Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Millionen auf Eis
Millionen auf Eis
Millionen auf Eis
eBook396 Seiten5 Stunden

Millionen auf Eis

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Auf ihrem Flug nach San Francisco glaubt die Studentin Karen noch an das schnell verdiente große Geld. Schon bald ahnt sie, dass der geheime Job der Leihmutterschaft für eine prominente Frau sie in einen Strudel der Ereignisse hineinzieht, dessen Ausmaß sie erst begreift, als es Mordanschläge gibt. Nachdem ihr Freund Jan sie in Kalifornien aufgespürt hat und sie zu einer Erpressung der Prominenten überredet, wachsen ihnen die Ereignisse über den Kopf, und sie ahnen auf der Flucht von Kalifornien nach Hamburg, dass Karen offenbar einem milliardenschweren Erben zum Leben verhelfen soll. Doch das will jemand unbedingt verhindern...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Juli 2015
ISBN9783732349364
Millionen auf Eis

Ähnlich wie Millionen auf Eis

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Millionen auf Eis

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Millionen auf Eis - Susanne Toelcke

    1. Kapitel

    Als die Triebwerke der Boeing 747 aufheulen, lehnt sich Karen aufatmend in ihrem Sitz zurück, ganz so, als könne sie die Aufregungen der letzten Wochen damit hinter sich lassen.

    Dabei soll das Abenteuer mit diesem Flug erst beginnen. Dies hier ist doch der eigentliche Start in ihr neues Leben. Zum ersten Mal wird sie den Atlantik überqueren, mehr noch: von der Ostküste zur Westküste auch den nordamerikanischen Kontinent, um dann in Kalifornien in eine neue Welt katapultiert zu werden. Die der Schönen und Reichen, die sie bisher auf den Glanzseiten der Illustrierten gesehen hat. Das Haus, in dem sie die nächsten Monate verbringen wird, hat sie auf Fotos gesehen. Die junge Frau weiß, dass die Wirklichkeit es noch übertreffen wird. Sie ist sich sicher, das große Los gezogen zu haben mit diesem Job, den sie mit links erledigen wird. Zweihunderttausend Euro innerhalb eines Jahres! Wer verdient schon soviel? Nach Abschluss ihres Studiums würde sie dafür wohl einige Jährchen brauchen, vorausgesetzt, sie bekäme eine Stellung. Und das war keineswegs sicher. Gewiss, sie konnte ganz gut zeichnen, hatte hier und da recht originelle Ideen, die ihr schließlich zu einem Studienplatz verholfen hatten, aber begabte Leute gab es viele, und die ausgebildeten Designer gaben sich mit ihren Mappen unterm Arm bei der Arbeitssuche die Klinken in die Hand.

    Wenn sie an das viele Geld denkt, das bald ihrem sich chronisch im Minus befindlichen Konto eine bedeutsame Schwere verleihen würde, durchströmt sie ein Gefühl der Erleichterung, und sie könnte schreien vor Glück, dass sie unter so vielen Bewerberinnen ausgesucht worden war. Von ihrem eigenen Aufseufzen wird sie aus ihren Gedanken gerissen, und sie schaut auf die Hand ihres Sitznachbarn, die sich beruhigend auf ihren Arm legt.

    »Haben Sie doch keine Angst, junge Frau, wir müssen ja alle mal sterben.«

    Wenig belustigt schaut Karen in das wabbelige Gesicht, aus dem dieser seltsame Satz kam, und in dem man die Augen erst auf den zweiten Blick erkennt, so tief eingebettet liegen sie zwischen Wülsten und Fleischpolstern, die jedoch das Grinsen des Mannes in speckigen Falten wie auf einem Tablett servieren.

    Ablehnend schüttelt sie den Kopf und zieht ihren Arm unter seiner Hand weg.

