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Bodenfrost: Erfundene Ereignisse um Wilfried Schaffer an wirklichen oder wirklich scheinenden Orten
Bodenfrost: Erfundene Ereignisse um Wilfried Schaffer an wirklichen oder wirklich scheinenden Orten
Bodenfrost: Erfundene Ereignisse um Wilfried Schaffer an wirklichen oder wirklich scheinenden Orten
eBook563 Seiten8 Stunden

Bodenfrost: Erfundene Ereignisse um Wilfried Schaffer an wirklichen oder wirklich scheinenden Orten

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Über dieses E-Book

Der Hauptgestalt dieses Buchs, Wilfried Schaffer, widerfahren Misslichkeiten zuhauf. Woran die Verhältnisse schuldig sind. An einigen davon ist er freilich mitschuldig.
Natürlich strebt er nach Glück. Doch geht es ihm nicht nur ums Private. Er sorgt sich ums große Ganze, ist dafür, die Verhältnisse zu ändern. Klar ist ihm, dass er, der Unwichtige, in dieser Hinsicht nicht viel bewirken kann. Er ist kein Durchreißer, besitzt keine große Tatkraft, hingegen eine erhebliche Einbildungskraft, die ihn befähigt, sich Vergangenes lebendig auszumalen. Es kommt dahin, dass er aus seiner bedrückenden Gegenwart in eine vergangene Zeit springt.
Schaffer bekommt schließlich einen Zipfel Glück zu fassen.
Dies ist kein einspuriges Buch. Es ist eine gegen den Strich gebürstete "Heimat-Dichtung". Es ist ein Liebesroman unüblicher Art. Vor allem ist es ein Anti-Kriegs-Buch. Und es bietet Einblick in die Vorstellung Schaffers vom Weltganzen.

Die Handlung des Buchs ist durchweg frei erfunden. Gestalten darin, welche bedeutende Namen tragen, ähneln den betreffenden historischen, sind jedoch nicht deckungsgleich. Und selbstverständlich sind etwaige Ähnlichkeiten der vorkommenden Personen mit lebenden oder gelebt habenden rein zufällig.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum13. Sept. 2016
ISBN9783741849800
Bodenfrost: Erfundene Ereignisse um Wilfried Schaffer an wirklichen oder wirklich scheinenden Orten

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    Buchvorschau

    Bodenfrost - Erhart Eller

    Bodenfrost

    Erfundene Ereignisse um Wilfried Schaffer  an wirklichen oder wirklich scheinenden Orten

    Texte: © Copyright by Erhart Eller

    Umschlaggestaltung: © Copyright by …Erhart Eller

    Verlag:     Lutz Reichelt

    Südring 110 06667 Weißenfels

    lundbri@kabelmail.de

    Ersteller:        epubli GmbH, Berlin

    Vorbemerkung

    Der Hauptgestalt dieses Buchs, Wilfried Schaffer, widerfahren Misslichkeiten zuhauf. Woran die Verhältnisse schuldig sind. An einigen davon ist er freilich mitschuldig.

    Natürlich strebt er nach Glück. Doch geht es ihm nicht nur ums Private. Er sorgt sich ums große Ganze, ist dafür, die Verhältnisse zu ändern. Klar ist ihm, dass er, der Unwichtige, in dieser Hinsicht nicht viel bewirken kann. Er ist kein Durchreißer, besitzt keine große Tatkraft, hingegen eine erhebliche Einbildungskraft, die ihn befähigt, sich Vergangenes lebendig auszumalen. Es kommt dahin, dass er aus seiner bedrückenden Gegenwart in eine vergangene Zeit springt.

    Schaffer bekommt schließlich einen Zipfel Glück zu fassen.

    Dies ist kein einspuriges Buch. Es ist eine gegen den Strich gebürstete „Heimat-Dichtung". Es ist ein Liebesroman unüblicher Art. Vor allem ist es ein Anti-Kriegs-Buch. Und es bietet Einblick in die Vorstellung Schaffers vom Weltganzen.

    Die Handlung des Buchs ist durchweg frei erfunden. Gestalten darin, welche bedeutende Namen tragen, ähneln den betreffenden historischen, sind jedoch nicht deckungsgleich. Und selbstverständlich sind etwaige Ähnlichkeiten der vorkommenden Personen mit lebenden oder gelebt habenden rein zufällig.

    Inhalt

    Der dreißigste des April Zweitausendundsieben

    Morgenstund ohne Gold im Mund

    Glücks-Schimmer zur Mittagszeit

    Gespenstisches, Walpurgis-gemäß

     Der letzte Kaiser, der ewige Soldat, das Lumpenmännchen und der Tod

    Tages-Abrechnung

    Andere Menschen in dieser Nacht

    Der Mai ist gekommen

    Wilfried Schaffer begeht den Feiertag

    Unfeierliches

    Die arge Arge

    Es sind nicht alle so

    Schreibtisch-Fleiß

    Getöse in Großgörschen

    Dominique Jean Larrey, literarisch verarbeitet

    Schaffer Wilfried müht sich ab. Wo bleibt sein Lohn?

    Zwei andere Menschen bedenken die Lage

    Unter Menschen

    Novalis, die harte Nuss

    Seltsames ereignet sich

    Frau Freys derzeitiges Befinden

    Erwin Plattner geht mit sich zu Rate

    Arge funkt zwischen

    Was ist mit Plattner?

    Zweifel, nicht Verzweiflung

    #

    Plattner und Schwertfeger

    Herrn Erwin Plattners unglaubliches Erlebnis

    Herr Schwertfeger aus Bayern. Zum ersten

    Aufklärung, Hoffnung, Reue, Arbeitslust

    Ende einer Unklarheit

    Birgit Frey in veränderter Lage

    Reue

    Das Schneiderlein

    Der Tagebuch-Schreiber

    Birgit, ach Birgit, du liegst mir im Sinn

    Unerwartete Schwierigkeit

    Der Groll des armen Manns

    Das nützliche Geschenk

    Verzweifelter Versuch

    Brembach, der Wirtshausgänger

    Schwertfeger, der Wahnwitzige

    Schlachtspiel, zweifelhaft

    Schaffer unter Rechtfertigungsdruck

    Rochus Schwertfegers neuer Anlauf zur Verwirklichung seiner Geschäfts-Idee

    Ansatz zum Höhenflug, Absturz

    Schaffers Angst: Totpunkt, nichts dreht sich noch

    Wilfried Schaffer will studieren

    Absonderliches Theater

    Mit Birgit unter einem Dach

    Birgit schweift gedanklich

    Gefangenschaft des Körpers, Freiflug des Geists

    Im Archiv gefangen

    Gewittergrollen

    Die Frieder-Saga

    Gedanklicher Nachtrab

    Erfüllung? Nein. Geduld, Geduld!

    Birgit, allzu fern

    Theater zum Zweiten

    Statt dem Ersehnten sein Geschriebenes

    Brembach sieht dunkle Wolken

    Unverändert: Nicht der Mann, nur Geschriebenes

    In der preußischen Latrine

    Birgit, die wirklich Unwirkliche

    Die ach so Ferne. Der ungeliebte Nächste

    Mitmensch Egon Seitling

    Du, du, mit dir will ich leben

    Handarbeit, dann aber…

    Der Notgefährte

    Wilfried Schaffers und Egon Seitlings lange Sitzung

    Das geträumte Gericht

    1.Gustav Adolf und Waldstein

    2. Heinrich

    3. Friedrich

    4. Napolione Buonaparte

    5. Der Traum vom Strafverfahren wegen Geschichtsfälscherei

    Es spitzt sich dramatisch zu

    Brembach. Ohne Wenn und Aber

    Der Gedenktag

    Wahrlich, die Zeit ist nicht gut

    Nun ist er hautnah, der Krieg

    Schlachtenbummelei

    Gewiss ist nur die Ungewissheit

    Ein geisterhaftes Gespräch

    Die zurückrollende Woge

    Nachhall des Gewitters

    Alltag, nach und nach

    Zeitenwechsel

    Rück-Abwicklung. Brembach adé

    Wirbel und Wallungen

    Frau Frey und Mann Schaffer, sehnsüchtig, unzufrieden

    Kell, der Oberlehrerhafte

    Alle Mühen vergeblich?

