Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein: Die literarische Rezeption eines Autobiografie-Skandals
Von Verena Huth
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Buchvorschau
Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein - Verena Huth
Verena Huth
Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein
Die literarische Rezeption eines Autobiografie-Skandals
Literatur – Medium – Praxis.
Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Georg Witte
Band V
Verena Huth
Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein
Die literarische Rezeption eines Autobiografie-Skandals
Die Untersuchung wurde im Sommersemester 2012 als Abschlussarbeit im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht.
Impressum
Copyright: © 2016 Verena Huth
Verlag: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-2707-1
Satz: Peter Dietze
Weitere Informationen: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/agwlit
Verena Huth, geboren 1986 in Hamburg, studierte Germanistik, Geschichte und Angewandte Literaturwissenschaft in Berlin und Edinburgh. Nach beruflichen Stationen in mehreren Verlagen ist sie heute in der Pressearbeit tätig. Sie lebt in Berlin.
Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis"
– Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft
Die vorliegende Arbeit wurde als Abschlussarbeit im weiterbildenden Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin eingereicht.
Der im Wintersemester 2003/04 eröffnete Studiengang bereitet auf berufliche Tätigkeiten im Bereich der Literaturvermittlung und -förderung vor und macht mit der Funktionsweise des Literaturbetriebs vertraut. Durch die Vermittlung branchenspezifischen Wissens und praktischer Fähigkeiten sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, ihre literaturwissenschaftlichen Fachkenntnisse in der außeruniversitären beruflichen Praxis anzuwenden. Die Lehrveranstaltungen des Studiengangs verbinden praktische Arbeit mit der theoretischen Reflexion auf die Bedingungen und Funktionen dieser Praxis. Darüber hinaus ist die Hinführung auf die Berufspraxis im Literaturbetrieb kombiniert mit der Vermittlung von vertieftem Fachwissen und Urteilsvermögen über (vor allem zeitgenössische) Literatur und ihre medialen Umsetzungen. Der Studiengang verfügt über ein enges Netzwerk an Kooperationen mit den Medien und Institutionen des literarischen Lebens, aus denen sich auch ein Großteil des Lehrpersonals rekrutiert. Dadurch ist neben dem Praxisbezug auch die stetige Aktualisierung der Lehrinhalte gewährleistet.
Die inzwischen weit über 100 Masterarbeiten des Studiengangs untersuchen unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Literaturvermittlung in Verlagen, Medien, Agenturen, Literaturhäusern, Festivals und anderen Institutionen. Sie analysieren Werke der Gegenwartsliteratur, die mediale (Selbst-)Inszenierung von Autorinnen und Autoren in einem zunehmend kommerzialisierten Literaturbetrieb, den Einfluss der digitalen Revolution auf alle Akteure des Betriebs – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verfasser der Masterarbeiten leisten dabei oftmals Pionierarbeit, da es zu den Themen der Angewandten Literaturwissenschaft häufig kaum oder keine Forschungsliteratur gibt.
Um diese Pionierleistungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Reihe initiiert. Sie veröffentlicht vom Wintersemester 2014/15 an in regelmäßigen Abständen eine Auswahl aus den besten Masterarbeiten des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft.
Wir danken allen, die an der Vorbereitung der Publikationen mitgearbeitet haben, und dem Verlag Epubli für seine Kooperationsbereitschaft.
Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm
(Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
der Freien Universität Berlin)
Prof. Dr. Georg Witte
(Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin)
Kurzzusammenfassung
Im Jahr 1995 erschien Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 im Suhrkamp-Verlag. Dabei handelte es sich vorgeblich um den Lebensbericht eines Kinderüberlebenden von Auschwitz und Majdanek. Dass ein Kleinkind die Erinnerungen an ein solches Grauen so eindrücklich bewahren konnte, diese unvorstellbar schreckliche Leistung bildete nach damaliger Ansicht die Besonderheit des entstandenen Textes. Doch drei Jahre später brachte der Journalist und Autor Daniel Ganzfried einen Stein ins Rollen: In einem Zeitungsartikel behauptete er, dass Wilkomirskis Erinnerungen lediglich ein Fantasieprodukt seien. Mit seinem Artikel löste Ganzfried einen Medienskandal aus, in dessen Verlauf es um moralische Fragen ging: um eine mögliche Verhöhnung von Holocaust-Überlebenden, einen ‚angemessenen’ Umgang mit der Shoah und das ‚richtige’ Erinnern. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen fand allerdings niemand. Stattdessen distanzierten sich die Journalisten von den im Jahr 1995 angeblich zahlreich veröffentlichten Lobeshymnen auf Wilkomirskis Bruchstücke und prangerten den Verzicht auf literarische Kriterien an. Dabei überzeichneten sie das vorangegangene Medienecho zu Bruchstücke erheblich, um einen größeren Skandaleffekt zu erreichen und die eigene Position zu stärken. Wilkomirski blieb bei seiner Sicht der Dinge, verstrickte sich jedoch zusehends in Widersprüche. Schließlich legte der Historiker Stefan Mächler eine umfangreiche Untersuchung vor, aus der Wilkomirskis Schweizer Herkunft fernab der von ihm geschilderten Grauen unzweifelhaft hervorging.