    »Lassen Sie nur, ich habe keine Angst«, entgegnet sie und lehnt ihre Stirn gegen das kühle Fensterglas. Gerade noch rechtzeitig, um sehen zu können, wie die Boeing in rasender Fahrt das Ende der Piste erreicht, mit ihrer gewaltigen Kraft und einem deutlichen Ruck vom Boden abhebt, schnell an Höhe gewinnt und sich in einer scharfen Rechtskurve den Wolken entgegen schiebt. Sie sitzt in dem Flieger, dessen Start sie vor Wochen noch am Flughafen beobachtet hat. Sie erinnert sich deutlich an ihr Misstrauen, das dann der Bewunderung gewichen war, als der Koloss, der sich mit ächzendem Brummen so schwerfällig in Bewegung setzte, ganz am Ende der Startbahn, dort wo schon der Wald begann, dann doch in die Lüfte emporhob und Sekunden später tatsächlich einem Vogel glich, als er in den Wolken verschwand. Nun sitzt sie selbst drin in diesem Vogel und lässt den Flughafen und die Stadt hinter sich.

    Sie sieht die Vorortsiedlungen weit unten in artige Quadrate aufgeteilt, durchsetzt von Bäumen, die noch nicht ihr volles Grün ausgebildet haben. Menschen erkennt sie in dieser Höhe bereits nicht mehr, jedoch noch die Autos und einen Zug, der in raschem Tempo in einen Wald einfährt, gerade so wie die Boeing soeben in die Wolkenschicht eintaucht, die Frankfurt an diesem Tage überzieht.

    Sie schließt die Augen und lässt sich vom Gemurmel des Piloten über Flughöhe und Route in einen ersten Schlaf hineintragen, während sie sich von Deutschland nicht nur äußerlich entfernt. Mindestens für ein Jahr wird sie nicht zurückkehren, vielleicht auch für länger. Wer will das schon wissen, bei all dem aufregend Neuen, dem sie entgegenfliegt. Ihre Atemzüge sind bereits tief und gleichmäßig, als der Dicke neben ihr Tomatensaft ordert.

    Die vielen Flugstunden haben aus der zufällig zusammengewürfelten Menge der Passagiere eine Art Gemeinschaft gemacht, die sofort nach der Ankunft in San Francisco in alle Himmelsrichtungen zerfallen wird. Aber noch sitzt man brav beieinander, hört sich die eine oder andere Geschichte an, macht einander höflich Platz auf dem Gang zur Bordtoilette, begutachtet Einkäufe aus dem Duty-Free-Wagen der Stewardess. Geduldig hat Karen immer wieder dem Palaver ihres dicken Nachbarn zugehört, einem Vater auf dem Weg zu seinem Sohn, der es sicher in den Staaten weiter bringen wird als sein Vater im kleinen Deutschland. Aber der Tabakladen des Alten hat immerhin das Studium ermöglicht!

    Karen hat einen bewundernden Gesichtsausdruck aufgelegt und dem unablässig redenden Dicken die Andeutung eines Lächelns geschenkt, während sie gleichzeitig erleichtert an ihre eigene Unabhängigkeit denkt. Niemandem war sie etwas schuldig. Sie war ihren Eltern zwar dankbar für die geruhsame Kindheit in Wald- und Seenähe, aber die Zwänge des ehemaligen DDR-

    Regimes wirkten noch weit in die nächste Generation hinein.

    Inzwischen wohnt Karen in Hamburg aber bereits in ihrer kleinen Wohnung, die sie sich mit einer Mitstudentin teilt. Mit Bafög und dem Job in der Kneipe hält sie sich recht und schlecht über Wasser. Von den Eltern bekommt sie hier und da ein kleines Paket mit Nahrungsmitteln. Mehr ist nicht drin, bei der Mindestrente, die der Vater bezieht und dem kleinen Gehalt der Mutter. Mehr will Karen auch gar nicht, sie ist froh, nicht zu viel danke sagen zu müssen.

    Und nun dieser Job! Dieses unglaubliche Glück, einen solchen Batzen Geld zu bekommen, das einem Sorglosigkeit für die nächsten langen Jahre garantierte! Und wer weiß, vielleicht könnte sie sich, wenn sie es geschickt anstellte, auch selbständig machen mit der Kohle. Mit einem kleinen Zeichenbüro, einer winzigen Agentur für winzige Geschäfte, die ja schließlich auch ein bisschen Werbung brauchen, konnte man doch anfangen. Sie müsste es nur in Ruhe angehen lassen können mit den Kunden, auch mal eine kleine Durststrecke überstehen. All das ist dann möglich mit dem Geld, das ihr bald gehören wird. Eine Kopie des Vertrages hat sie bei einem Notar hinterlegt. Wieder wallt dieses Glücksgefühl in ihr auf, und sie lächelt den Dicken neben sich daraufhin wirklich an.