    Erwin Plattner belobigt Wilfried Schaffer

    Der selbstverliebte Müllner

    Entscheidung

    Post für Plattner

    Er haut sie, die Sibylle

    Oh Mathilde

    Oh Birgit!

    Erfüllung nun doch?

    Birgits Gedankenkreisen. Der Aufbruch

    Spiegelung, nicht Vorspiegelung

    Ausschweifende Betrachtungen

    Traumhafte Wirklichkeit, gar nicht traumhafte Träumerei, Enttäuschendes

    Was ist Sache?

    Nachtrag

    Der dreißigste des April Zweitausendundsieben

    Morgenstund ohne Gold im Mund

    Wilfried Schaffer war ein besitzloser, erwerbsloser Mensch, dessen Dasein sich weitgehend unbemerkt vollzog, obschon er das Licht nicht scheute.

    An jenem Montag-Morgen erwachte dieser einsame Wolf, dem die Einsamkeit nicht behagte, bereits vor Sechs. Er hatte leidlich geschlafen, doch wirres Zeug geträumt. Zielstrebiges Träumen wäre ihm lieber gewesen. Gut hätte er einen Traum gefunden, der ihm offenbarte, wie er seine Lage bessern könnte. Doch solchen Traum konnte er nicht erzwingen. Das war beklagenswert, doch jetzt war nicht die Zeit zu klagen. Eine Frage galt es zu bedenken: „Wie bewältige ich den heutigen Tag? Die nächstliegende Antwort hieß: „Liegen bleiben, um Energie zu sparen. Dieses Nächstliegende kam für ihn nicht in Betracht. In ihm steckte der unbezwingliche Drang, tätig zu sein, obschon sein Tun absehbar nichts bewirken würde.

    Punkt Sechs, mit dem Klingeln des Weckers, erhob er sich von seiner knarrenden Liege zur schnörkellosen Körper-Reinigung. Dabei ging ihm Düsteres durch den Kopf. Der sogenannte Arbeitsmarkt war ihm fest verschlossen. Die nicht mehr zu zählenden Besuche bei Ämtern und Agenturen sind vergeblich gewesen. Verachtung war ihm oft begegnet, kaum verhohlen oder ganz ungeschminkt. Zugegeben, er hatte auch mit anständigen Ämtlern zu tun gehabt; eine durchaus Anständige war die für ihn zuständige „Fall-Managerin. Die ging mit ihm wie mit einem Menschen um, wollte ehrlich helfen, doch konnte nicht. Er war nun einmal ziemlich lange heraus aus dem Berufsleben, Fünfundvierzig alt inzwischen, somit, nach vorherrschender Ansicht, eine Ware jenseits des Verfalls-Datums. In früheren Jahren hatte man ihn gelegentlich mit „Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen abgespeist, die bescheiden entlohnt wurden, doch immerhin. Er, der mit Geld umgehen konnte, war einigermaßen zurecht gekommen. In der Vergangenheit hatte er manchmal Kurzzeitiges ergattert, zuletzt im vergangenen Jahr, als er bei einem Gebäude-Abriss Schrott aufklaubte, unter großer Verletzungsgefahr, die ihm, dem Eifrigen, erst hinterher klar geworden war. Am Ende hatte man ihn um seinen erbärmlichen Lohn betrügen wollen. Ja, für einen wie ihn war in diesem Landstrich sogar eine befristete, schlecht bezahlte, Teilzeitstelle, wie eine Wasserstelle in der Wüste…

    Seine Lage, seit Jahren angespannt, erschien ihm eben an diesem Morgen unerträglich und er sagte sich, es müsse heute etwas Umkrempelndes geschehen, sonst stünde er für nichts mehr ein.

    Er setzte sich zum dürftigen Frühstück, das aus einem Kanten Brot mit Marmelade und einem Glas Milch bestand. Während er lustlos kaute und schluckte, überlegte er, wie er es angehen könnte. Die hundert und erste Bewerbung schreiben? Zu den nutzlosen Bewerbungen war er verpflichtet. Versäumte er, die geforderte Anzahl je Monat zu schreiben, würde ihm die erbärmliche Stütze, das Hartzgeld, gekürzt, im Wiederholungsfall gestrichen. Heute allerdings mochte er sich diese Zumutung nicht antun. Eine anständige Arbeit, war, wenn überhaupt, nicht über die Bürokratie, sondern nur durch Beziehungen zu bekommen. Sein Pech, dass es ihm daran mangelte. Wäre er in ein Netzwerk eingebunden, wäre er nie in die jetzige Lage, die er nicht verschuldet hatte, gekommen. Beinahe mit Wehmut dachte er an die einstige kleine Republik zurück, wo viele begehrte Dinge nur durch Beziehungen zu erlangen waren, jedoch Arbeits-Angebote anstelligen Menschen sozusagen nachgeworfen wurden. Einst hatte er zwar kein Vermögen, doch sonst so manches besessen: eine erträgliche Arbeit, Frau, Kind, ein sicheres, wenn auch nicht üppiges, Einkommen, die Achtung der Mitmenschen. Geblieben war ihm nur die Selbstachtung und tapfer kämpfte er darum, dieses Letzte nicht zu verlieren. Ausgegrenzte neigten dazu, sich hängen zu lassen. Nicht so der Langzeit-Arbeitslose Wilfried Schaffer. Er hielt seine kleine Wohnung peinlich sauber, obwohl er keinen Besuch bekam. Den armseligen Haushalt hielt er in Schuss. Er betätigte sich täglich am Schreibtisch. Das alte Stück hatte er vor kurzem ergattert und aufwändig aufgemöbelt. Er, der Nicht-Fachmann, hatte es ganz gut hinbekommen und hatte nunmehr einen anständigen Arbeitsplatz für die geistige Tätigkeit. Er hatte sich angewöhnt, Texte aus dem Englischen zu übersetzen, das ihm geläufig war. Dieses Hirnfutter fand er auf ausgefransten Hüllen seiner alten Plattensammlung und in Zeitungen, die er ab und zu in die Hand bekam. Weil das allein ihn nicht befriedigte, versuchte er sich auch im Spanischen, da er an eine Broschüre in dieser Sprache gekommen war. Er bediente sich dazu eines Wörterbuchs, das er sich einst angeschafft hatte, wegen einer in Aussicht stehenden Reise nach Cuba. Die hatte sich damals zerschlagen, das Buch hatte viele Jahre hinten und unten gelegen, nun hatte er es ans Licht geholt. Er übersetzte einige Zeilen, spürte allerdings bald, dass ihn heute diese brotlose Kunst nicht befriedigen konnte. Was aber stattdessen? Nebenher stellte er bitter fest, dass es ihm nichts bringen würde, zehn Sprachen in Wort und Schrift zu beherrschen – ihm, dem Abgestempelten, bliebe der „erste Arbeitsmarkt" gleichwohl verschlossen. Trotz alledem – er musste tätig sein!

