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Sag mal, Lara: Eine mörderische Diät
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Sag mal, Lara: Eine mörderische Diät
eBook290 Seiten4 Stunden

Sag mal, Lara: Eine mörderische Diät

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Über dieses E-Book

So kann es nicht weiter gehen! Der Mann, dessen Geliebte sie ist, will seine Frau nicht verlassen, die Hänseleien der Schüler und Kollegen werden immer dreister, und die Anzeige auf der Waage erreicht bald das Maximum. Wie soll Lara so jemals Mutter des kleinen Jonas werden? Ganz klar, es muss sich etwas verändern. Unwissentlich unterstützt durch einen Unbekannten, beginnt für Lara eine mörderische Diät.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Dez. 2014
ISBN9783738009002
Sag mal, Lara: Eine mörderische Diät

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    Buchvorschau

    Sag mal, Lara - Jasmin Schneider

    Exkurs I: Adipositas

    [aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie]; http://de.wikipedia.org/wiki/Adipositas

    Bei der Adipositas (lat. adeps = fett) bzw. Fettleibigkeit, Fettsucht, Obesitas (selten Obesität; im engl. aber fast nur »obesity«) handelt es sich um ein starkes Übergewicht, das durch eine über das normale Maß hinausgehende Vermehrung des Körperfettes mit krankhaften Auswirkungen gekennzeichnet ist. Eine Adipositas liegt, nach WHO-Definition, ab einem Körpermasseindex (BMI) von 30 kg/m² vor, wobei drei Schweregrade unterschieden werden, zu deren Abgrenzung ebenfalls der BMI herangezogen wird. Indikatoren für den Anteil von Körperfett und dessen Verteilung sind der Bauchumfang und das Taille-Hüft-Verhältnis […]

    »Sag mal Lara, was willst du eigentlich, das man über dich sagt, wenn du mal tot bist?«

    Jonas, ein siebenjähriger Junge mit hellblauen Kulleraugen, wartete gespannt auf eine Antwort. Im Schneidersitz saß er auf einer roten Decke, die wiederum über ein grünes Sofa gelegt worden war. Dieses grüne Sofa war Mittelpunkt eines weitläufigen Wohnzimmers, in dem es immer nach irgend etwas duftete. Mal nach Schokoladenkuchen, mal nach den Zitronen, aus denen Lara frische Limonade machte. Heute war es das chemische Erdbeeraroma von Weichspüler, mit dem sie die rote Decke erst kurz vor Jonas Ankunft gewaschen hatte. Sie tat das immer, denn Jonas liebte Erdbeeren, sie waren sein Leib- und Magengericht. Doch im Moment wollte Jonas nichts von Erdbeeren wissen, denn immerhin hatte er ja eine Frage gestellt. Sie beschäftigte ihn nun schon den lieben langen Tag.

    »Was willst du eigentlich, das man über dich sagt, wenn du mal tot bist?«

    Statt dem Jungen eine Antwort zu geben, hantierte Lara Morgenstern in ihrer Küche. Vom grünen Sofa aus hatte Jonas freie Sicht auf ihren breiten Rücken. Laras Küche war nämlich kein eigener Raum. Sie war nur durch eine Anrichte mit integriertem Esstisch vom Rest der großen Wohnung getrennt. Bloß Atelier und Badezimmer besaßen Wände und Türen. Das Bad, damit man es auch ordentlich absperren konnte und das Atelier, damit nicht die ganze Wohnung den ölig harzigen Geruch annahm, den Laras Gemälde verströmten.

    Endlich drehte sich die kräftige Frau zu dem Jungen um. Auf ihrer Stirn, direkt unterhalb ihres dichten Haaransatzes, standen Schweißperlen, die ab und zu in fadenförmigen Rinnsalen in ihre vollen Brauen liefen. Da sie beide Hände voll zu haben schien – die Anrichte war zu hoch für Jonas, um es genau zu sehen – konnte sie sich die Perlchen nicht wegtupfen. Und weil der Junge wusste, dass Lara Schwitzen nicht leiden mochte, tat er, als hätte er es nicht bemerkt. Stattdessen konzentrierte er sich auf ihr verdutztes Gesicht. Das brachte ihn zum lachen. Um Laras Unwissen extra fett zu unterstreichen, wiederholte er seine Frage noch einmal.