    »Nicht wahr, das finden Sie auch?« nimmt er ihre Reaktion dankbar auf. Sie nickt und überlässt sich weiter ihren Gedanken, während der Nachbar unablässig auf sie einredet.

    Nach einem Zwischenstopp in Chicago rollt die Maschine wieder zur Startbahn. Interessiert nimmt Karen diesen Flughafen auf. In langen Schlangen schieben sich die bunten Flugzeuge der verschiedensten Airlines, darunter eine knallrote mit einem Apfel am Heck aus New York, mit brummenden Motoren zu den Startbahnen, und es geht Schlag auf Schlag nach allen Seiten in den wolkenlosen Himmel hinein. Gerade so, als zeichne ein Riese mit großen Strichen eine Tulpe in die Luft. Während sich die Boeing nun auf ihrer Startbahn in Position stellt, verfolgt Karen fassungslos, wie auf einer benachbarten Startbahn gerade eine Maschine abhebt, eine andere bereits dem Ende der Piste entgegen rast, während sich eine dritte schon wieder am Startbahnanfang in Stellung dreht.

    Zeitgleich mit dieser Maschine schleicht auch die Boeing wieder los, um rasch an Fahrt zu gewinnen und sich dann zur letzten Etappe dieser Reise in den blauen Himmel zu schrauben. Gottlob in die entgegengesetzte Richtung als die der synchron Gestarteten. Schaudernd sieht Karen unter sich die nächsten Flugzeuge im Start die Pisten entlangrasen.

    Mit einem Gefühl der Erleichterung, diesem Chaos entgangen zu sein, lehnt sie sich wieder in ihrem Sitz zurück.

    Sie denkt an die Zugreisen ihrer Kindheit zu den Großeltern in die Ferien. Wenn sie mit nassgeschwitzten Händen ihre Kinderzeitung zum fünften Mal las, weil sie für ein Buch viel zu aufgeregt war. Schon die Station Wittenberg war so unendlich weit fort von ihrem Zuhause gewesen und sie eine Weltreisende von zehn Jahren allein im Zug. Unvorstellbare Entfernungen hatte sie damals bis zu dem kleinen Städtchen Wurzen zurückgelegt, wenn sie dann endlich dem Leipziger Hauptbahnhof entgegenfiebern konnte, der ja tatsächlich etwas Großstädtisches hatte mit seinen riesigen Hallen, in denen sie sich so verloren vorgekommen war, wenn sich der Zug laut schnaufend und mit kreischenden Bremsen da hineinschob, und sie dieses bis in die Eingeweide bohrende Gefühl überkam, ihr Großvater könne den Bahnsteig nicht gefunden haben und sie sei dann ganz allein in diesen Hallen, wo die Tauben weit oben unter dem Glasdach schon so winzig aussahen. Ganz wie sie selbst, wenn sie mit wackligen Beinen die hohen Stufen der alten Eisenbahnwagen herunter stakte, ihren kleinen Koffer fest umklammert. Plötzlich dann umwogt von Menschenmassen mit Gepäckbergen, die alle einem gemeinsamen Ziel entgegen zu strömen schienen, nur sie selbst nicht, sie war verloren in dieser Betriebsamkeit, die nicht zu ihr gehörte und sie aussortierte wie einen Fremdkörper, an dem sich die Vorübereilenden stießen und sie zum Taumeln brachten. Solange bis der Großvater mit seinem weißen Haar wie ein Leuchtturm auftauchte, die Menge mit seinem gewaltigen Leib teilte und ihre kleinen Finger in seiner Schaufelhand barg, um sie dann wie eine Puppe sanft hinter sich herzuziehen. Dann war er die Lok und sie sein kleiner Wagen. Er bestimmte die Richtung, und sie konnte beruhigt das bunte Treiben um sie her beobachten, das mit einem Schlage seine Bedrohlichkeit verloren hatte.

    Niemals wieder hatte sie ein solches Gefühl der Sicherheit verspürt, mehr noch, in ihr verdichtete sich die Gewissheit, dass das unwiederbringlich in den Weiten der Kindheit verloren war.