    Wie, wenn er sich als Schreiber versuchte? In jungen Jahren  ist ihm die Fähigkeit zum Erzählen bescheinigt worden. Gelegentlich, nach der Arbeit, hatte er einst in geselliger Runde, sprühend von Einfällen, für Kurzweil gesorgt. Er hatte nichts aufgeschrieben. Er hätte aufschreiben sollen. Überhaupt, fand er, sei es an der Zeit, diese seine Fähigkeit zu hegen und zu pflegen, obschon er nicht die Aussicht hatte, in Zeitungen und Zeitschriften etwas zu veröffentlichen. Denn auch dafür brauchte es Beziehungen, das war ihm klar. Immerhin, bei den Machern der Heimatzeitschrift, die vierteljährlich erschien, sollte er gelegentlich anklopfen…

    Nachdem er eine halbe Stunde fruchtlos am Schreibtisch verbracht hatte, fand er, es habe keinen Zweck. Ein andermal lief es vielleicht besser. Hoffentlich. Jetzt hieß die Losung: „Hinaus!" Er sollte Wohnung und Haus verlassen, bevor ihn die Wände erdrückten. Er schaute in seine Börse. Etwas Klimpergeld lag darin. Er konnte einkaufen, wenn auch nur das Allernötigste. Mochte sein, das erbärmliche Hartzgeld für den Mai lag bereits auf seinem Konto. Doch es war ihm eisernes Gesetz, nichts von dem, das für später bestimmt war, in der Gegenwart zu verbrauchen. Woraus folgte, entweder er kaufte etwas zum beißen oder zum trinken; beides zusammen ging nicht.

    Nach innerem Kampf gab er dem Beißbaren den Vorzug und bewies sich damit: „Ich bin kein Süchtling." Er zog seine abgetragene Jacke über, trat in die schief getretenen Schuhe, verließ sein Heim, in dem er sich, trotz seiner Mühen, es wohnlich zu gestalten, nicht heimisch fühlte. Sein Grundgefühl hatte er im Gepäck, den stillen Groll über seine missliche Lage. Jedoch war in ihm nun die durch nichts begründete Hoffnung aufgekeimt, dass sich heute, gerade heute, seine Lage erheblich ändern könnte.

    Leichtfüßig strebte Wilfried Schaffer hinweg von seinem Wohnblock, den man, in den Achtziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, aus Betonplatten gefertigt hatte und in dem alleinstehende, vereinzelte, einsame, Menschen wohnten. Er ließ die Bus-Haltestelle hinter sich, ging stadteinwärts, den Hohlweg, „Im Kruge benannt, hinab. Auf dem Hang rechts des Wegs befanden sich Kleingärten, links das Gelände eines Kindergartens, anschließend ein Parkplatz, eine Wiese mit Kirschbäumen, Blocks mit Balkonen darüber. Vielstimmiges Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Neidvoll dachte er: „Die haben gut singen, leben fröhlich in den Tag hinein. Dann aber sagte er sich; dass die Tierchen nicht aus reiner Freude trällerten. Sie standen in hartem Wettbewerb; nur die besten Sänger wurden zur Paarung zugelassen. Ja im Tierreich sich zu behaupten, war auch nicht leicht. Der nächste Winter kam bestimmt. So manches Vögelchen, das jetzt zwitscherte, würde die kalte Jahreszeit nicht überleben. Ob Wilfried Schaffer den Winter überleben würde, wusste er nicht, doch nicht nur deshalb war ihm nicht nach zwitschern zumute. Er traf die Feststellung, dass den Menschen die Möglichkeit offen stand, sich Vernunft anzueignen, doch viele Menschen nicht das Bedürfnis hatten, sich über das Tierreich zu erheben.

    Links gab es weitere Kleingärten, einige davon verwildert. Er erinnerte sich gut, dass seinerzeit, als es die kleine Republik noch gab, solche Gärten als Juwelen galten. In der Gegenwart, das wusste er, wurden sie angeboten wie Sauerbier und wie dieses meistens vergeblich.

    Er erreichte die Naumburger Straße. Es waren keine lieblichen Gedanken, die seinen Weg begleiteten. Was für ein abstoßendes Bild! Der von den einst schmucken Häuserzeilen übrig gebliebene, graue, von Ruß gedunkelte, lückenhafte Rest, schrie danach, gleichfalls abgerissen zu werden. Ihn stießen die von Abgasen gebeizten Ziegelmauern, mit ihrem löcherigen Kleid von zerbröselndem Putz ab, nicht weniger die hässlichen Fensterhöhlen. Wo noch Scheiben vorhanden waren, starrten sie von Schmutz. Kaum glaublich und doch wahr –  hinter einigen der Fenster hausten Menschen. Er sah schäbige Gardinen hängen und die schmuddelige Flagge eines Münchner Fußballclubs  – arme Leute als Fans des Klubs der ganz Reichen – das war abartig, fand Wilfried Schaffer. Hatten diese Zeitgenossen denn kein Schamgefühl?

    Abscheulich war ihm die stinkende Lawine des Kraftverkehrs, der die Wände erzittern ließ und die Lungen ätzte. Er traf die bittere Feststellung: „Eine Lebensader ist diese Fernstraße, freilich nicht für die Stadt Weißenfels." Bergan, bergab, rollten Unmengen von Gütern, die anderswo den Wohlstand mehren mochten - hier hatte man nur den Dreck, den Gestank. Was für ein Irrsinn – die Stadtbewohner wurden weniger und weniger, doch der Verkehr nahm unablässig zu.

    Immerhin gab es selbst hier Natur, die ihn erfreute. Hinter schadhafter Mauer ragten Linden und Kastanien, deren grünes Gezweig den Fußweg überdachte. Freilich trat Schaffer nicht unter dieses Blätterdach; sondern, als vorsichtiger Mensch, dem die Reinlichkeit viel bedeutete, wechselte er die Straßenseite. Denn im Geäst nisteten Krähen in großer Zahl. Die dunklen Vögel fraßen und verdauten insbesondere zu dieser Jahreszeit ausgiebig; der Fußweg war dick gekalkt. Hinter Mauer und Bäumen konnte er verfallene Backstein-Gebäude ausmachen. Er wusste: Einst hat es hier eine Brauerei gegeben, die, wie alte Leute berichteten, ein schmackhaftes Bier erzeugte, bis die Strategen der Planwirtschaft darauf verfielen, den Getränkequell umzuwidmen; statt brauen nun schustern. Die Schuhfertigung wurde allerdings keine Erfolgsgeschichte und war inzwischen eine so ferne Vergangenheit, dass die jungen Leute nichts davon wussten. Betrübt vermerkte er: „Ringsumher wird Null Komma nichts noch hergestellt, nur Krämerei gibt es in Hülle und Fülle." Dass man in der Nähe des Krähenparadieses die mürbe Begrenzungsmauer abgerissen und eine Tankstelle hingestellt hatte, behagte ihm nicht. Und ihm missfiel, dass die Kraftstoffe schon wieder teurer geworden waren. Die Preistreiberei der Ölkonzerne musste ihn zwar nicht jucken. Sein Wägelchen hatte er vor Jahren verkaufen müssen, weil er es nicht mehr unterhalten konnte.

    Hinter der nächsten Bresche befand sich nunmehr eine Kaufhalle, zur Erleichterung Wilfried Schaffers, wie überhaupt der armen Leute der Umgebung, die, gleich ihm nicht motorisiert, Mühe hatten, zu den riesigen Einkaufsflächen am Stadtrand zu gelangen. In dieser Halle wollte er die Kleinigkeit an Lebensmitteln kaufen, die er sich leisten konnte. Er querte die Straße und bekam etwas zu sehen, das er zur Genüge kannte, das ihn gleichwohl eben jetzt sehr ärgerte: Vor der Halle standen zweifelhafte Gestalten beisammen, die sich nicht um das Schild scherten, welches den Alkoholgenuss auf dem Gelände untersagte. Sie standen als eine geklumpte Masse, gossen Flaschenbier in sich, bliesen Zigarettenqualm in die Umgebung, schwatzten lautstark, so, als ob es sich um lauter Schwerhörige handelte.

