Leiche ihre Geschichte entlocken, ohne sie wieder mit Leben füllen zu können.

    Was hast du uns zu sagen? Wer hat dich warum so zugerichtet? Was hast du getan?

    Zweite Tatsache: Auch der Mörder wird erst zur Person, wenn er seine Geschichte erzählt hat. Wenn ich seine Geschichte kenne. Wenn ich meine Arbeit gut mache, werde ich seine Geschichte erfahren.

    Er macht einen weiteren Schritt Richtung Leiche. Und schaut genauer. Er würde wohl kotzen müssen, wenn ihm noch schlecht werden könnte. Und wenn er heute Morgen schon gefrühstückt hätte. Wieder einmal sieht er es. Und er sieht: Es geht immer noch ein bisschen mehr. Doch noch. Schlimmer. Widerlicher. Bestialischer, wahnsinniger.

    Nur, dass es ihn nicht mehr schockiert. Nicht mehr.

    Doch, fragt er sich, hat Wahn jemals einen Sinn gehabt?

    Das ist wie mit der höchsten Zahl. Man kann immer noch eins dazu addieren. Denkt er. Und noch eine. Und noch einmal eine. Eine Leiche. Und das, was ein Mensch mit einem anderen Menschen macht. Machen kann. Hat hier der Wahnsinn gewütet?

    Dr. Wilder dreht gerade den Kopf der Leiche, so dass er das Gesicht der Leiche ...

    Zu spät, Bernd kann den Blick nicht mehr abwenden.

    „Wer macht denn so was?", fragt Bernd Hebel leise und er weiß, dass ihm niemand zuhört. Noch nicht. Obwohl so viele Leute hier sind, im Wald, und beschäftigt sind. Mit der Leiche, mit der Umgebung. Spurensicherung. Auch wenn er nicht allein ist, hier im Wald, im Angesicht des Todes. Wobei er sieht, dass es mit dem Gesicht des Todes hier nicht so einfach ist. Er hat kein Gesicht. Diesmal hat der Tod kein Angesicht. Kein Angesicht mehr. Er kann ihm nicht in die Augen schauen. Noch nicht.

    Er schaut instinktiv zur Plastiktüte. Und verzieht den Mund. Er ahnt, was sich in der Tüte befindet. Keine Kleidungsstücke.

    Leck mich doch am Arsch!, flucht er in sich hinein. Weil er sieht, was er sieht. Und weil er mehr sieht als offensichtlich ist.

    Was für eine gottverdammte Scheiße. Er denkt noch immer. Ist noch nicht Profi genug an diesem Morgen. Er denkt noch.

    Und starrt vor sich hin. Schließt die Augen. Atmet, atmet ein und wieder aus.

    Und denkt.

    Wie aus dem Gesicht geschnitten, hat hier eine ganz sprichwörtliche und realistische Bedeutung.

    Er atmet weiter. Aus dem Gesicht geschnitten. Augen, Nase, Lippen ...

    Es riecht frisch, feucht, kühl. Aber auch ein anderer Geruch liegt in der Luft. Verwesung?

    Vielleicht bin ich ja noch gar nicht wach, versucht er es, und ich träume, er schüttelt jedoch den Kopf und öffnet die Augen wieder, weil er weiß, dass man sich so eine Scheiße gar nicht ausdenken und nicht träumen kann. Und blinzelt.

    Bernd Hebel hat keine Alpträume.

    Geschreddert, denkt Bernd Hebel. Der Typ sieht aus wie durch einen Schredder gezogen. Ohne in seine Einzelteile zerlegt worden zu sein. Oder er ist nachher wieder zusammengesetzt worden.

    Eben lag ich doch noch im warmen Bett. Alleine zwar, aber es war gemütlich. Zumindest das. Und warm. Plötzlich fröstelt ihn. Er schüttelt den Kopf und mit ihm den Traum, den er nicht geträumt hat. Schade. Denkt er, wirklich schade. Kim hat im Auto wirklich neben ihm gesessen. Er hatte sie abgeholt.

    Er seufzt.

    Er schaut sich um. Nur allzu Bekanntes und allzu Bekannte. Kein Traum. Und leider auch kein Alptraum.

    Dr. Wilder ist mit der Leiche beschäftigt. Er war mal wieder schneller. Wie immer. Der sitzt vermutlich angezogen und mit seinem Köfferchen im Sessel zuhause und wartet, dass das Telefon klingelt. Tag und Nacht.