    »Was willst du, das man über dich sagt, wenn du mal tot bist?«, dabei grinste er so breit er konnte, entknotete seine Beine aus dem Schneidersitz und setzte sich auf die Knie. So war er ein bisschen größer. Doch so sehr er sich auch reckte und streckte, was Lara genau trieb, konnte er nicht ausmachen.

    Sie seufzte jetzt, legte ein großes Messer aus der Hand und schaute dabei dumm aus der Wäsche. Das brachte Jonas so zum lachen, dass er sich bäuchlings auf das Sofa mit der Decke fallen ließ. Da lachte auch Lara, womöglich um davon abzulenken, dass sie mal nicht alles wusste so wie sonst immer. Ganz im Gegensatz zu seiner Mama, die er Jackie nennen musste. Jackie wusste so gut wie gar nichts. Aber dafür war sie auch keine Lehrerin so wie Lara.

    Als Jonas endlich genug davon hatte laut und lang zu lachen, richtete er sich wieder auf. Da ging Lara gerade zum Kühlschrank hinüber, öffnete die obere Tür und nahm Schlagsahne heraus. Offenbar hatte sie noch immer nicht vor, ihm zu antworten. Sie schüttelte das Päckchen in ihren großen Händen. Dabei wippte ihr gewaltiger Busen unter ihrer hellen Alt-Oma-Bluse und Jonas wurde rot. Er schaute verstohlen zur Seite, um sich zum Schein mit seinem rechten Zeigefinger zu beschäftigen, dessen Nagel er in tagelanger Arbeit bis auf die Wurzel abgenagt hatte.

    »Jonas bitte lass doch«, maulte Lara auch prompt, während sie die Schlagsahne über etwas kippte, das sie geschickt mit ihrem Körper vor ihm verbarg.

    Der Junge ließ schuldbewusst seine Hand sinken. Vorsichtshalber versteckte er den Zeigefinger unter der roten Decke. Er wurde langsam ungeduldig. »Jetzt sag doch!«, forderte er.

    Sie lächelte, machte »hmmmmm…«, als würde sie überlegen und rührte anschließend in einer Schüssel, »darüber muss ich erst mal nachdenken, das ist eine ganz schön schwierige Frage.«

    Jonas nickte zustimmend. »Das habe ich meinem Relilehrer auch gesagt.«

    Endlich brachte Lara das Ergebnis ihrer Bemühungen ins Wohnzimmer herüber. Eine riesige Glasschüssel voller leckerer Erdbeeren in Sahne und einem Plastiklöffel. Jonas war begeistert. Sein Herz tanzte geradezu auf seiner Zunge.

    »Mit Vanillinzucker«, zwinkerte sie, zupfte die rote Decke zurecht und stellte die Schüssel auf seinen Schoß. Sich selbst ließ sie ganz zaghaft neben den Jungen nieder. Trotz ihrer Vorsicht spürte Jonas, wie sich das Sofa beträchtlich senkte. Er ignorierte es, indem er aus dem Panoramafenster links der Couch auf die schöne Terrasse hinaus schaute, wo er gerade letzte Woche in Vorbereitung auf den Herbst zusammen mit Lara Vogelhäuschen aufgebaut hatte. So ließ er ihr Zeit, sich die weite Bluse zurecht zu zupfen. Als sie schließlich saß, nahm sie den Plastiklöffel aus der Schüssel, belud ihn mit viel zu vielen Erdbeeren, ließ ihn in der Luft kreisen und beförderte die Ladung anschließend mit Lauten wie etwa »bfrrbbrrrfffw!«, in seinen Mund. Die Hälfte ging natürlich daneben, worüber beide herzlich lachten, Jonas mit randvollem Mund.