    Er sollte, meinte er, diese da links links liegen lassen, den Einkauf erledigen, verschwinden. Doch er blieb zögernd stehen. Denn eben jetzt schmerzte ihn die Tatsache ganz besonders, dass der anrüchige Berufsstand der Blatt- und Sendungsmacher ihn und seinesgleichen mit diesen verkommenen Menschen in einen Topf warf. Nahezu einstimmig wurden er und seinesgleichen gleich denen da als Schmarotzer verlästert. Die gut geschmierte Volksverdummungs-Maschine trötete unablässig: „Ihr, die ihr hart arbeitet, sollt mit Fug und Recht das Geschmeiß verachten, das sich faul in der sozialen Hängematte wälzt und alle Fleißigen auslacht. Leicht könnte sich dieses schlaffe Pack am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen (Wer Arbeit ernsthaft sucht, wird sie finden). Doch lieber ergibt sich das Pack dem Trunke und anderen Lastern und lässt sich durchfüttern."

    Ja, man verdummte die Masse erfolgreich und besonders schlimm war, fand Wilfried Schaffer, dass so manche Schreibtischtäter in den Ämtern, ganz besonders die in der Arge, der für ihn zuständigen Unterdrückungs-Dienststelle, diese Sichtweise blindlings teilten. Das alles erfüllte ihn seit langem mit Groll, riss ihn, den Umgänglichen, jedoch nicht zu Zornes-Ausbruch hin.

    Doch just in dieser Minute, da er unschlüssig stand, ging durch den Langzeit-Arbeitslosen Wilfried Schaffer ein Ruck. Klar erkannte er: übel war seine Lebenslage, übel war die Lage derer da. Er sollte sie nicht verachten, sondern brüderlich sein. Er sollte nicht Duckmäuser, sondern Aufsteher sein. Es war doch, zum Teufel, an der Zeit, die Verhältnisse zu ändern. Die Volksverdummer verunglimpften die gesamte Unterschicht als eine formlose, gärende, zerstörungswillige Masse, die niedergehalten werden müsse, sollte das Abendland nicht untergehen… Schlussfolgerung zog er. Ja, zu zerstören galt es einiges. Allerdings nicht blindwütig, sondern gezielt. Dazu war nötig, fand er, dass sich die Unteren, die Enterbten, die Ausgestoßenen, zu einem mächtigen Marschblock formten. Die Verachtung der Verachteten untereinander, das war ihm nun glasklar, nutzte nur den herrschenden Herrschaften. Die war das Schmiermittel, welches die Höllenmaschine am Laufen hielt…

    So dachte plötzlich der von Wesen friedsame Wilfried Schaffer. Und er warf seine Abneigung seitwärts, wollte jetzt und hier zur Einigkeit den ersten Schritt tun, indem er den Graben, der ihn von denen da trennte, übersprang. Er schritt voran und ihm kam ihm ein kühner Gedanke, der nämlich, dass er mit der Tat, die er vorhatte eine Initialzündung auslösen könne, aus welcher bald eine mächtige Bewegung erwüchse, die durch ihre schiere Größe die herrschenden Herrschaften und deren willige Gehilfen niederwalzte…

    Er steuerte die verkommene Truppe an, summte dabei eine Melodie, die aus tiefsten Tiefen seines Gedächtnisses emportauchte, jenen einst in Frankreich entstandenen Kampfgesang: „Auf, auf, Verdammte dieser Erde..."

    Sein Vormarsch stockte. Diese Geruchswolke! Dieses Geschwafel! Dieses feindselige Glotzen! Der fröhliche Gruß, mit dem er hinzu treten wollte, kam nicht über seine Lippen. Denn er wurde prompt angebrüllt: „Glotz nicht so blöd, Brettermaul! Hol ne Bierrunde, zackig, sonst gibt’s auf die Fresse!"

    Die Ernüchterung hätte nicht größer sein können. Um den drohenden Zusammenstoß zu vermeiden, setzte er, der Verträgliche, sich eilig ab. Beleidigungen aus schmutzigen Mündern flogen ihm hinterher. Der Funke der revolutionären Begeisterung verglimmte. Er stand wieder auf dem Boden der Tatsachen. Mit diesen Tagedieben war keine Verständigung möglich. Bitter war ihm die Erkenntnis: Eine festgefügte Unterklasse, die vereint mit der ganzen arbeitenden Bevölkerung, die unguten Verhältnisse umstürzte, lag in nebliger Ferne… Seine erste Maßnahme an diesem Tag war, da gab es nichts zu beschönigen, bevor sie stattfand, gründlich gescheitert.

    Er ließ sich nicht beirren. Nichts und niemand sollte ihm den hoffnungsvollen Tag verderben. Er marschierte drauflos, stadteinwärts. Ein bestimmtes Ziel hatte er nicht vor Augen. Die großen Menschheitsfragen waren ihm jetzt und bis auf weiteres nicht wichtig. Das eigene Glück hatte Vorrang. Ob ihm dieses winken würde? Wenn nicht, durfte er doch wenigstens auf erfreulichere Begegnungen hoffen als die grad eben. Den Einkauf wollte er irgendwann irgendwo nebenbei erledigen. Träfe er Bekannte, mit denen sich gute Gespräche führen ließen, wäre das schon einmal ein kleines Glück. Denn die Einsamkeit drückte ihm augenblicklich schwer aufs Gemüt.

    Er beschritt die ebenso verkehrsreiche wie menschenarme Friedrichstraße, die vormals nach Rudolf Breitscheid, einem Opfer des Faschismus, geheißen hatte. Dann nahm er die Jüdenstraße unter die Füße. Deren voriger Name, Friedrich-Engels-Straße, ist den nach Neunzehnhundertneunundachtzig maßgebenden Leuten ebenfalls unleidlich gewesen. Diese Straße, eigentlich den Fußgängern vorbehalten, von Radfahrern unberechtigt und gefahrbringend genutzt, war von Geschäften gesäumt; neben einigen Bäcker-, Fleischer-, Gemüse- Blumenläden, war die Abteilung Ramsch stark vertreten. Außerdem gab es viel Leerstand. Der Kleinhandel erlebte ja eine Dauerkrise. Schaffer fand es beklemmend, dass er auf dieser Straße so viele Rentner und so wenige Jüngere erblickte. Die Floskel vom „sterbenden Land" kam ihm ein. Grüppchen von bejahrten Menschen standen schwatzend beisammen, saßen vor den Bäckerläden auf Klappstühlen an Klapptischen in der Sonne, bei Kaffee und Kuchen, Flachsinniges redend, so den Lebensabend genießend. Den Langzeit-Arbeitslosen beschlich ein kleiner hässlicher Neid. Weil er einschätzte, dass diese Alten den Geldmangel nicht kannten, jedenfalls nicht solch heftigen, mit dem er ständig zu kämpfen hatte. Er rief sich zur Ordnung. Er sollte diesen Leutchen ihren kleinen Wohlstand gönnen. Ihnen war schließlich nicht anzulasten, dass ein Großteil der Jüngeren zur Untätigkeit verdammt war, dass die Löhne derer, die ihre Haut zum Arbeitsmarkt tragen durften, sanken und sanken, sodass die Arbeitsfähigen, wenn sie beweglich genug waren, ihr Heil in weniger unwirtlichen Landstrichen oder gleich im Ausland suchten. Die Rentner waren nicht schuld, dass Ihresgleichen das Bild dieser Straße bestimmte. Was Schaffer an jüngeren Menschen erblickte, taugte als Futter für die Meinungsmach-Maschine. Alsda: verkommene Mannspersonen, schlampige Frauen mit verwahrlosten Kindern, gehüllt in Alkoholdunst und Tabakrauch. An zotenreißenden Schwaflern schritt er verdrossen vorüber. Schaffer war es unbegreiflich, wie man so leben konnte, vor allem, wieso diese Leute sich ein solches Lotterleben leisten konnten. Er trank auch gern einen Schluck, doch da ihm nicht einkam, zu stehlen, zu rauben, waren ihm in dieser Hinsicht Grenzen gesetzt. Die wichtigste Grenze war allerdings der gefestigte Charakter, den er sich zubilligte. Er versicherte sich, seine Rechtschaffenheit sei der Grund, dass er nicht süchtig werden könne. Was Wunder, dass er diese schmuddeligen Zeitgenossen, welche die Gesamtheit der Langzeit-Arbeitslosen in Verruf brachten, verwünschte. Er tat es still; laut zu werden, kam ihm nicht ein. Schaffer war einer, der ganz selten aus der Haut fuhr. Und übrigens kam ihm die kürzlich getroffene Feststellung wiederum ein, dass die Feindschaft der Unterklassigen untereinander nur den Herrschenden nützte. Es wäre doch Unfug, sich an diesen armseligen Nichtstuern festzubeißen. Der Schaden für die Gesellschaft, den sie stifteten, ging gegen Null. Der war verkraftbar. Es waren Schädlinge von anderem Kaliber, welche die Erde verwüsteten. Das sollte er sich stets vor Augen halten.