Mit seinem 2010 erschienenen Roman Die Leinwand lieferte Benjamin Stein eine literarische Antwort auf den Wilkomirski-Skandal. In Die Leinwand finden sich verschiedene Diskurse auf fiktionaler Ebene wieder; dem Leser werden unsichere Identitäten präsentiert. Steins Roman besteht aus zwei, von zwei verschiedenen Erzählern geschilderten Geschichten, die formal deutlich voneinander getrennt sind. Die Leinwand ist ein ‚Wenderoman‘, ohne hier eine inhaltliche Thematisierung der Ereignisse von 1989 zu meinen. Bereits an der Form lässt sich erkennen, dass es in diesem Text um das Aufeinanderprallen zweier Perspektiven, zweier Identitäten geht.
Die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses – und damit auch von (Auto-)Biografien – bildet ein wichtiges Thema in Steins Roman Die Leinwand. Darin werden die Protagonisten auf unterschiedliche Arten zu ,Erinnerungsdieben‘. Zudem drückt sich die offensichtliche Macht von Erinnerungen in Ästhetisierungsversuchen der Figuren aus: Erinnerungen sollen unter Kontrolle und in Übereinstimmung mit der Vorstellung einer stabilen Identität gebracht werden. Die ungewöhnliche Anordnung der beiden Erzählungen verhindert zusätzlich ein lineares, sinnfixierendes Leseverhalten – Rezeptionskonventionen werden auf diese Weise in Frage gestellt.
Der Roman Die Leinwand bietet für den Leser eine Verstehensmöglichkeit für den Prozess der Erschaffung einer Erinnerungsfiktion und damit eine differenziertere Sicht auf den Wilkomirski-Fall. Ein mitunter manipulativer Umgang mit Erinnerungen erscheint geradezu ‚normal‘. Dieser Eindruck verbindet sich mit der Problematisierung unterschiedlicher Weltanschauungen: Es wird deutlich gemacht, dass Wahrheit auch eine Frage des Standpunkts ist – Binjamin Wilkomirski wurde auch auf der Basis eines bestimmten Wahrheitsverständnisses öffentlich verurteilt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis" – Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft
Kurzzusammenfassung
1 Einleitung
2 Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948
2.1 Textuelle Anzeichen einer Fiktion
2.2 Der Skandal von 1998 und seine Vorboten
2.3 Überlegungen zum realen Hintergrund
3 Exkurs: Theorie der Autobiografie
3.1 Erinnerung als Basis von Autobiografien
4 Die literarische ,Wilkomirski-Rezeption‘: Benjamin Steins Roman Die Leinwand
4.1 Inhalt
4.2 Wilkomirski alias Minsky
4.3 Ein Aufbrechen von konventionellen Erzählstrukturen?
4.3.1 Chronologie
4.3.2 Erzähltheoretische Begriffe
4.3.3Bezug zu Raymond Queneaus Stilübungen
4.3.4 Selbstreferenzialität
4.4 Amnon Zichroni und Jan Wechsler
4.5 Erinnerungs- und Identitätsproblematik
4.5.1 Ästhetisierung von Erinnerungen
4.5.2 Von Normen geprägte Kindheit und Jugend, Lesehunger und Heimatverlust
4.5.3 Vom Lese- und Erinnerungsdiebstahl zum Erzählen des Romans Die Leinwand
4.5.4 Das Bad in der Mikwe als Bild für den Übergang in einneues Leben
5 Eine Neubetrachtung des Wilkomirski-Falls
6 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer sollte da noch sagen, was einmal wirklich geschehen ist? Vergessen, sagt mancher meiner Kollegen leicht dahin, sei der Schorf der Psyche. Wie aber unter Schorf neue Haut wächst, um die Heilung zu vollenden, entsteht auch unterm Vergessen etwas Neues.¹
Im Jahr 1995 erschienen sowohl Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948² als auch Benjamin Steins Roman Das Alphabet des Juda Liva³. Darüber hinaus gelangte noch ein weiterer Roman auf den Markt: Daniel Ganzfrieds Der Absender⁴. Vor allem durch die Ereignisse der folgenden Jahre traten diese drei Autoren in Beziehung zueinander, womit auch die Basis für eine Fiktionalisierung der Zusammenhänge geschaffen wurde.
Nach langjährigem Leidensweg entschloss sich Binjamin Wilkomirski⁵, ein Schweizer Mitte fünfzig, eine Autobiografie zu verfassen und mit seiner Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er brachte die Erinnerungsfetzen, die ihn schon lange geplagt hatten, zu Papier. Seine Agentin Eva Koralnik vermittelte das