    »Also… mal sehen«, begann Lara während er angestrengt kaute, »was will ich, das jemand über mich sagt, wenn ich tot bin…«. Sie schaute zur Decke hinauf, durch die man den Himmel über sich sehen konnte. Erst nach einer ganzen Weile und zwei weiteren Hubschrauberladungen, antwortete sie. »Am liebsten wäre mir, man sagt, ich sei eine tolle Mami gewesen.«

    Das enttäuschte Jonas. Lara hatte doch gar keine Kinder.

    »Was willst du denn, das man über dich sagt, Prinz?«, fragte sie.

    Jonas stellte die Schüssel auf den Wohnzimmertisch, seufzte und setzte sich ganz gerade. Dabei ließ er seine Augen flackern, wie er es erst gestern im Fernsehen gesehen hatte. So hatte dort ein Mann gemacht, als man ihn was gefragt hat. »Also ich will gerne so bekannt sein wie Jesus«, sagte er und nickte dabei vielsagend den blonden Kopf.

    Lara lachte los, schloss ihn in die Arme und gab ihm einen Nasenstüber. »Weißt du, Prinz, ich glaube, das werden wir schon schaffen!«

    Jonas machte sich los. Die Sache war ihm wirklich wichtig. »Aber mein Lehrer hat gesagt, das geht bei mir nicht so wie bei Jesus!« Entmutigt hob und senkte er die Schultern.

    Sie klopfte sich mit dem Finger an den Kopf. »Tock, tock!«, sang sie dabei.

    Jetzt musste er wieder lachen. Ganz laut, lange und schrill. »Tock, tock! Tock, tock!«, rief er immer wieder und wippte heftig auf der Stelle bis das hellgrüne Sofa unter der roten Decke quietschte.

    »Tock, tock! Tock, tock!«, gackerte sie mit, stand auf, packte den Kleinen mit beiden Armen und wirbelte mit ihm um ihre eigene Achse.

    Die Türklingel unterbrach ihren wilden Tanz.

    Jackie Baehr, die eigentlich Jacqueline hieß, war wie immer furchtbar in Eile und wollte nicht reinkommen. Sie zog es vor, im breiten Treppenhaus zu warten, das hier oben vor Laras Eingangstür eher wie ein externes Zimmer wirkte. Es besaß zwar keine verglaste Decke ,so wie weite Teile der ausgebauten Loft, doch auch hier war der Boden mit dem gleichen edlen Parkett ausgelegt. Und obwohl der Aufgang zu Laras Reich im dritten Hinterhof lag, versorgten zwei vierflügelige, hohe, schmale Fenster das Carree mit dem gemütlichem Licht der untergehenden Sonne. Es fehlte lediglich eine kleine Sitzecke, und der Besucher hätte das Treppenhaus nicht mehr vom Wohnbereich unterscheiden können.

    In ihrem ausgeleierten, grau-schwarz verwaschenen Shirt wirkte Jacqueline dort draußen nur noch schmächtiger. Ihre weißen Arme schienen lose aus den weiten Ärmel heraus zu hängen und drohten bei jeder Bewegung ihrer sackartigen Tasche abzubrechen. Alte Vernarbungen, die meisten davon in und unter den Armbeugen, machten den Eindruck nicht besser. Die Hose, eine Blue Jeans in maximal Größe 26, schlackerte um Jacquelines Beine wie ein ausgedienter Lappen. Dabei war sie brandneu – Lara Morgenstern hatte dem Mädchen keine zwei Wochen zuvor Geld dafür geliehen.

    »In deiner Größe gab es sie nicht?« Lara bemühte ihr freundlichstes Lächeln, auch wenn ihr bei Jackies Anblick die Gesichtsmuskeln erstarrten.

    Jackie zuckte mit den Achseln. »Geht doch«, murmelte sie, hob das Shirt, und gab so nicht nur den Blick auf den Gürtel frei, der maßgeblich am Halten der Hose beteiligt war, sondern auch auf einen nach innen gewölbten Bauch, dessen Anblick bei Lara Ekel, aber auch Mitleid hervorrief.