    Ärmlich gekleidet, doch blitzsauber war eine junge Frau, auf die nun sein Auge fiel. Er durfte annehmen, dass sie von den gegenwärtigen Verhältnissen noch härter als er betroffen war. „Ein besonders unschuldiges Opfer, meinte er. Diese Frau, die sich rührend um das kleine Kind kümmerte, das sie im Wagen schob , war sicherlich keine, die darauf erpicht war, in einer Hängematte abzuschlaffen. Doch wurden Mütter mit Kleinkindern in dieser Gesellschaft erbarmungslos vom „Arbeitsmarkt abgeschnitten. Er schätzte ein: „Tatkraft hat sie, beweglich ist sie, in Gegenden, wo bessere Umstände herrschen, würde sie eine anständige Arbeit finden. Doch was würde dann aus dem Kind?" Schaffer vermerkte, wie übel es doch um ein Land bestellt war, in der das Wichtigste, die Kinder, oft genug zu einem wirtschaftlichen Unglücksfall wurden. Er erwog, der Frau Mut zuzusprechen. Allein - was konnte ihr das bringen? Womöglich würde sie glauben, dass er sie verspotten wolle, beziehungsweise sich eine dümmliche Anbaggerei erlaube. Also ließ er es bleiben.

    Doch bedachte er auf seinem weiteren Weg, dass man grad im Hinblick auf solche Menschen einen Umbruch erzwingen müsste. Man müsste… und wie?

    Seine Erwägungen endeten jäh, da er bemerkte: „Gefahr im Anmarsch!" Eine Dame von der Arge, jener Behörde, die Befugnis hatte, ihm das Leben schwer zu machen, kam bedrohlich nahe. Flugs huschte er ums Eck. Wenigstens dieses kleine Glück widerfuhr ihm, dass er den Zusammenstoß mit der ihm widerwärtigen Person vermeiden konnte. Er seufzte erleichtert. Doch kam ihm unwillkürlich üble Erinnerung hoch, wie Säure aus überreiztem Magen:

    Vor Tagen hatte er die Arge aufgesucht, obschon man ihn nicht einbestellt hatte. Ein Kobold musste ihn dazu verleitet und ihm die alberne Frage eingetrichtert haben, ob nicht eine Stelle, wenigstens für einige Tage... Er hatte erwartet, dass er mit „seiner Betreuerin würde sprechen können, die zwar keine Wunder vollbringen konnte, doch mit der immerhin gut zu reden war. Leider hatte man ihn stattdessen zu jener Beamtin gelotst. Bereits beim ersten Augenschein hatte er sie so eingeordnet: „Die ist bedrohlich wie ein Schlachtschiff.

    Er hatte den Namen seiner Zuständigen genannt, war ins Stottern gekommen „… hat sie Urlaub …ist sie krank … Die Entgegnung lautete: „Das geht Sie nichts an. Dann hatte ihn das Schlachtschiff mit einer Breitseite beschossen: „Eure Sorte, die stellt immer bloß Forderungen. Eine Vollzeit-Arbeit, wenns geht fürstlich bezahlt. Sie sind ein Problemfall, Mensch! Sie sind nachrangig. Erst kommen die Arbeitslosengeldempfänger, dann lange, lange nichts und dann erst eure Sorte."

    Er, der von Natur Ruhige, hatte sich durch tiefes Durchatmen abkühlen müssen, hatte dann die Bemerkung gewagt, mit etwas Befristetem wäre er zunächst zufrieden, nur sollte der Lohn nicht sittenwidrig niedrig... Notfalls eine Arbeits-Beschaffungs… Da war er aber an der Falschen. „ABM? Sie sind wohl größenwahnsinnig! Belästigen Sie mich nicht länger! Er war zwar nicht brüllend an die Decke gesprungen, doch gefährlich fauchend hatte er entgegnet: „Für Sie bin ich Müll, was! Da hat die Abgebrühte frech gehöhnt: „Leute wie Sie würden, wenn Sie so was wie sie Ehre im Leib hätten, für ihr sozialverträgliches Ableben sorgen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber nein - sowas untersteht sich, uns hart arbeitenden Arbeitsvermittlern zur Last zu fallen. Ohne Zeugen darf ich das schon mal sagen. Er ist sprachlos gewesen. Die Hexe hatte nachgeschoben. „Demnächst werden wir Ihre persönlichen Verhältnisse durchleuchten. Ihre Erreichbarkeit werden wir auch überprüfen. Er hatte der Person dann, in für ihn unüblicher Lautstärke, geraten, sie solle, anstatt ihre Nase in Sachen zu stecken, die sie nichts angingen, endlich ihre Aufgabe erledigen, nämlich anständige Arbeit für Arbeitslose besorgen. Worauf sie gekräht hatte, wenn er nicht augenblicklich verschwände, werde sie ihn, den Gemeingefährlichen, einsperren lassen. Im Abgang war ihm, dem Friedsamen, der unfromme Gedanke gekommen: „Ich hätte ihr aufs Schandmaul hauen sollen." Einer solchen Gewalttat stand freilich neben seiner Friedfertigkeit auch die Vernunft entgegen. Es hätte keinen Zeugen gegeben, nur Aussage gegen Aussage. Es gab keinen Zweifel, wem man geglaubt hätte und wem nicht.

    Das große Glück begegnete ihm weiterhin nicht. Nicht einmal ein kleines, das in die Hosentasche passte. Er erreichte den Marktplatz, bemerkte dort einen alten, nicht aber guten, Bekannten. Die Bekanntschaft wollte er möglichst nicht aufwärmen. Leider war heute nicht Markttag; es gab keine Buden, zwischen denen er hätte abtauchen können. Es gab kein Entrinnen; der Unerfreuliche hatte ihn erspäht und steuerte ihn zielstrebig an. Schaffer fügte sich ins Unvermeidliche und tröstete sich damit, dass dieser Mensch, gemessen an dem „Schlachtschiff", das kleinere Übel war.