    Hat der nicht letztes Mal schon diese Hose angehabt? Den Mantel kennt er ja schon. Vermutlich hat er nur diesen einen oder diesen einen gleich mehrmals.

    Er schreckt nicht einmal mehr auf, wenn endlich das Telefon klingelt.

    Vielmehr sehnt er das Klingeln herbei, vielleicht lässt er es auch klingeln ... er bringt es dazu, endlich zu klingeln ...

    Dann steht er auf, nimmt seinen Koffer und verlässt das Haus. Nicht eilig, aber zügig. Froh, etwas zu tun zu haben. Bernd weiß nicht einmal, ob Dr. Wilder Familie hat, eine Frau, Kinder. Großes Fragezeichen. Nur ein großes Fragezeichen. Wem erzählt er eigentlich, was er sieht, wenn er seine Leichen untersucht hat? Das muss er doch irgendjemandem erzählen, außer seinem Diktafon, natürlich. Wohin nimmt er das, was er sieht und fühlt, mit? Ins Grab? Er hat ihn noch nie ein Bier trinken sehen.

    Muss ihn bei Gelegenheit mal fragen. Ja, ich frage ihn mal. Denkt Bernd Hebel.

    Aber er ist zuverlässig. Er hat Bernd noch nicht beachtet, auch wenn er weiß, dass er dort steht und ihn beobachtet. Er blendet Unwichtiges aus. Bernd ist im Moment unwichtig. Er hat einfach alles ausgeblendet. Dr. Wilder wirkt fasziniert. Wie sonst auch. Wie immer, jedes Mal. Beeindruckt, aber nicht mehr schockiert über das, was er zu sehen bekommt, vertieft in das, was vor ihm liegt. Vielleicht hin und wieder enttäuscht darüber, dass es immer wieder dasselbe ist. Nichts Außergewöhnliches mehr. Abgetaucht in die Fakten: Eine Leiche. Das ist seine Arbeit: Leichen. Und was sie zu sagen haben. Selbst das fehlende Gesicht der Leiche hat ihn nicht aus seiner Ruhe schrecken können. Eine Hand liegt unter der Wange des Mannes, oder unter dem, was einmal die Wange eines Mannes war. Die andere streicht Haare aus dem Gesicht. Dr. Wilder sieht genau hin.

    Diese Geste wirkt fast zärtlich.

    Vorangeschrittene Verwesung? Tiere? Würmer, Ameisen, Maden?

    Spricht sie gerade zu ihm?, fragt sich Bernd Hebel. Er lauscht. Ich höre nur: Ich würde gern noch leben. Ich hatte große Schmerzen zu erleiden.

    Man könnte den Eindruck haben, dass er eine persönliche Beziehung zu der Leiche aufgebaut hat. Fast liebevoll ist er über den Leichnam gebeugt und schaut ihn sich an. Kurz davor, ihn zu streicheln. Ja, es hat wirklich etwas Zärtliches an sich, die Szene, die Bernd Hebel beobachtet. Herzzerreißend.

    Begrüßen sie sich oder verabschieden sie sich?

    Ob er eine Erektion hat?, fragt sich Bernd Hebel und wendet sich ab. Du bist so ein Vollidiot, denkt er.

    Bevor es noch schlimmer wird. Schaut sich Bernd weiter um.

    Blitzlichter. Absperrband. Streifenwagen. Ein Leichenwagen. Das übliche Programm.

    Als würde es hier etwas abzusperren geben. Grenzen sind hier bereits überschritten worden.

    Er lauscht.

    Es ist noch immer eigenartig still, hier, am Morgen, im Wald. Es ist noch früh, so früh. Trotz der vielen Menschen hier. Als schlucke der Wald die Geräusche, die menschlichen Geräusche. Er verschluckt einfach die Menschen, die sich hier hinein wagen, als seien sie gar nicht da. Als wäre nur der Wald. Der Wald. Er allein. Nur der Wald. Und die Menschen gehören nicht hierher. Der Wald verschluckt die Menschen, die in ihn eindringen, die hier abgelegt werden, irgendwann sind sie weg. Spurlos. Der Boden zieht sie in sich hinein. Alles wird eins. Erde und Staub. Verwesung. Und Erneuerung. Der ewige Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt.

    Er schaut wieder zu Dr. Wilder und seiner Leiche.

    Wie nah kann der eigentlich einer Leiche kommen? Denkt Bernd. Keine Schamgrenzen. Die totale Intimität. Dr. Wilder schaut, sieht, riecht und hört. Und schmeckt? Und spricht leise in sein Diktafon. Damit er beide Hände frei hat, hängt es mit einer Kette um seinen Hals.