    »Hast du Hunger?«, fragte die unwillkürlich. Eine blöde Frage, bedachte man, dass die Blonde gerade von der Arbeit in einem türkischen Bistro kam, wie man an dem unangenehmen Geruch, der von ihr ausging, unschwer erkannte.

    Das Mädchen schnalzte mit der Zunge, griff ohne hinzusehen in ihren Taschensack, aus dem sie ein in Alufolie gewickeltes rundes Etwas hervorzog, höchstwahrscheinlich einen Döner. Dann wurde sie ungeduldig. Man sah es an ihrem zuckenden Fuß. Sie warf mit einer heftigen Geste ihre wenigen, blonden Haare in den Nacken. »Jonnie!?«, rief sie schließlich mit einer kleinen Vogelstimme.

    Lara hatte nicht den Eindruck, dass dieses Fiepen viel weiter als bis zum Ende des Vorraums hinter ihr reichte. Nicht zuletzt, weil sie selbst in der Tür stand und damit das meiste der Wohnung für Jackie verdeckt blieb. Dieser Gedanke war ihr noch unangenehmer, als Jackie »Jonnie!«, rufen zu hören. Also trat sie schwerfällig zur Seite, damit sie an ihr vorbei in die Wohnung blicken konnte. »Jonas, deine Mami«, rief sie, nur um etwas zu sagen.

    Als keine Antwort kam, zog Jackie ein Gesicht, beugte sich so weit vor wie es ging, ohne einen Fuß in die Wohnung setzen zu müssen, und piepste ein weiteres Mal: »Jonnie!«

    Währenddessen war Jonas sehr langsam durch Laras Wohnzimmer geschlichen, vorbei an dem großen Regalschrank, der bis knapp unter die Decke reichte, hinein in einen schmalen, wiederum durch hohe Regale vom daneben liegenden Lese- und Arbeitszimmer abgetrennten Gang. Hier blieb er noch einmal stehen und schaute zur verglasten Decke hinauf, freute sich über die Vögel, die darüber hinweg flogen und tat, als hätte er das Rufen seiner Mutter nicht gehört. So machte er das immer, also vier- bis fünfmal in der Woche, wenn Jackie arbeitete und er seinen Tag nach der Schule bei Lara verbringen durfte.

    Erst als er Laras klare Stimme hörte, tanzte er sich immer auf einem Bein drehend ins Atelier hinüber, das dem Arbeitszimmer gegenüber auf der anderen Seite einer Wand aus bunten Glaswürfeln lag. Das Atelier nahm den größten Teil der Loft ein und war in sich noch einmal unterteilt in Kreativwerkstatt und Lager. Die Werkstatt war ein Traum an Licht und wohl der einzige Teil der gesamten Wohnung, der nicht perfekt sauber und aufgeräumt war. Überall standen Farbeimer herum, der Boden war übersät mit Flecken, mannshohe Leinwände mit halb fertigen Gemälden warteten auf Weiterverarbeitung. Hier roch es nach Öl, Harz und Terpentin und nach dem Stein, aus dem Lara eine dicke Frau schlug, wenn sie sich ärgerte.

    Dieser Raum war Jonas Lieblingsplatz. Wenn er sich nicht selbst als Künstler versuchte, begutachtete er vor allem die vielen Schätze, die er über die Jahre von seiner Babysitterin bekommen hatte. Er verbarg sie alle in einem Schränkchen hinten im Lagerbereich, direkt unter seiner persönlichen Garderobe, die aus einem alten Kleiderhaken aus Holz bestand. Von dort nahm er nun seine Jacke ab und konnte nicht umhin, die oberste Schublade des Schränkchens zu öffnen. Die Jacke legte er sich achtlos über die Schultern. Mit Hingabe betrachtete er die Mendelssohn Münze, die er bei seinem letzten Besuch mit Lara im Jüdischen Museum selbst geprägt hatte. Daneben lagen die teuren Filzstifte aus dem großen Künstlerbedarf in der Marienburger Straße, mit denen eigentlich nur Designer malten.

