Abschied aus der pädagogischen Provinz: Die phantastische Kinderliteratur der DDR im Wandel der Zeit
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Buchvorschau
Abschied aus der pädagogischen Provinz - Vera Annette Klein
Literatur – Medium – Praxis. Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Georg Witte
Band III
Vera Annette Klein
Abschied aus der pädagogischen Provinz
Die phantastische Kinderliteratur der DDR
im Wandel der Zeit
Die Untersuchung wurde im Sommersemester 2011 als Abschlussarbeit im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht.
Impressum
Copyright: © 2015 Vera Annette Klein
Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-2703-3
Satz: Peter Dietze
Weitere Informationen: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/agwlit
Vera Annette Klein studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Aktuell arbeitet sie an einer Promotion, die sich mit ost- und westdeutscher Literaturkritik zu DDR-Belletristik befasst.
Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis" – Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft
Die vorliegende Arbeit wurde als Abschlussarbeit im weiterbildenden Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin eingereicht.
Der im Wintersemester 2003/04 eröffnete Studiengang bereitet auf berufliche Tätigkeiten im Bereich der Literaturvermittlung und -förderung vor und macht mit der Funktionsweise des Literaturbetriebs vertraut. Durch die Vermittlung branchenspezifischen Wissens und praktischer Fähigkeiten sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, ihre literaturwissenschaftlichen Fachkenntnisse in der außeruniversitären beruflichen Praxis anzuwenden. Die Lehrveranstaltungen des Studiengangs verbinden praktische Arbeit mit der theoretischen Reflexion auf die Bedingungen und Funktionen dieser Praxis. Darüber hinaus ist die Hinführung auf die Berufspraxis im Literaturbetrieb kombiniert mit der Vermittlung von vertieftem Fachwissen und Urteilsvermögen über (vor allem zeitgenössische) Literatur und ihre medialen Umsetzungen. Der Studiengang verfügt über ein enges Netzwerk an Kooperationen mit den Medien und Institutionen des literarischen Lebens, aus denen sich auch ein Großteil des Lehrpersonals rekrutiert. Dadurch ist neben dem Praxisbezug auch die stetige Aktualisierung der Lehrinhalte gewährleistet.
Die inzwischen weit über 100 Masterarbeiten des Studiengangs untersuchen unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Literaturvermittlung in Verlagen, Medien, Agenturen, Literaturhäusern, Festivals und anderen Institutionen. Sie analysieren Werke der Gegenwartsliteratur, die mediale (Selbst-)Inszenierung von Autorinnen und Autoren in einem zunehmend kommerzialisierten Literaturbetrieb, den Einfluss der digitalen Revolution auf alle Akteure des Betriebs – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verfasser der Masterarbeiten leisten dabei oftmals Pionierarbeit, da es zu den Themen der Angewandten Literaturwissenschaft häufig kaum oder keine Forschungsliteratur gibt.
Um diese Pionierleistungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Reihe initiiert. Sie veröffentlicht vom Wintersemester 2014/15 an in regelmäßigen Abständen eine Auswahl aus den besten Masterarbeiten des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft.
Wir danken allen, die an der Vorbereitung der Publikationen mitgearbeitet haben, und dem Verlag Epubli für seine Kooperationsbereitschaft.
Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm
(Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
der Freien Universität Berlin)
Prof. Dr. Georg Witte
(Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin)
Kurzzusammenfassung
Nach dem Willen der Sozialistischen Einheitspartei sollte Kinderliteratur Propaganda sein, eine erzieherische „Waffe", die aus kindlichen Lesern begeisterte junge Sozialisten formte. Um sicherzustellen, dass die Kinderbuchautoren der DDR Texte mit der gewünschten Wirkung produzierten, errichteten die politischen Machthaber ein System umfassender Planung, Ordnung und Kontrolle. Im ersten Abschritt meiner Arbeit wird dieses System eingehend dargestellt.