    Sie erinnert sich deutlich an das kleine graue Gesicht, das einmal zu dem stolzen Mann gehört hatte, und das sich dann viele Jahre später von der Krankheit gezeichnet in die weißen Kissen grub. Damals hatte sie zum ersten Mal gespürt, dass niemand sie auf irgendeinem Weg hinter sich herziehen könnte.

    Das amerikanische Englisch des Piloten reißt Karen aus ihren Gedanken. Sie filtert heraus, dass die Maschine in wenigen Minuten zur Landung in San Francisco ansetzen wird. Sie schnallt sich an, während sie aus dem Fenster sehen kann, wie sich hinter der letzten Bergkette ein schier unendliches Häusermeer in die Hänge schmiegt, wie Glitzerndes ausgeschüttet aus einem Füllhorn. Das Flugzeug sackt tiefer dem Meer entgegen, das sich unter ihm ausbreitet, und auf dem eine bunte Menge von Booten und Surfern ihre Bahnen ziehen. Angesichts dieser märchenhaften Schönheit vergisst Karen zu schlucken, bis das Dröhnen in ihren Ohren unerträglich wird. Die Maschine hängt jetzt direkt über dem Wasser und reiht sich einige Etagen höher in das Heer der Surfer ein und tastet nach der Piste. Karen vergisst zu atmen. Da ist doch keine Landebahn! Unter ihnen ist Wasser – sie rasen schon darauf! Karen presst die Hände auf die Augen und spürt den Ruck, der durch die Maschine geht. Starr vor Angst wartet sie auf Sirenen und Menschenschreie. Als sie den Applaus der Passagiere hört, öffnet sie vorsichtig die Augen, sieht Flughafengebäude an sich vorüberziehen und das Meer, aus dem die Piste zu kommen scheint. Und da ist es plötzlich wieder, das wacklige Gefühl aus der Kindheit in ihren Beinen. Unsicher schraubt sie sich aus ihrem Sitz und hebt die Arme, um ihre Tasche aus dem Gepäckfach zu nehmen. Auch der Dicke fischt nach seinem Handgepäck. Höflich will er ihr den Vortritt lassen.

    «Danke, lassen Sie nur«, wehrt sie ab. Soll er doch seine ebenso dicke Reisetasche zuerst da herauszerren. Sie hat keine Eile. Dagmar Assner wird hier am Flughafen auf sie warten. Da ist sich Karen ganz sicher und verspürt das leidige Gefühl in ihren Knien nicht mehr.

    Dagmar Assner, diese elegante Frau, deren Stil und Weltgewandtheit Karen vom ersten Moment ihres Kennenlernens bewunderte und die mit der Entscheidung, die kleine Studentin aus den neuen Bundesländern für den Job zu nehmen, dem Selbstbewusstsein Karens einen entscheidenden Kick gegeben hatte. Stolz wirft sie den Kopf in den Nacken, lächelt dem Flugpersonal zu und betritt die Schleuse, um zum ersten Mal in ihrem Leben den Fuß auf amerikanischen Boden zu setzen.

    Inmitten eines Pulks von Menschen, die aus verschiedenen Maschinen dem Ausgang entgegen strömen, bewegt sich Karen vorwärts, den Koffer schwer am Arm. Sie hat keinen dieser leichten Plastikdinger, die man an Rollen hinter sich herziehen kann. Bisher hatte es auf allen ihren Reisen stets der große Rucksack getan. Den Koffer hier, der nur das – wie es geheißen hatte – Nötigste beherbergen sollte, hat sie sich von der Mutter geborgt. Ein unauffälliges hellbraunes Etwas, in dem tatsächlich noch eine Menge unterzubringen gewesen war. Sie hatte doch eine ganze Reihe ihrer Sachen mitgenommen, auch wenn ihr versichert worden war, dass sie sich während ihres Aufenthaltes in den USA keine Sorgen um derartige Dinge zu machen brauchte. So vollständig wollte sie sich eben doch nicht dem ausliefern, das da auf sie zukam.

    Karen sieht jetzt die Gasse, die sich vor dem Ausgang in die Halle gebildet hat, und aus der sich ständig jemand löst um mit lautem Geschrei, selten mal ganz still, einem der Ankommenden in die Arme zu fallen. Alles scheint ihr hier sehr viel lauter zu sein als in Deutschland, vielleicht aber ist es auch nur die Erschöpfung, die sie doch verspürt nach dem langen Flug.