    Einst, bevor er, damals noch mit Familie, in die gemäß dem „sozialistischen Wohnungsbau-Programm hastig errichtete Südstadt gezogen war, sind sie Nachbarn gewesen. Seit je hat ihn der Drang dieses Menschen gestört, über alle alles wissen zu wollen. Und natürlich hatte er sich nicht verändert. Ohne Vorrede fragte er in der Art eines Untersuchungsrichters nach Schaffers Befinden, den Eltern, Frau, Kindern. Schaffer argwöhnte, der Fragesteller hoffe auf Lustgewinn durch Schadenfreude, indem er in offene Wunden stach. Er gab sich zugeknöpft: „Selber: will nicht klagen. Eltern: unter der Erde. Frau: im Guten getrennt. Kind: hängt an mir.

    „Hast du noch Arbeit?"

    Da war sie wieder, die geschmacklose Frage. Geradezu lügen wollte er nicht. Er entgegnete, die Aussichten seien gut, er habe vielversprechende Bewerbungen laufen, es könnte gut sein, dass er zwischen mehreren Angeboten eine Auswahl würde treffen müssen. Ein unausgegorener Gedankensplitter wurde wörtliche Rede. „Ich werde nebenher in der Redaktion der Heimat-Zeitschrift mitarbeiten. Ich kenne mich in der Heimatgeschichte aus, in der Schulzeit bin ich ein hervorragender Aufsatz-Schreiber gewesen. Gewichtig erklärte er: „Ich denke, ich werde dort mitbestimmen, wo’s langgeht.

    Da hatte er etwas angerichtet mit dieser ihm wesensfremden Großspurigkeit. Der Mensch lachte lauthals, fragte, wer ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt habe. Die Blattmacher – ehemalige Lehrer, Referenten und dergleichen, Ruheständler jedenfalls - seien ein geschlossener Kreis, in den sie keinen Fremden eindringen ließen. „Die machen es aus Spaß, ihr Zeug wird gedruckt und gut ist. Denen geht es nicht um Geld; sind alle gut versorgt."

    Schaffer schätzte ein: „so wird es wohl sein. Doch dumm dastehen wollte er nicht, darum flunkerte er: „Man hat schon bei mir angefragt. Klasse setzt sich durch. Der einstige Nachbar blickte ihn schräg an. Schaffer gab zur Kenntnis, gleich habe er Termin in dieser Angelegenheit, Den wolle er nicht versäumen. Er empfahl sich mit knappem Gruß.

    Da er es für wahrscheinlich hielt, dass der taktlose Zeitgenosse recht hatte, verwarf er den Einfall, an die Bürotür der Blattmacher zu klopfen. Eine Arbeit ganz ohne Lohn konnte und wollte er sich nicht leisten.

    Wilfried Schaffer würde leidlich zufrieden sein, wenn es wenigstens Gelegenheit für gute Gespräche gäbe. Immerhin – es gab eine Begegnung, die seine Stimmung nicht weiter eintrübte. Er traf einen Bekannten, der kein schlechter Kerl, doch ein Schwätzer war. Der ließ sich wortreich darüber aus, wie sehr ihn das Zusammentreffen beglücke, setzte an, sich über Leute und Dinge, die Schaffer gleichgültig waren, weitschweifig zu verbreiten. Schaffer war nicht in Eile, gleichwohl schmeckte ihm diese Art von Unterhaltung nicht. Er eiste sich wieder mit der Ausflucht los, dass er wegen einer wichtigen Besorgung in Eile sei. Leutselig war der Schwätzer, gab ihm ein Taschenfläschchen Kräuterlikör „Erichs Rache mit auf den Weg, erklärte dazu: „Der Kerl ist uns damals auf den Magen geschlagen. Nun, wo er tot ist, nützt er gegen Magendrücken, das von ganz anderen Sachen kommt, als damals.

    Der Beschenkte kämpfte gegen die Versuchung, sich den Magentrost auf der Stelle einzuverleiben. Dabei war das Bild auf dem Schildchen hilfreich - ein Zerrbild, doch unverkennbar der trunksüchtige, verbohrte, einstige Generalsekretär, der ihm seinerzeit unausstehlich gewesen ist.

    Es ging auf Mittag. Gab Schaffer den Tag verloren? Nein, noch lange nicht. In seine Wohnung, die er für unwohnlich hielt, wollte er so bald nicht zurückkehren. Er hielt es für besser, Stadtstreicher zu bleiben. Nicht zuletzt hatte er einzukaufen. Ihn beschäftigte stark das Fläschchen in seiner Tasche, gemeinhin Spaßmacher, Taschenwärmer und anderswie liebevoll, in früherer Zeit auch Sputnik geheißen. Wie es ihm die Tasche beschwerte! Er bekämpfte die Versuchung, sich den Magentrost einzufüllen, indem er sich mittels Geschichts-Betrachtung ablenkte. In der Klosterstraße, an der Rückwand des einstigen Gasthofs „Zu den dreyen Schwanen, hing eine gusseiserne Tafel, die darauf hinwies, dass sich in diesem Haus im Jahr Siebzehnhundertvierundneunzig die Herren Friedrich Schiller, Christian Gottfried Körner und Jakob Grimm getroffen hatten. Er stellte fest: „Weißenfels ist einst nicht ohne Bedeutung gewesen. Unweit, auf der anderen Straßenseite, gab es eine weitere Tafel mit dem Vermerk, dass der einst geschätzte, inzwischen vergessene, Dramatiker Adolph Müllner, dort gewohnt hatte. Der dichtende Anwalt, kein großes Genie, war in wirtschaftlicher Hinsicht freilich das genaue Gegenteil des Langzeit-Arbeitslosen Wilfried Schaffer. Ein mit Geld und Gut wohl versehener Rappelkopf; vielleicht war sein hitziges Wesen Ursache, dass er kein langes Leben hatte. Immerhin, er ist weit älter geworden, als sein ruhmreicher Kollege Hardenberg, der sich Novalis nannte, auch in dieser Straße wohnte und starb. Sich dem Novalishaus nähernd, erinnerte sich Schaffer, dass es in diesem Haus, außer der städtischen Leihbücherei und einigen Büros der Stadtverwaltung, eine kleine Gedenkstätte gab, wo der Literatur-Verein mit dem Namen des Dichters seinen Sitz hatte. Wie, wenn er dort anklopfte, sich als einen Geschichts- und Literatur-Begeisterten vorstellte, willens und in der Lage, für den Verein zu arbeiten? Er trat auf den Hof, dann durch die Hintertür des Vorderhauses, setzte den Fuß auf die Treppe, da nahmen die Zweifel überhand. Falls das Vereinsbüro überhaupt besetzt war – wie würde man ihn empfangen? Üblicherweise schaute man ihn an, wie man Leute anschaut, denen ihre Nachrangigkeit auf die Stirn geschrieben ist. Nein, grad jetzt hatte er kein Verlangen, sich der Verachtung der Bessergestellten preiszugeben.

    Glücks-Schimmer zur Mittagszeit

    Wilfried Schaffer kam darauf, das Grabmal des Namensgebers von Verein und Haus aufzusuchen, das sich in der Nähe, am Rand des Stadtparks, in einem mit Gitterwerk aus Schmiede-Eisen eingezäunten Bereich befand. Grad nebenan lag das Grab des verloschenen Sterns Müllner. Schaffer schätzte ein, dass der Novalis sich diese Nachbarschaft verbeten hätte, wäre ihm Einspruch möglich gewesen. Es gab im Hag, an einem Rest der einstigen Stadtmauer befestigt, eine riesige Steinplatte mit den Lebensdaten der Familie des Novalis, den Hardenbergs, einer adligen, wohlhabenden, gleichwohl unglücklichen, Sippe. Novalis und seinen Geschwistern war gemeinsam, dass sie jung starben. Der Dichter, mit seinen Siebenundzwanzig, ist vergleichsweise langlebig gewesen. Mit der ewigen Ruhe war es auch nichts. Man hatte den einstigen Totenacker im Stadtgraben im Lauf der Zeit um und umgestaltet, Gebeine umgebettet; ob das Skelett des Dichters unter seiner steinernen Büste lag oder woanders, war nicht gewiss.