    Wie krank muss man eigentlich sein, überlegt Bernd Hebel, ohne bei diesem Anblick zu kotzen? Und er sieht, wie Dr. Wilder eine Hand der Leiche anhebt und sich offenbar die Finger genauer anschaut.

    Als wolle er der Leiche einen Handkuss geben!

    „Scheiße!, brummt Bernd Hebel vor sich hin. „Scheiße! Ohne wirklichen Adressaten.

    Und das heute. Aber warum eigentlich nicht heute? Was ist heute anderes als an anderen Tagen? Nichts. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Denn es ist nie so, wie man es sich vorgestellt hat. Es ist immer anders.

    „Was für eine Scheiße!, sagt er laut. „Was für eine widerliche, Gott verdammte Scheiße.

    Die Stille löst sich auf, das Vakuum ist zerbrochen.

    Bin ich dafür heute Morgen aufgestanden?, fragt er sich. Und wiederholt: „Scheiße!"

    Dr. Wilder hebt den Kopf. Grinst. Oder lächelt. Freudlos. Er weiß bereits mehr als Bernd Hebel.

    „Das kannst du wohl mal laut sagen", sagt Dr. Wilder. Und er schaut Bernd an als erwarte er, dass er jetzt endlich anfängt zu kotzen.

    Dr. Wilder erhebt sich seufzend, geht ein paar Schritte und setzt sich auf einem Baumstamm. Er greift hinter sich und hat eine Thermoskanne in der Hand. Er schraubt den Deckel ab, der ein Becher ist, drückt oben auf die Kanne und schenkt sich ein und nimmt einen Schluck. Hält inne. Schließt die Augen. Und schluckt. Der heiße Dampf steigt vor seinem Gesicht in die Höhe. Er öffnet die Augen. Er starrt vor sich hin. Und schüttelt unmerklich den Kopf. Ganz langsam.

    Bernd Hebel hat in seinem Leben schon eine Menge Scheiße gesehen. Doch das, was er gerade sieht, ist auch für ihn neu. Anders als alles bisher Dagewesenen. Und, das hofft er nicht zum ersten Mal, einmalig und nicht zu überbieten. Er ist seit über zehn Jahren beim LKA. Er dachte, dass er sich über nichts mehr wundern würde. Er dachte bisher, dass er sich über das, was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr wundern würde. Er dachte bisher, dass ihn nichts mehr aus der Fassung bringen könnte. Nichts.

    Bisher.

    Doch es gibt sie, immer und immer wieder, weiterhin, die extremen Ausnahmesituationen, die Menschen in den Abgrund oder in den Wahnsinn treiben. Deswegen ist er hier. Wenn er gerufen wird, geht es um die extremen Auswüchse der zwischenmenschlichen Beziehungen. Und ihre Auswirkungen. Es herrscht Krieg. Immer und immer irgendwo. Zwischen den Menschen.

    Aber, ja, es geht noch mehr, und merkwürdiger, denkt er und bewahrt die Fassung. Eine Million und eins. Eine Million und zwei ... und dann? Eine Million und drei.

    Es wird bleiben, das Bild, das sich ihm hier bietet, wird in seinem Kopf bleiben, er sieht es, er weiß es. Er wird es sich merken, auch wenn das Bild nicht würdig ist, nicht wert ist, gemerkt, erinnert zu werden. Mit Würde hat das hier nichts zu tun. Das, was Bernd sieht, entbehrt jeder Würde.

    Er blinzelt.

    Vielleicht verschwindet es, denkt er. Blinzelt noch einmal. Nein. Es bleibt.

    Ich bin wach. Definitiv. Mist.

    „Was hast du getan?, fragt er, „was hast du getan, dass man dir das angetan hat.

    Es gibt immer einen Grund.

    „Du hast jemanden geärgert. Warst du böse? Warst am Ende du der Böse?"

    Es hat bisher immer einen Grund gegeben. Immer.

    „Wer macht so was nur?", wiederholt sich Bernd.

    „Besser: Wie macht man so was?, korrigiert Kim. „Und wo?

    Er zuckt nicht einmal zusammen.

    Sie steht neben ihm. Plötzlich, und ja. Endlich. Er dreht den Kopf zu ihr. Er hat nicht gehört, wie sie gekommen ist. Aufgetaucht wie aus dem Nichts, vom Himmel gefallen, hat sie sich lautlos materialisiert, wie ein wahr gewordener Traum. Neben ihm aufgeschlagen ohne Lärm zu machen.