    Jackie rief nun schon wieder nach ihm. Obwohl er viel lieber noch die Bilder angeschaut hätte, die er mit den Stiften gemalt hatte, beeilte er sich, warf seinen Ranzen auf den Rücken und lief »Komme!«, kreischend zum Eingang.

    Die beiden Frauen standen in der Tür, die eine drinnen, die andere draußen und schauten ihn an; die eine strahlend, die andere mit einem verkniffenen Gesicht. Jonas bemühte sich zu lächeln, doch der Knoten, zu dem seine Jacke unter dem Ranzen geworden war, störte ihn dabei. Er zupfte rechts und links, doch die dumme Jacke wollte ihm nicht gehorchen.

    »Mach schon Jonnie!«, herrschte Jackie ihn an, während Lara zu ihm herüber kam und half.

    »So«, sagte sie aufmunternd, als endlich alles glatt war und kniff ihn sacht in die linke Wange. »Wann kommst du denn wieder her, Jonas?«

    Er schaute ein bisschen beleidigt zu Jackie hinüber. Sie hatte inzwischen eine Packung Zigaretten aus der gestaltlosen Tasche gefördert, nahm eine heraus und zündete sie an. Dabei musste sie doch wissen, wie sehr Lara das verabscheute. »Wie immer halt«, antwortete sie gelangweilt und sog den Rauch tief in die Lungen.

    »Na dann bis übermorgen, kleiner Prinz!«, sagte Lara und drückte ihn noch einmal fest an sich.

    Jonas verabschiedete sich mit einem raschen Kuss und rannte Fluglärm imitierend an seiner Mutter vorbei ins Treppenhaus.

    »Hab übrigens die neue Arbeit Samstags jetzt fest, Probezeit ist schon um«, sagte Jackie im Gehen, »weißt schon, das Putzen bei dem Reichen.« Ihre Augen funkelten beim letzten Wort.

    Lara wusste, zögerte kurz, »reicht das Geld sonst nicht?«, sie biss sich auf die Zunge, »wird es nicht zu viel, meine ich?«

    Jackie rollte mit den Augen. »Will ja auch mal in Urlaub mit dem Zwerg.«

    »Aber«, Lara unterbrach sich selbst, »aber natürlich.« Dazu nickte sie ein wenig zu überschwänglich. »Bring Jonas einfach weiterhin her.«

    »Klar.« Sie nickte Lara kurz zu, bevor sie schweigend die Treppen hinunter rannte.

    In den Türrahmen gepresst blieb Lara zurück. Sie betrachtete die großen Palmen, die sie erst letztes Jahr im Treppenhaus hatte aufstellen lassen. An Italien sollten sie sie erinnern, an die Sommer ihrer Kindheit bei ihren Großeltern, als das Leben schön, ihre Mutter ein Mensch und ihr Vater noch am Leben war. Doch stattdessen kamen die Pflanzen ihr jetzt künstlich vor. Sie standen dort gegenüber der Eingangstür, fast spöttisch, eben bloß ein Ersatz für das wahre Leben. Gleich morgen würde sie die Palmen dem Frauenhaus spenden oder sonst einer bedürftigen Organisation, die für Schönes kein Geld übrig hatte.

    Dann schloss sie die Tür. In der Wohnung wurde es ganz langsam stiller, je länger Jonas nicht darin war. Zuerst dünstete jede Ecke sein Lachen aus, der Schall traf sich in der Mitte. Dort stellte sich Lara auf, um so lange wie möglich davon zu zehren. Erst wenn auch der letzte Ton verklungen war, rannte sie zum Sofa hinüber. Wenn sie sich anstrengte, roch Lara Jonas’ Kinderduft noch bis zu einer halben Stunde danach.

