ORANGE UND RUND
Von Kerstin Strato
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Über dieses E-Book
Gerade eben noch unterwegs zu einem wichtigen Termin, wird Marie unvermittelt aus ihrem hektischen Alltag gerissen. Nach einem Schneesturm strandet die von nervösen Magenschmerzen geplagte Karrierefrau im provinziellen Nirgendwo. Dort wird sie von der abgeschieden lebenden Matilda aufgenommen.
Dem Schnee ausgeliefert, muss sie die Stille und ihre immer lauter werdenden Gedanken aushalten. Und auch Matilda, die ihr zeigt, dass vieles anders ist als es scheint, passt nicht in ihr Weltbild. Maries Leben steht Kopf. Schließlich tut sie das, was sie ihr Leben lang vermieden hat und stellt sich ihren eigenen Geistern.
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Buchvorschau
ORANGE UND RUND - Kerstin Strato
Vorwort
Die reinste Form des Wahnsinns ist,
alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen,
dass sich etwas ändert.
(Albert Einstein)
Am Atlantik I
»Jetzt komm endlich. Wir müssen da lang!«
Der junge Mann hatte seinen Seesack geschultert und stand ungeduldig in der kleinen Wartehalle. Klapprige Deckenventilatoren surrten. Es war stickig und heiß, an seinem Hemd zeichneten sich Schweißflecke unter den Achseln ab. Der Grauhaarige sah aus dem offenen Gebäude auf das Rollfeld. Es war eine kurze, schmale Piste, die in den Urwald geschlagen worden war und die der Regen in eine Schlammbahn verwandelt hatte. Es regnete seit Tagen ohne Unterlass. Die beiden Reisenden mussten in die Hauptstadt, um ihren Rückflug anzutreten. »Na, dann.«
Der Ältere hängte sich seine Fotoausrüstung über die Schulter. Sie traten ins Freie und marschierten zu dem einzigen Flugzeug, das bereitstand. Es war eine viersitzige Propellermaschine mit einem roten Schriftzug an der Seite, der nicht mehr lesbar war. Ein junger Einheimischer nahm ihnen das Gepäck ab, das er im Rumpf der Maschine verstaute. Sein starker Akzent machte es den beiden Männern nicht leicht, ihn zu verstehen; mit Hilfe seiner Hände und seinem breiten Lächeln, das seine weißen Zähne freilegte, wies er die beiden an, noch etwas zu warten. Eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen einen Regenschirm haltend, schlurfte er zum Nebengebäude, wo eine junge Frau mit ihrem Putzwagen auf ihn wartete.
Dicke Tropfen platschten vom Himmel, als wenn es kein Morgen gäbe. Der kleine Unterstand in der Nähe des Flugzeugs hielt sich auf rostigen Beinen aufrecht und bot den beiden Passagieren mit seinem undichten und halbfertigen Dach nur wenig Schutz. Der Ältere schnappte sich einen Plastikstuhl und streckte seine langen Beine von sich, während der Jüngere stehen blieb. Sein Haar und Hemd waren klatschnass, doch das schien ihn nicht zu stören.
Geistesabwesend stand er da. Der Regen prasselte laut und die Schwüle war schon jetzt, bei Tagesanbruch, immens. Wie auf Anweisung hörte der Regen abrupt auf zu fallen und der Duft des Regenwaldes entfaltete sich in seiner ganzen Bandbreite. Es war ein Gemisch aus nasser Erde, Blüten und Blättern, unterlegt mit einem süßlichen Geruch nach Fäulnis und Verwesung. Die Wolkendecke öffnete sich einen Spalt und die Sonne machte eine Farbpalette aus glänzenden Grüntönen sichtbar. Ein unwirkliches Licht legte sich auf die spiegelnden Blätter. Gleichzeitig erhoben sich befremdliche Töne und Rufe. Die Bewohner des Regenwaldes taten ihr Dasein kund.
Der junge Mann sah zu seinem Vater: »War echt super hier.«
»Kannst jederzeit wieder mitkommen, mein Junge«, war die freundliche Antwort.
Aus dem dichten Grün hinter der Piste stieg Wasserdampf auf. Wie der Gully auf dem Foto, Ben dachte an ein Schwarz-Weiß-Foto, das er bei einem Freund gesehen hatte. Eine Straßenszene in New York.
Der einheimische Kofferträger kam und die drei Männer gingen zur Maschine. Nachdem er sich als Pilot vorgestellt hatte, setzte er sich auf die vordere durchgehende Sitzbank, während Ben und sein Vater auf der hinteren Bank Platz nahmen. Ben sah besorgt zu ihm, er mühte sich mit dem Gurt ab.
»Sieh dir mal das Cockpit an. Die Kiste hier ist mindestens so alt wie du, es rostet alles. Und die Piste, hast du die Piste gesehen?«
»Mach dir keine Sorgen, ich bin schon in ganz anderen Flugzeugen geflogen. Schnall dich an.«
Der Pilot hatte sich einen bizarren Kopfhörer aufgesetzt und hantierte mit seinen dunkelhäutigen Fingern an den rostigen Kippschaltern herum. Er hatte schlanke Hände und lange Finger mit schönen, gepflegten Fingernägeln. Als alle Schalter in der richtigen Position waren, sprach er eine knappe Ansage in den Kopfhörer, der doch keine Attrappe war. Dann setzte sich die Maschine in Bewegung und schlitterte zum Rollfeld. Ben bekam feuchte Hände. »Ich will raus hier!«
»Mein Junge, ich verspreche dir, uns passiert nichts. Denk an zu Hause«, und der Vater drückte die Hand seines Sohnes.