    „Hier, sagt sie, „hat das nicht statt gefunden. Hier nicht.

    Sie schleicht sich an wie eine Katze, denkt Bernd Hebel. Sie hat etwas Katzenhaftes an sich. Leise. Geheimnisvoll. Egoistisch. Eigensinnig. Er registriert seine Reaktion auf ihre Anwesenheit: Ein Ziehen in der Lendengegend. Selbst hier. Freude. Erleichterung. Sie ist da. Er lächelt. Blöde vor sich hin. Morgens ist er besonders empfindlich und empfänglich. Er reagiert auf sie, schon seit langer Zeit. Die Umgebung ist vollkommen egal, er reagiert.

    Ob sie es weiß?, fragt er sich. Ob sie es ahnt? Spürt sie es, wenn und wie ich reagiere?

    Sie schaut ihn nicht an. Starrt die Leiche an. Schluckt. Nickt Dr. Wilder zu. Der hebt zum Gruß seinen Becher.

    Er hat auch sie längst akzeptiert, nein, er hat sie anerkannt. Er erweist ihr auf seine Art Respekt. Doktor Wilder hat schnell gemerkt, dass und wie gut sie ist.

    Kaffee, denkt Bernd Hebel. Kaffee. Zivilisation. Eroberung. Kolonisation. Kaffee. Konquistadoren ... Gemetzel, Plünderung, Christianisierung. Gold. Und endlich: Tod. Überall Tod.

    „Geh schon mal vor", hat Kim vor ein paar Minuten gesagt. Im Auto. Sie blieb sitzen.

    Sie wirkte unruhig. Irgendetwas beunruhigte sie. Hier. Machte sie nervös. Im Wald. Er hat sie angeschaut, sagte aber nichts, stieg aus und ging los. Drehte sich nur kurz um. Sie starrte nach vorn. Schien ihn gar nicht mehr wahr zu nehmen. Der Wald. Kurz nachdem sie in den Wald gefahren waren, wurde sie still, schweigsamer als sonst.

    Der Körper vergisst nicht. Niemals, er erinnert sich.

    Sie redet ohnehin nicht viel. Sie verstehen sich auch so. Gut. Er ist auch kein Mensch der großen Worte. Sie schaut und sieht. Und deutet mit ausgestrecktem Arm oder einem Nicken. Hebt die Augenbrauen, kurz.

    Und wurde unruhiger. Im Auto. Legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Atmete ruhig. Aber konzentriert. Zu konzentriert. Kein gutes Zeichen.

    Wer sich auf seine Atmung konzentrieren muss, dachte Bernd im Auto, der hat ein Problem. Sie achtete auf ihre Atmung. Er war klug genug, nicht zu fragen.

    Mit dem Wald?, fragt er sich jetzt. Hat sie ein Problem mit dem Wald? Und was in ihm passieren kann? Was ist ihr im Wald passiert?

    Sie trägt etwas mit sich herum.

    Das weiß er. Wie er auch. Sie trägt Erinnerungen mit sich herum. Ihr Körper. Erinnert sich.

    Er spricht zu ihr. Der Wald, er spricht auch zu ihr. Sie fühlt es. Sie hört ihn, den Wald, sein Flüstern, seinen Atem, die Stille und die Dunkelheit. Ewige Dämmerung. Der Wald lebt und verbirgt. Im Zwielicht. Sie riecht es. Er ruft sie. Ihren Namen.

    Sie musste den Weg vom Auto zum Fundort allein zurücklegen. Das musste sie. Sie hätte keine Nähe ausgehalten, geduldet. Niemals. Aber. Sie hat es geschafft. Allein. Ganz allein. Sie steht im Wald, zwischen den Bäumen und Büschen, den Waldboden unter ihren Schuhen und atmet ruhig ein und aus. Sie hat es geschafft. Sie atmet. Schließt die Augen. Kurz. Und sie riecht es. Sie riecht den Tod. Die Vergänglichkeit. Sie riecht die Angst, die Vergänglichkeit und das Leben. Im Wald geschehen schreckliche Dinge.

    Sie öffnet die Augen.

    Jetzt sieht sie die Leiche. Und kann sich konzentrieren.

    Weil er neben ihr steht.