Anschließend wendet sich die Analyse den Inhalten der kinderliterarischen Texte zu, die unter den geschilderten Bedingungen entstanden. Der Fokus liegt dabei auf dem Genre der Phantastik, das in besonderem Maße Aufschlüsse über die Beschaffenheit der DDR-Kinderliteratur ermöglicht: Welche Haltung die Kinderbuchtexte gegenüber phantastischen Erscheinungen einnahmen, die aus einer prototypisch „anderen", alternativen Wirklichkeit stammen, war naturgemäß vielsagend in einem Staat, der für sich in Anspruch nahm, bereits die bestmögliche Gesellschafts- und Lebensform gefunden zu haben.
Wie dargelegt wird, sind in der phantastischen DDR-Kinderliteratur zwei Phasen zu unterscheiden: In den fünfziger und sechziger Jahren wurde die Phantastik in erster Linie als ein Instrument der Warnpädagogik eingesetzt, als Mittel, Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen, die im Sozialismus als verwerflich und falsch galten, auf abschreckende Weise zu inszenieren. Ab den siebziger Jahren hingegen, in denen die anfängliche Begeisterung vieler Literaturschaffender für den sozialistischen Staat einer zunehmenden Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Entwicklung wich, ist eine zweite Phase festzustellen: Das von den Autoren vertretene Kindheitsbild veränderte sich ebenso wie die verwendeten Gestaltungsmittel, die den Werken eingeschriebene Haltung zum vorherrschenden Gesellschaftssystem und die mit ihnen verbundene Wirkungsabsicht. Anstatt das Leben im sozialistischen Kollektiv zu verherrlichen, fragten die Texte, welche Entfaltungsmöglichkeiten die Gesellschaft dem Einzelnen biete; das Andersartige wurde nun als etwas Positives und Beschützenswertes gezeigt. Dieser tiefgreifende Wandel wird durch ausführliche Beispielanalysen insbesondere von Wera Küchenmeisters Die Stadt aus Spaß (1966) und Christa Kožiks Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) anschaulich gemacht.
Zu Beginn der zwei Kapitel zu den beiden geschilderten Phasen wird zusätzlich die sich jeweils zeitgleich vollziehende Entwicklung in der Kinderliteratur der Bundesrepublik zusammengefasst.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Gattungsdefinition „Phantastik": Gansels Grundmodelle phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
3 Entstehungsbedingungen und Inhalte der DDR-Kinderliteratur in den 50er und 60er Jahren
3.1 Ein raffiniertes System staatlicher Planung, Ordnung und Kontrolle
3.1.1 Aufbau staatlicher Monopolverlage, systematische Benachteiligung privater Kinder- und Jugendliteratur-Verlage
3.1.2 „Nutzlos, menschenfeindlich, ungesetzlich, strafbar": das Zensursystem der DDR
3.1.3 Überwachung und Beeinflussung der Literaturschaffenden
3.1.4 „Ich konnte immer alles schreiben, was ich wollte!" Erinnerung und Realität
3.2 Die DDR-Kinderliteratur der 50er und 60er Jahre – ein Überblick
3.2.1 Zur Vorbildfunktion der sowjetischen Kinder- und Jugendliteratur
3.2.2 „Sonnenschein und Rotzlöffel": zwei allbeherrschende Handlungsmuster
3.2.3 Der schwere Stand der kinderliterarischen Phantastik und das phantastisch-pädagogische Modell
3.3 Die DDR-Kinderliteratur der 50er und 60er Jahre – Beispielanalyse: Wera Küchenmeisters Die Stadt aus Spaß (1966)
3.3.1 Rahmenhandlung I: dem Mars so nahe, und doch ist Jette unzufrieden
3.3.2 Binnenhandlung: vom Nirgend-Nichts bis in die DDR – um jeden Preis
3.3.3 Rahmenhandlung II: eine Begeisterung, die sich nicht überträgt
4 Entstehungsbedingungen und Inhalte der DDR-Kinderliteratur in den 70er und 80er Jahren
4.1 Die DDR-Kinderliteratur der 70er und 80er Jahre – ein Überblick
4.1.1 Ein verändertes Kindheits- und Gesellschaftsbild und die Aktivierung des Lesers
4.1.2 „Denn möglich ist ja mehr, als wir oft denken": die gewandelte Funktion der kinderliterarischen Phantastik
4.2 Die DDR-Kinderliteratur der 70er und 80er Jahre – Beispielanalyse: Christa Kožiks Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983)
4.2.1 Ein Engel im sozialistischen Plattenbau
4.2.2 Der Fünf-Punkte-Plan des Schuldirektors König
4.2.3 Ist-Zustand und Soll-Zustand: das Sinnbild vom Engelssturz und zwei Vorbildfiguren
4.2.4 Der Abdruck eines Engels im Schnee
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Endnoten
1 Einleitung
„Literatur ist Parteiergreifen, ist Propaganda!"