    Der unermüdliche Fußgänger fühlte Schwäche, die ihn zum Niedersetzen zwang. Sein Magen ließ ein Knurren vernehmen. Er hatte nichts Essbares dabei, nur ein Getränk, das Fläschchen. Sollte er oder besser nicht? Er rang nicht lange mit sich, gab der Versuchung nach. Wozu das Zeug noch länger spazieren tragen. Hinein!

    Das Knurren hörte auf. Ein wohliges Gefühl durchrann ihn. Leider hielt es nicht vor. Müde fühlte er sich und mutlos. Wieder wurde ihm scharf bewusst, dass er in einer Sackgasse war, in die eine feindselige Gesellschaft ihn abgeschoben hatte. Im Augenblick fühlte er sich so schwach, dass er meinte, sich von der Parkbank nie wieder erheben zu können.

    Plötzlich blitzte ein sonnenheller Funke auf. Unten, auf der Nikolaistraße, schritt, sehr weiblich, eine Kellnerin namens Birgit Frey, seine heimliche Flamme. Ihr Anblick verjagte seine Schwäche. Sollte er ihr nachgehen? Er unterließ das. Nicht Schüchternheit hemmte ihn, sondern Taktgefühl. Ihm, in seiner Lage, so meinte er, stand nicht an, von Liebe zu träumen. Gesetzt den Fall, Birgit erhörte ihn, würde sich mit ihm verbandeln – was könnte anderes daraus entstehen, als dass er sie mit sich ins Verderben zog? Sie war gewiss eine achtbare Frau, die ein unglückliches Leben mit einem Langzeit-Arbeitslosen namens Wilfried Schaffer nicht verdiente. Ja, wenn er besser dastünde, dann… Leider war die Wahrscheinlichkeit dieser Besserung so gering wie die, dass der Kriegsverbrecher Bush guten Endes vor ein Gericht gestellt würde. Er grollte. Unhaltbar war doch dieser Zustand, der ihm Enthaltsamkeit aufzwang. Keine Liebe möglich, aber auch nicht der Notbehelf, Verkehr gegen Geld. Leistete er sich diesen, müsste er tagelang hungern. Wie aber war der Zustand zu ändern?

    Da war nichts als ein großes Fragezeichen.

    Ein alter, hinfällig ausschauender, Mann, dem der linke Arm fehlte, nahm neben ihm Platz. Warum? Leere Bänke gab es genug. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor; er kramte in seinem Gedächtnis, doch dieser Alte steckte in keiner Schublade. Der Einarmige überfiel ihn mit einer Frage: „Sind Sie für den Frieden? Was sollte das? „Selbstverständlich antwortete Schaffer mürrisch. Der Einarmige belehrte ihn: „Der Frieden ist das Wichtigste. Das wollte Schaffer durchaus nicht bestreiten. Doch das Nachfolgende fand er zweifelhaft. „Der Frieden muss um jeden Preis erkämpft werden.

    Das einst gängige Gerede vom Friedenskampf hatte ihn immer gestört. Kampf und Frieden, wie passte denn das zusammen? Dazu um jeden Preis! Der friedfertige Schaffer hatte Lust auf Widerspruch. Pazifismus in Reinkultur bedeutete doch, im Fall des Falls ließ man sich widerstandslos abschlachten. Gleichwohl schwieg er, aus Ehrfurcht vor dem Alter. Der Einarmige hingegen gab sich redselig wie zu einem guten alten Bekannten. Man hatte ihn im Zweiten Weltkrieg, kurz vor dem Zusammenbruch, zur Wehrmacht eingezogen. Er hatte Glück, geriet unversehrt in Gefangenschaft. Die ist ihm unerträglich gewesen. Darum war er in die französische Fremdenlegion eingetreten. Die Legion als Ersatzmutter. Er hatte wieder Krieg spielen müssen. Auf einem Flugzeugträger wurde er über die Weltmeere geschippert. Die Wechsel zwischen den Klima- und Zeitzonen hatten ihn zermürbt. Auf der Insel Madagaskar wurde die Truppe angelandet, mit dem Auftrag, den Aufruhr in dieser Kolonie zu bekämpfen. Dort hatte er seinen linken Arm eingebüßt.

    In Wilfried Schaffers Kopf klickte es. Ja, klar, vor vielen Jahren hatte er die Geschichte schon einmal gehört. Man hatte beim Bier zusammengesessen. Er hatte eine Arbeit und einigermaßen guten Verdienst gehabt, das Bier ist billig gewesen, wenn auch nicht schmackhaft. Die Erzählung dieses bemerkenswerten, nicht beneidenswerten, Schicksals hatte ihn beeindruckt. Und er hatte damals den nicht Beneidenswerten beneidet, weil der vom französischen Staat eine monatliche Rente erhielt. Die war nicht hoch, doch wurde in Franc gezahlt. Wie gern hätte auch der junge Werktätige „frei konvertierbare Währung" in Händen gehabt. Ein blödsinniger Neid ist das gewesen. Blut und Körperteil gegen Geld, in welcher Währung auch immer – was für ein schlechtes Geschäft!

    Der Alte sprach, seinen Kernsatz bekräftigend: „Ihr Jungen solltet das Glück schätzen, euer Lebtag in Frieden zu verbringen. Der Friede muss erhalten bleiben, koste es, was es wolle. Schaffer hielt nun doch Widerspruch für nötig. Er merkte an: „Von Frieden kann man eigentlich nicht reden. Denken Sie an Afghanistan, zum Beispiel. Auch unsere Landsleute sind dort zugange, freiwillig zwar, für auskömmliche Bezahlung … Der Einarmige fiel ihm erzürnt ins Wort: „Die sich dafür hergeben, sind Verbrecher. Diejenigen, die die jungen Männer dorthin schicken, sind Erzverbrecher. Schaffer nickte, obwohl er den ersten Teil der Aussage übertrieben fand. Er hatte Weiteres zu sagen: „Mit dem Frieden im Land ist es nicht weit her. Die Schikanen der Behörden gegen die Arbeitslosen – recht bedacht ist es ein Krieg der Reichen gegen die Armen. Unter solchen Bedingungen kann man doch nicht Pazifist sein. Dagegen muss man doch kämpfen. Nicht Amboss, sondern Hammer sein. Schaffer, der Friedfertige, wunderte sich nicht wenig über sich selbst, dass er sich so kämpferisch gab, dass ihm ein abgedroschener Spruch aus der Zeit des real existierenden Sozialismus über die Lippen kam. Er setzte sogar eins drauf: „Wir haben nichts zu verlieren, als unsere Ketten. Wir fürchten den Tod, aber noch mehr fürchten wir unser elendes Leben." Das kam nicht aus seinem Inneren. Das hatte er irgendwo aufgeschnappt. Überhaupt war es, das wusste er selber, nur leeres Gerede, aus Widerspenstigkeit gegen diesen Oberlehrer, der meinte, die Wahrheit gepachtet zu haben.