    Jetzt steht sie neben ihm. Endlich. Ihre Arme berühren sich. Er spürt ihre Nähe. Sie ist angespannt. Er hört es und er spürt es.

    Es ist der Wald, vermutet er, ja, der Wald. Der Wald verändert die Leute. Der Wald macht aus den Menschen ... andere ... Menschen. Offenbart das Andere im Menschen, das Animalische.

    Bernd Hebel hebt den Kopf. Er schaut sie an. Kim Schmied, seine scharfsinnige und, ja, scharfe Kollegin, hat Recht. Wie so oft.

    Es hat nicht hier statt gefunden.

    Er schaut sie gern an. Er mag sie. Und mehr. Er sieht sie. Und merkt, dass er doch noch lebt.

    Lange, glatte und, ja, schwarze Haare. Zu einem Zopf zusammengebunden. Asiatische Züge. Ihre Mutter. Ihre Mutter ist Thai. Heißt auch Schmied. Sieht merkwürdig aus. Wenn sie sich vorstellt. Aber es ist dann sofort alles klar. Denken sie. Die sie dann anschauen. Und meinen alles zu wissen. Kim wurde hier geboren. Perfektes Deutsch. Soviel weiß er, über ihren Vater schweigt sie sich aus. Vermutlich einer, der im Katalog bestellt hat. Vielleicht hat er sie auch persönlich abgeholt. Ihm ist das egal.

    Bernd schaut sie wieder einmal zu lange an. Von der Seite. Er schaut sie oft an, zu lange. Ihr Profil. Weiche, glatte Gesichtzüge. Samtene Haut. Grübchen, Stupsnase. Selbst wenn ihr Erzeuger ein Touristen-Arschloch ist, der seinen Urlaubsfick mit nach Hause genommen hat. Oder ein Kinderficker.

    Bernd sieht Kim gern an, hat sie gern an seiner Seite, nicht nur, weil sie eine hervorragende Ermittlerin ist. Seit drei Jahren steht, kniet, denkt und rennt oder hockt sie an seiner Seite. Und sieht, was er sieht und noch mehr. Ja, er muss das zugeben. Sie sieht oft mehr als er.

    Der Touristen-Erzeuger hat wenigstens das richtig gemacht. Denkt Bernd. Kim ist richtig. Vielleicht hat das alles ja doch eine Bedeutung. Sich in Thailand eine Thai zu krallen. Für ihn hat es in diesem Moment eine Bedeutung. Sie steht neben ihm und er kann sie anschauen und sich an ihrem Anblick freuen. Aber nicht satt sehen. Er wird hungrig. Gierig. Ja. Was soll er machen? Er konnte sich noch nie belügen. Andere ja, aber sich selbst nicht. Er hat Hunger und ist nicht satt. Der Körper lügt nicht und lässt sich nicht verarschen.

    Hebel, ermahnt er sich, halt doch einfach mal die Fresse. Halt doch einfach die Fresse. Einmal, jetzt. Versau es nicht. Dieses eine Mal!

    Sie kann auch gut mit der Waffe umgehen.

    Bernd schmunzelt. Es kribbelt. Nicht nur auf der Haut.

    Mein Gott, Hebel. Wenigstens habe ich keinen Ständer wegen der Leiche. Ha!

    Ja, denkt er, wir sind verliebt. Irgendwie. Jedenfalls. Er vermutet, dass sie auf Frauen steht. Nicht verheiratet, genauso wie er, keine Kinder, wie er. Fünf Jahre jünger. Sie verstehen sich einfach zu gut. Sie kann einfach nicht auf Männer stehen. Dafür verstehen sie sich zu gut. Frauen, die sich mit Männern verstehen, stehen nicht auf Schwänze. Frauen, die mit Männern reden, stehen nicht auf Schwänze.

    Oder ist sie Vegetarierin? Die nehmen doch auch kein Fleisch in den Mund ...

    Du Vollidiot.

    Oder es ist ihr Vater, diese Drecksau. Wer in Thailand einkaufen geht, nimmt sich auch schon mal die eigenen Erzeugnisse. Da wird nicht groß unterschieden und lange gefackelt. Ist ja nur Ware. Fleisch. Menschliches, warmes, williges oder unwilliges Fleisch, egal. Und dazu noch unbenutzt. Eng und weich, straff und unberührt. Ach!! Eine Muschi halt, eine Fotze. Die sich manchmal auch wehrt. Am Anfang zumindest, hat auch seine Reize. Wenn sie sich wehren.