    Derselbe Kinderduft löste in Jackie schlimme Vorwürfe aus. Sie wurde nämlich das Gefühl nicht los, dass er stärker war, wenn sie Jonas bei Lara abholte. Schon auf der Treppe war ihr der Geruch aufgefallen und das, obwohl der Allergologe ihr schon wieder nicht das gute Spray gegen ihre scheiß Allergie verschrieben hatte.

    »Bei ihrer Vorgeschichte, Frau Baehr, da kann ich ihnen nicht guten Gewissens noch Kortison aufschreiben«, hatte er gesagt. So ein Penner! Und das nur, weil irgend so ein Depp Kortison mit Speed gemischt hatte und dabei drauf gegangen war.

    Die Luft unten im Hof schlug ihr entgegen wie eine Wand. Jackie musste stehen bleiben und tief atmen. Die halb aufgerauchte Zigarette warf sie weg. Zu spät. Sie hustete und fand, sie klänge dabei wie ein alter Mann, der sein Leben lang starke Zigaretten ohne Filter geraucht hatte.

    Jonas war stehen geblieben. Er schaute sich um. Als er Jackie husten sah, kam er zurück. Geschickt nahm er ihr die Tasche von der Schulter, stellte sie sich vor die Füße und begann darin zu kramen. Nach kurzer Zeit fischte er ein Fläschchen Asthmaspray heraus.

    Jackie riss es ihm aus der Hand wie eine Schiffbrüchige, fiel auf die Knie und atmete das Spray hastig ein. Ganz langsam ebbte der Anfall ab.

    »Meine Lehrerin hat das auch!«, sagte Jonas als es ihr wieder besser ging.

    »Wirklich?«, Jackies Stimme klang noch dünner als sonst.

    »Ja, die Frau Kuhn, meine Klassenlehrerin.« Er streckte ihr eine Hand hin, um ihr auf zu helfen. Das war zwar nicht sonderlich hilfreich, aber Jackie musste trotzdem lächeln. »Die Frau Kuhn«, begann er dann wieder, »die sagt, das liegt alles nur an so einer Pflanze, die sie aus Amerika eingeschleppt haben.«

    »So? Wer denn?«, Sie hatte sich aufgerichtet und warf sich die Tasche wieder auf den Rücken. Dann reichte sie ihm die Hand, eine seltene Geste.

    »Na, so Leute… weiß nicht wer«, er zuckte die Achseln. »Und jetzt reißen andere Leute die Pflanzen wieder aus.«

    »Wirklich?«

    »Ja, mit Masken, damit sie nicht sterben.«

    Sie lachte und öffnete das Tor zum nächsten Hof. »Aha.« Dann schüttelte sie seine Hand ab. »Wer Erster an der vorderen Tür ist!«. Sie rannte los.

    Jonas folgte ihr johlend. »Wenn ich mal groß bin, dann hol ich dich ein«, keuchte er auf der Straße.

    Jackie hustete unter Lachen. Sie sah kleine schwarze Punkte, blieb stehen und stützte sich an der Hauswand ab. Jonas tätschelte ihren rechten Arm. Da roch sie ihn wieder, den Kinderduft. Sie presste sich ein rasches Lächeln ab. Was gab die Dicke ihm nur immer, dass er so stank?

    Laras Schlafzimmer lag im hintersten Teil der riesigen Loft. Dort, wo der Raum an das daneben liegende Lager des Ateliers angrenzte, war ein begehbarer Kleiderschrank eingebaut. Er war vom Rest des Zimmers durch eine Schiebetür abgetrennt. Wenn man sie betätigte, wurde es drinnen taghell. Auf diese Weise fiel nicht auf, dass es auf dieser Seite keine Fenster gab. Die lagen durch schwere Vorhänge abgedunkelt gegenüber. Unter ihnen stand ein breites Bett. Und in dem Bett lag Lara.