    Der Alte schüttelte seinen fast kahlen Kopf. „Ihr jungen Leute habt kein Recht, euch zu beklagen. Ihr habt es doch gut getroffen, auch wenn ihr nicht in Saus und Braus lebt. Wir Alten haben das Kriegs-Elend bis zur Neige ausgekostet." Wilfried Schaffer verkniff sich weiteren Widerspruch. Zu seiner Erleichterung kam ein Mensch heran, ungefähr seines Alters, an dem die große Hornbrille sowie das in Wirbeln stehende Kopfhaar auffiel. Der führte den Alten hinweg.

    Gedanklich noch mit dem Vorkommnis beschäftigt, bekam Schaffer neue Gesellschaft. Einen Mann, den er auf Mitte Fünfzig schätzte. Ihm schien Misstrauen angebracht, denn dieser Mensch sah nach „Besserverdiener aus und roch auch so. Wahrscheinlich war er vom Westen. Der Mann sprach ihn an, wollte wissen, ob er in dieser Stadt wohne. Die Frage beantwortete er einsilbig. Der Besserverdiener nickte erfreut. Er kam sogleich mit einem Anliegen, das immerhin verriet, dass er sich für keinen Besserwisser hielt: „Ich tät gern dies und jenes über meine frühere Heimatstadt und das Drum und Dran erfahren. Bin fremd geworden mittlerweile. Meine Familie ist, kurz vor dem Mauerbau, nach Westen geflüchtet. Schaffer erwiderte: „Da waren Sie in zahlreicher Gesellschaft. Der Westler nickte. Er schlug vor: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie mich herumführen, bissel was zeigen, erklären. Sie schauen mir aus, als ob Sie Bescheid wüssten.

    Das konnte Lob sein oder Spott. Dass Schaffer schwieg, deutete der Westler offenbar als Geldfrage. Er kündigte an: „Es soll Ihr Schaden nicht sein. Schaffer, der kein Blender war, gab zu bedenken: „Ein geprüfter Fremdenführer bin ich nicht.

    Der Fremde winkte ab. „Wichtig ist nicht das Diplom, sondern der gesunde Menschenverstand. Also, wie ist es. Zeit werden Sie wohl über haben. Zeit über, so, so. Das war wohl Spott und hieß: „Wär ich nicht gekommen, tätst du dich den ganzen Tag in der sozialen Hängematte suhlen. Ein so verziertes Angebot misshagte ihm. Rundweg abschlagen wollte er es gleichwohl nicht. Argwöhnisch erkundigte er sich: „Wie viel Zeit haben Sie mitgebracht und an welches Geld dachten Sie? – „Würd sagen, eine halbe Stunde, zwanzig Euro – Leider bin ich etwas unter Zeitdruck.

    Das war Musik für den gebeutelten Arbeitslosen. Mit einem Nicken besiegelte er den Vertrag. Der Fremde sagte munter: „Na dann, frisch fromm fröhlich frei. Lage, Aussichten, Geschichtliches und so."

    Schaffer hielt einen kleinen Seitenhieb für nötig. Er streckte die Hand aus und sagte: „Einen Fünfer als Vorschuss bitte. Man hat seine Erfahrungen."

    Der Westler schien Misstrauen gewohnt zu sein. Er lachte: „Sie sind ein Schlitzohr und reichte den kleinen Schein. Der Langzeit-Arbeitslose Wilfried Schaffer stellte froh fest, dass nun also ein kleines Glück über ihn gekommen war. Er konnte mit jemand reden. Und er war ein Wichtiger geworden, wenigstens für kurze Zeit. Er setzte eine Zielvorgabe: „Machen wir also einen Rundgang entlang der einstigen Stadtmauer. Los ging‘s, zunächst durch den leicht ansteigenden Park, der einst Stadtgraben war, mit den Resten der Stadtmauer zur Linken, entlang dieser bog man links ab. Der Führer verwies auf die beiden Türme, die von der einstigen Befestigung übrig waren, ließ wissen, dass deren einer „Pulverturm hieß. Dann lotste er seinen Mann ein Stück die Zeitzer Straße aufwärts, sagte dies und jenes zum links aufragenden Schloss, auf welche Weisen man es in der Vergangenheit genutzt hatte, über den gegenwärtigen  Zustand und die Pläne, es aufzuhübschen. Anschließend schritt er ums Eck, die steile Schlossgasse abwärts, das Schloss zur Linken. Der einstige Verlauf der Stadtmauer war hier gut sichtbar. Obwohl der Führer, innerlich grinsend, immerzu zügig ausschritt, hielt der Geführte Schritt, mühelos, wie es schien, jedenfalls maulte er nicht. Schaffer fühlte sich frisch, trotz seines leeren Magens. Das Gefühl, eine Aufgabe zu haben, stärkte ihn. Er breitete unentwegt Tatsachen aus, gab Erklärungen, teilte auch Strittiges mit, Ungeklärtes, das er als ernsthafter Geleitsmann auch als unklar benannte. Das Zweifelhafte gab er nicht für unbestreitbar aus. Er, der in der heimatlichen Geschichte Belesene, haspelte vieles ab, auf die Gefahr hin, dass dem Geführten der Kopf brummte, beispielsweise: „Stadtgründung beglaubigt Elfhundertfünfundachtzig, es muss das Nest gleichwohl lange vorher gegeben haben. In früherer Zeit von einiger Bedeutung, da an der wichtigen Handelsstraße Via Regia gelegen. Die gute Verkehrs-Anbindung war in Kriegszeiten ein Unglück, so beim großen Hussitenzug Vierzehnhundertdreißig, dem die Vorstädte zum Opfer fielen; laut einem Nazi-Artikel im Heimatblatt sollen die Juden den Böhmern die Tore geöffnet haben. Dürfte Hetze gewesen sein. Und: „Im Zweiten Weltkrieg war hier für ein paar Stunden Kriegsgebiet, April Fünfundvierzig, als der Faschisten-Spuk schon so gut wie vorbei war. Letzte Zuckungen des Lindwurms, sozusagen. Weiterhin: „Die Stadt war in Kriegen immer mal wieder Brennpunkt, es gab Schlachten im Umkreis, auch entscheidende, alsda: Hohenmölsen Tausendachtzig, Lützen Sechzehn Zwounddreißig, Rossbach Siebzehn Siebenundfünfzig, Jena, Auerstädt Achtzehn Null Sechs, Großgörschen sowie Leipzig Achtzehn Dreizehn. Auch bemerkte er: „Die Weißenfelser hätten auf die geballte Kriegsgeschichte im näheren Umkreis bestimmt gern verzichtet. Der Geführte, staunend, lobte: „Sie sind ja ein historisch Beschlagener.

    Die sogenannte Promenade schritt man entlang, wo sich die Bus-Haltestellen aneinander reihten. Schaffer wusste zu berichten, dass es vor der großen Krise Ende der Zwanzigerjahre des Zwanzigsten Jahrhunderts in der Stadt an hundertdreißig Schuhfabriken gegeben hatte, dass nachher, im sogenannten Realsozialismus, ein riesiges Kombinat mit Tausenden Beschäftigten die städtische Schuhfertigung vereinte, dass aber seit etlichen Jahren hier gar keine Schuhe mehr gefertigt wurden, wie denn überhaupt die Industrie der Stadt fast abgestorben war. Der Geführte, dem letztere Feststellung sichtlich unangenehm war (fühlte er sich mitschuldig?) äußerte: „Der Realsozialismus musste auf dem Schutthaufen der Geschichte landen, zwangsläufig. Gleichwohl hätte man manches vernünftiger regeln können."

    Diese Äußerung hätte Schaffer unterschreiben können, doch aus diesem Mund gefiel sie ihm nicht. Er ließ sich aber nicht darüber aus, sondern schilderte

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