    „Ja, komm, wehr dich, das macht mich an ...! Ich mag es, wenn du dich wehrst."

    Scheiße Hebel! Was ist bloß los mit dir? Halt jetzt die Fresse! Jetzt. Konzentrier dich! Selbst Schuld, hättest ja etwas frühstücken können.

    Er schüttelt sich und die Bilder von sich ab.

    Er hat zu viel gesehen und sich zu viel anhören müssen. Der Respekt vor seinen Mitmenschen hat gelitten. Das, was denkbar ist, hat er bereits gesehen. Wenn er das Unwahrscheinliche streicht, bleibt das Unmögliche ... und wird zum Möglichen ... Er hat es gesehen.

    Sie hat Recht. Kim. Wieder einmal.

    Wie macht man so was? Ist eindeutig die bessere Frage. Denkt er. Konzentriert sich. Nächster Versuch. Wie kann man so was nur machen? Wie hält man es aus, so was mit einem Menschen zu tun? Wie hält man die Schreie des Menschen aus, dem man so etwas antut? Indem man sich die Ohren zuhält? Oder? Oder will man die Schreie dann auch hören? Wenn man es tut. Während man es tut? Tut man es deswegen? Wegen der Schreie? Hat er sich an den Schmerzen geweidet, an den Schreien? Tut man es, um ihn schreien zu hören? Nicht: Schrei, wenn du kannst, sondern: Schrei, weil ich es will? Weil ich es so gern höre. Deine Schreie. Macht mich das an? Hm?

    Es ist das einzige, was du noch tun kannst, also schrei!

    Das macht mich wahnsinnig geil!

    Schrei!

    Lauter!

    Schrei!

    Das ist geil!

    Ja! Ja! Ist das geil!

    Ein Schrei für einen Ständer!!

    Schrei! Und ich fick dich. Ich fick dich. Und du schreist!

    Ich komme, weil du schreist!

    Es wird das Letzte sein, was du in deinem verfickten und beschissenen Leben hören wirst! Deinen eigenen Schrei! Und mein Lachen! Du schreist, bettelst und winselst um dein Leben. Oder um den Tod! Das tun sie alle, am Ende schreien sie und betteln, sie würden alles tun. Alles! Nur um am Leben zu bleiben. Oder damit es endlich vorbei ist. Gelegentlich ist der Tod besser als weiter zu leben.

    Und ich lache. Oder ejakuliere! Oder beides. Ohne Berührung. Einfach so. Du schreist und ich komme, ich spritze ab, dir mitten ins Gesicht. Ist das geil, Mann! Du zuckst und stirbst.

    Dein Schrei. Mein Lachen und mein Saft in deinem Gesicht sind das Letzte in deinem Scheißleben, was du siehst und hörst.

    Hebel schüttelt den Kopf.

    Ich mach das schon viel zu lange. Ganz eindeutig. Das müssen die ersten Anzeichen dafür sein, dass es Zeit ist, auszusteigen.

    Was ihn stutzig macht ist die Tatsache, dass es sich um einen Mann handelt.

    Frauen tun so was nicht. Nicht, dass sie nicht abspritzen, das gibt es schon, nein, sie wollen Männer so nicht schreien hören, oder? Und dabei abgehen!

    Schlächter und Psychopathen sind meistens oder immer? Männer! Monster! Vielleicht mal ein Pärchen. Oder der Nachbar von nebenan, der nette Nachbar, der immer so freundlich grüßt. Manchmal der Schwiegersohn. Und im Winter sogar den Schnee vor der Tür wegräumt. Oder die Mülltonne reinstellt.

    Und im Keller haben sie dann einen Bereich, in dem sie ein Eigenleben führen. Nach ihren Regeln. Einen eigenen Hobbyraum.

    „Da muss jemand ziemlich außer sich gewesen sein", murmelt Bernd.

    „Und vielleicht warum?", ergänzt Kim.

    Bernd schaut sie an.

    „Warum tut er so was?", fragt Kim.

    Bernd nickt.

    „Da muss jemand richtig wütend gewesen sein", sagt Kim.

    „Sehr wütend."

    „Oder, sagt Dr. Wilder und räuspert sich, „oder hier hatte jemand richtig seinen Spaß.

    Dr. Wilder kniet wieder neben der Leiche, neben dem, was vermutlich einmal ein Mensch gewesen ist. Das, was eben vom Leben übrig bleibt. Wenn man sich nicht vorsieht. Wenn man in die falschen Hände gerät. Viel ist es nicht, was übrig

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