    Sie war gerade dabei, die Schwelle von Traum und Wirklichkeit zu überwinden. Der Gedanke, die ganze Nacht nur vom eigenen Atem begleitet worden zu sein, gab ihr ein verlorenes Gefühl. Ein Schauer lief über Arme und Rücken. Sie erinnerte sich wieder nicht daran, was sie geträumt hatte. Das verstärkte die Sterilität ihrer Einsamkeit. Ihr gesamtes Leben war so keimfrei, dass nichts darin wuchs.

    Lara zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie lag auf dem Bauch, konnte nichts sehen, weil ihr Kopf ins Kissen gepresst war. Es roch frisch gewaschen. Wenn sie so noch eine Zeit lang lag, würde sicher bald der Wecker klingeln. Schließlich schaute sie auf. Es war erst zehn vor fünf, noch früher als gestern. »Du solltest länger fernsehen«, murmelte sie und rappelte sich hoch. Wenn sie nur lange genug die Schiebetür gegenüber ihres Bettes anstarrte, würde die Zeit vielleicht schneller vergehen.

    Aber Lara war nicht der Typ, der den Kopf hängen ließ, also streckte sie sich ausgiebig, atmete ein paar Mal tief und setzte das Lächeln auf. Das Lächeln half meistens. Sie lächelte es den ganzen Weg am Bad vorbei ins Arbeitszimmer, wo sie ihren Laptop öffnete und einschaltete. Sie lächelte es auf dem Weg in die Küche und drückte den Knopf des Kaffeeautomaten. Und es noch immer lächelnd verschwand sie im Bad, wo sie länger als nötig verweilte und ihren strengen Dutt gleich zweimal band.

    Erst nach dem Ankleiden entließ sie das Lächeln. Weil es nicht zu dem neuen grau-braunen Zweiteiler aus schlichtem Rock und Blazer über cremefarbener Bluse und den flachen Schuhe passte. Die schmale Schnittlinie des Outfits, die auch beim Rest ihrer Garderobe überwog, betonte vor allem ihre Größe und weniger ihre Form. Wie zuvor schon ihre Großmutter vertraute Lara Morgenstern dabei ganz auf Wissen und Können der Schneiderin, bei der sie ihre Kleider gewöhnlich anfertigen ließ. Auch die ererbte Perlenkette legte sie an. Sie gehörte zur Ausstattung wie Finger an die Hand. Außerdem machte sie sich gut auf Laras von Natur aus leicht gebräunter Haut, ein Plus, das sie wie das dichte, dunkelbraune Haar, ihrer sizilianischen Mutter verdankte.

    Später saß Lara mit Kaffee und einem trockenen Keks am Rechner und bearbeitete Emails. Eine kam von ihrer besten Freundin Renate mit wie gewöhnlich esoterischem Inhalt. Die meisten anderen waren Stipendiatsbewerbungen junger Künstler und Architekten. Neben einem stabilen Vermögen, hatte Lara die Stiftung der Morgensterns geerbt. Ihre Großmutter hatte ihr beigebracht, das Geld auszugeben und dennoch zu behalten.

    Zu ihren Hinterlassenschaften gehörte außerdem ein Stadthaus in München. Es war die Aufgabe der Hausverwaltung Umminger sich darum zu kümmern. Karl Umminger, ein älterer, überkorrekter Herr mit stark bayerischem Akzent, hatte seit gestern drei mal geschrieben. Seine Notizen enthielten nicht mehr als die Bitte, ihn so schnell wie möglich zurückzurufen. Lara seufzte. Ihre Arbeitszeiten hatten sich durch den Schuljahreswechsel von Mittwoch auf Montag verschoben. Aber das akzeptierte er offensichtlich ebenso wenig, wie ihre Entscheidung, den Dachstuhl des Münchener Hauses zu einem Penthouse umzubauen. Wieso war sie eigentlich trotz ihrer beträchtlichen Leibesfülle für die meisten Menschen unsichtbar?

    »Braune Scheiße!«. Martin Born, unter den zwölf Leistungskursteilnehmern der älteste und einzig wirklich talentierte, schaute nicht von seinem schwarzen Skizzenbuch auf, als sich Lara schockiert zu ihm umdrehte. Wie üblich

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