¹
Als die Kinderbuchautorin Alex Wedding ihren Berufskollegen auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress der Deutschen Demokratischen Republik 1956 diese Worte entgegenrief, sprach sie den politischen Machthabern direkt aus der Seele: Völlige Parteilichkeit und offensive Werbung für die sozialistische Sache waren genau das, was die Oberen der DDR von den Verfassern der Kinderliteratur erwarteten. „Bei der Erziehung unserer Kinder zu jungen Sozialisten ist die Kunst eine Waffe, und wir wären dumm, wenn wir diese Waffe im Bücherschrank verrotten ließen", erläuterte Gerhart Holtz-Baumert, Chefredakteur der einflussreichen Fachzeitschrift Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur und von Anfang an ein wesentlicher Mitgestalter der DDR-Kinderliteratur.² Für so wichtig erachtete die Staatsführung die Kinderliteratur, dass sie von vornherein nichts dem Zufall oder auch nur den Schriftstellern allein überließ: Bereits in den Anfangsjahren der DDR wurde ein raffiniertes System staatlicher Planung, Ordnung und Kontrolle geschaffen, das sicherstellen sollte, dass die Kinderbuchautoren der DDR stets „scharfe und für den Kampf gegen den westlichen Gegner geeignete „Waffen
produzierten. Die Darstellung und die Analyse dieses Systems und seiner Auswirkungen auf die Tätigkeit der Literaturschaffenden bilden einen der Schwerpunkte meiner nachfolgenden Arbeit.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Inhalten der Kinderliteratur, die unter den von mir beschriebenen Bedingungen entstand, und auf der mit ihnen verbundenen Frage, ob sich die DDR-Kinderbuchautoren wirklich zu „Waffenschmieden der sozialistischen Sache machen ließen. Wie ich zeigen werde, ist die Antwort auf diese Frage zweigeteilt: In den fünfziger und sechziger Jahren, der sogenannten „optimistischen Periode
³ der DDR, befanden sich die Kinderbuchautoren tatsächlich weitgehend in Übereinstimmung mit den Zielen der Staatsführung und entwarfen in ihren Werken strahlende Idealbilder des Lebens im sozialistischen Kollektiv. Ab den siebziger Jahren aber, als immer unübersehbarer „nicht zu vermittelnde Widersprüche zwischen dem offiziell verkündeten Selbstverständnis bzw. dem idealen Selbstanspruch und den realen Lebensverhältnissen"⁴ auftraten, kam es in der Kinderliteratur der DDR zu einem tiefgreifenden Wandel: Das von den Autoren vertretene Kindheitsbild veränderte sich ebenso wie die von ihnen verwendeten Gestaltungsmittel, die den Texten eingeschriebene Haltung gegenüber dem herrschenden Gesellschaftssystem und die mit ihnen verbundene Wirkungsabsicht; kritische und sogar subversive Darstellungsmomente mehrten sich.
In meiner Untersuchung weise ich diesen Wandel, der laut der Kinderliteraturforscherin Karin Richter einem Paradigmenwechsel gleichkam,⁵ insbesondere anhand von Texten aus dem Genre der phantastischen Kinderliteratur nach. Für diese Konzentration spricht vor allem die Tatsache, dass in phantastischen Texten stets zwei Handlungskreise präsent sind – eine sogenannte „real-fiktive Primärwelt, in der der Leser seine eigene oder eine vergangene Lebenswirklichkeit wiedererkennt, und eine „phantastische
Sekundärwelt, in der sämtliche dem Leser bekannte Realitätsprinzipien außer Kraft gesetzt sind, wodurch das Unmögliche plötzlich möglich wird. Welche Haltung die Kinderbuchtexte gegenüber den Erscheinungen der Sekundärwelt, gegenüber dieser prototypisch „anderen", alternativen Wirklichkeit einnahmen, war in der DDR – einem Staat, der für sich in Anspruch nahm, bereits die bestmögliche Gesellschafts- und Lebensform gefunden zu haben – naturgemäß vielsagend.