Es wurde ohrenbetäubend laut. Das Flugzeug begann, sich mit aller Kraft durch die Schlammpiste zu wühlen. Konzentriert starrte der Pilot durch die kleine Cockpitscheibe, während seine Verlobte am Boden ihren Dienst begann. Sie war immer noch vor dem Nebengebäude und schob langsam ihren kleinen Putzwagen in Richtung der Toiletten. Stöhnend blieb sie stehen und stellte ihren Eimer Wasser ab. Mit einer Hand fasste sie sich an den kleinen Bauch, mit der anderen Hand stützte sie sich den Rücken. Lange konnte sie diese Arbeit nicht mehr machen, das wusste sie. Aber bald würde sowieso alles anders werden. Sie würden heiraten und von hier weggehen. Sie hätten eine kleine Wohnung und ihr Mann hätte eine feste Anstellung als Pilot bei einer angesehenen Fluggesellschaft.
Während sie so dastand und an den Abschiedskuss von vorhin dachte, beobachtete sie, wie sein Flugzeug schwerfällig und viel zu spät abhob. Sie schlug die Hand vor den Mund, kam dabei ins Wanken, der Eimer kippte um und Wasser spritzte an ihre Schuhe und Beine. Sie fing sich an der Gebäudewand ab und schrammte sich die Hand an den scharfen Steinen. Ihre Ohren rauschten. Ohnmächtig verfolgte sie die kleine Propellermaschine. Die Zeit verlangsamte sich und schien stehen zu bleiben. Es passierte nacheinander und doch gleichzeitig. Es geschah wie im Alptraum und doch in Wirklichkeit. Das Streifen der schlammigen Räder an den Bäumen, das übermäßige Schwanken der kleinen Maschine, der verzweifelte Kampf des Piloten, die Todesangst der beiden Passagiere, die erbarmungslosen Fänge der Urwaldriesen und das Verschwinden der kleinen Maschine in der grünen Hölle. Dann der Knall, der Feuerball und der stumme Schrei der jungen Verlobten.
Neunzehn Jahre später – Der Termin
Müde sah Marie durch die Windschutzscheibe. Es dämmerte. Dichtes Schneetreiben behinderte ihre Sicht und machte das Fahren zur Tortur. Obendrein schmierte der Scheibenwischer. Marie war es leid. Seit dem frühen Nachmittag ging das nun so. Als sie am Morgen losgefahren war, hatte nichts auf diesen Wetterumschwung hingedeutet. Im Gegenteil, die Straßen waren trocken gewesen. Doch nun wollte es nicht aufhören zu schneien. Am Straßenrand türmten sich inzwischen Schneewehen, die vom Wind gebaut und wieder zerstört wurden. Besonders die Fichten bogen sich unter ihrem weißen Kleid und auch die Straße war unter einer Schneedecke verborgen, die Schneeschieber kamen gegen die weiße Last nicht an. Lautlos fielen die tanzenden Flocken vom Himmel und wurden vom Wind genau dahin getragen, wo sie liegen sollten. Immer an der für sie richtigen Stelle, fügten sie sich dann mit den anderen zu einem perfekten Bild zusammen.
Für Marie allerdings war das Bild alles andere als perfekt. Schritttempo, Stillstand, Schritttempo. Der Stand der Tankuhr nötigte sie, nicht länger zu warten. Also nahm sie die nächste Möglichkeit wahr und bog ab. Sie kam in eine kleine Ortschaft und lenkte den Wagen auf einen Supermarkt-Parkplatz, wo sie fröstelnd ausstieg. Der heiße Kaffee hauchte ihr ein wenig Leben ein, auch wenn das aufgeweichte Brötchen zwischen den Zähnen klebte.
Die Bedienung des kleinen Steh-Cafés sah sie fragend an: »Tankstelle? Klar, keine zehn Minuten von hier. Nur – da kommen Sie nicht hin, gesperrt, die Hauptstraße meine ich. Bis morgen Mittag.«
Entsetzt starrte Marie die Frau mit der gelben Bluse und den spröden Haaren an. Sie konnte ihren Termin nicht platzen lassen! Monate hatte sie darauf hingearbeitet; nicht zu denken an die vielen Überstunden! Doch der viele Schnee, die gesperrte Straße und der leere Tank zwangen sie, in den Ortskern zu fahren und vor einem kleinen Hotel haltzumachen. »Was denken Sie sich? Ich kann doch nicht im Auto übernachten«, mit zornigen Augen fuhr sie den Mann hinter der Rezeption an.
Der zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. In dem Ort gab es nur dieses eine Hotel. Und das war ausgebucht.
»Ich glaub’ das nicht. Ich glaub’ das einfach nicht.«
Marie stieg wieder ins Auto und fuhr orientierungslos durch die gleich aussehenden Straßen. Sie parkte schließlich auf einem kleinen Parkplatz. Reichweite 0 km, zeigte der Bordcomputer. Sie wickelte sich ihren Schal um den Kopf und stöckelte entschlossen in eine kleine Seitengasse, an deren Ende sie ein Schild leuchten sah. Wenig später stand sie erleichtert vor der Eingangstür eines Gasthauses. Durchgefroren trat sie in den altmodischen und dunklen Gastraum, wo ihr warme und verbrauchte Luft entgegenschlug.
Sie ging zur Theke und sagte: »Ich muss dringend telefonieren. Und ich brauche ein Zimmer.« »Guten Abend«, murmelte der etwas ungepflegte Gastwirt, während er ein Bier zapfte.
Klappernd stellte er ihr ein schmuddeliges Telefon auf den Tresen, wobei er die fremde Frau wortlos musterte. Marie würdigte ihn keines Blickes und wischte betont angewidert den Hörer an der Hose ab, bevor sie ihn ans Ohr hielt. Wieso muss gerade jetzt der Akku leer sein und wieso habe ich das Aufladekabel zuhause liegen lassen? Während diese