Meine Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Unter Punkt 2 stelle ich die Definition von Phantastik vor, an der ich mich im Nachstehenden orientiere. Punkt 3 ist den Entstehungsbedingungen und Inhalten der DDR-Kinderliteratur der fünfziger und sechziger Jahre gewidmet; dabei analysiere ich unter Abschnitt 3.1 die Kontrollmechanismen, denen die Kinderliteraturschaffenden von staatlicher Seite unterworfen waren. Unter Punkt 3.2 arbeite ich die wichtigsten Charakteristika der DDR-Kinderbücher dieser Jahre heraus und beschreibe den schweren Stand der kinderliterarischen Phantastik innerhalb einer Zeit, in der alle Darstellungsformen, die gegen das Gebot des Sozialistischen Realismus verstießen, auf rigide kulturpolitische Behinderungen trafen. Unter Punkt 3.3 schließlich wende ich mich einer Analyse von Wera Küchenmeisters Erzählung Die Stadt aus Spaß (1966) zu. Dieses Werk ist nicht nur einer der ersten längeren Texte phantastischer DDR-Kinderliteratur, sondern auch das erste Beispiel dafür, dass kinderliterarische Phantastik von einem hochrangigen DDR-Kulturpolitiker öffentlich gelobt wurde. Letzteres ist kaum verwunderlich angesichts der Entschlossenheit, mit der Küchenmeister Position gegen Ideen bezieht, die von den sozialistischen Normen abweichen: Die Autorin entwirft eine phantastische Sekundärwelt, nur um sie Schritt für Schritt in eine exakte Kopie der real-fiktiven Primärwelt DDR zu verwandeln – wobei dieser Vorgang als eine Unumgänglichkeit erscheinen soll, als Beleg für die Notwendigkeit des DDR-Systems; tatsächlich gelingt die Umwandlung jedoch nur, wie ich zeigen werde, auf Kosten gravierender Logikbrüche.
Der vierte Punkt meiner Arbeit ist den Entstehungsbedingungen sowie dem inhaltlichen und formalen Wandel innerhalb der DDR-Kinderliteratur der siebziger und achtziger Jahre gewidmet. Dabei fasse ich zunächst unter Abschnitt 4.1 zusammen, welche gesellschaftlichen und kulturpolitischen Ursachen diesen Wandel bedingten, welche gravierenden Umgestaltungen die allgemeine Kinderliteratur in diesen Jahren erfuhr sowie welcher Status und welche Funktion nunmehr phantastischen Darstellungselementen zukamen. Unter Punkt 4.2 schließlich verdeutliche ich die zuvor beschriebenen Veränderungen anhand einer Analyse von Christa Kožiks Kinderroman Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983). Im Vergleich mit Die Stadt aus Spaß markiert dieser Text das andere Extrem des Spektrums phantastischer DDR-Kinderliteratur: Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart ist zweifelsohne das am unverhohlensten gesellschaftskritische Werk, das diese Gattung innerhalb der DDR hervorgebracht hat. Inhalt von Kožiks Text ist der Versuch, eine phantastische Figur im Sinne der sozialistischen Normen umzuerziehen, aus einem Engel einen durchschnittlichen DDR-Bürger zu machen – ein Vorgang also, der durchaus Ähnlichkeit mit dem Geschehen in Die Stadt aus Spaß hat. Im Gegensatz zu Küchenmeister bewertet Kožik den von ihr geschilderten Anpassungsversuch allerdings nicht positiv, sondern negativ, nicht als einen Beweis für die vermeintlichen Vorzüge des sozialistischen Gesellschaftssystems, sondern als ein warnendes Beispiel für dessen Fehler.
2 Gattungsdefinition „Phantastik": Gansels Grundmodelle phantastischer Kinder- und Jugendliteratur
Meine Arbeit orientiert sich