    Durch zwei sich Umarmende hindurch sieht Karen am Ende der Gasse Dagmar Assner stehen. Im gleichen Augenblick hebt die Frau die Hand mit einer gerollten Illustrierten und winkt Karen erfreut zu. Karen winkt zurück und schiebt sich durch die Menge der Ankommenden und Wartenden auf die Frau zu, die in ihrem cremefarbenen Kostüm eine Art Ruhepol in diesem Wirrwarr an Buntheit bildet.

    »Wie schön, dass Sie da sind, Karen. Hatten Sie einen guten Flug?« Ein wärmender Blick trifft sie aus den hellgrauen Augen. Karen nickt. »Danke, ja, es war alles sehr aufregend.«

    Das anfängliche Gefühl der Beklommenheit beginnt sofort zu weichen, als Dagmar Assner nach dem Koffer greift.

    »Ich bitte Sie, Frau Assner, das kann ich doch selbst«.

    »Nein, nein, lassen Sie nur, Sie haben einen anstrengenden Flug hinter sich, während ich hier schon freie Tage genießen konnte. Sie haben da einiges nachzuholen, Karen.«

    Sanft aber bestimmt war der Koffer aus Karens Hand in der Dagmar Assners gelandet. »Hier, sie können gern die Zeitung tragen. Auch die haben ein ganz schönes Gewicht heutzutage.«

    Karen lächelt die Frau an, die es in ihrer direkten Freundlichkeit wieder einmal geschafft hatte, dass kein Gefühl der Fremdheit zwischen ihnen aufkommen konnte.

    »Hier entlang«, dirigiert Dagmar Assner, platziert mit einem schwungvollen Bogen den Koffer auf einem Rollwagen und füttert diesen mit einem Geldstück. »Dann wollen wir mal sehen, ob wir mein Auto wiederfinden, okay?«

    Als Karen den riesigen Parkplatz vor sich auftauchen sieht, seufzt sie auf. »Ich würde es hier wohl niemals wiederfinden.«

    Dagmar Assner lacht auf und schüttelt dabei ihr fuchsrotes Haar, das in großen weichen Wellen auf ihre Schulter fällt. Verschmitzt zwinkert sie Karen zu. «Keine Sorge, ich habe meine Tricks, und Ihnen werde ich ein paar verraten, Karen.«

    Karen zwinkert zurück und folgt der Frau, deren Tricks sie ohne sich lange bitten zu lassen gern beherrschen würde, durch die Parkplatzreihen zu einem dunkelblauen Mercedes-Cabriolet.

    Als sie nur wenig später auf den vielspurigen Highway einbiegen, ertönt ein leises Summen und wie von Geisterhand schiebt sich das Dach des Wagens zusammen, um dann mit einem Klicken hinter den Insassen im Inneren der Karosserie zu verschwinden. Karens Erstaunen über soviel technisches Raffinement wird förmlich weggeblasen vom Fahrtwind, der ihr augenblicklich um den Kopf weht.

    »Wenn es Ihnen zieht, Karen, im Handschuhfach finden sie Kappe oder Tuch. Ganz wie Sie wollen.«

    Karen öffnet das Handschuhfach. Sie wählt die Kappe, durch deren hintere Öffnung sie ihren Pferdeschwanz ziehen kann, woraufhin die Kopfbedeckung festen Halt bekommt. Keck schaut sie zur Fahrerin. »Na, wie sehe ich aus?«

    »Wer sagt es denn? California life im Handumdrehen!« Jetzt lacht die rothaarige Frau ausgelassen wie ein Schulmädchen und das abendliche Licht verleiht nun auch ihrem Gesicht einen rötlichen Schimmer. Die Sommersprossen auf dem Nasenrücken und dieses fröhliche Lachen lassen die Mittvierzigerin wie eine der Kommilitoninnen Karens aussehen.

    Sie freut sich, denkt Karen, und wieder ist da ein Anflug von Stolz, dass die Freude dieser tollen Frau etwas mit ihr, mit Karen, Studentin für Kunst und Design in Hamburg zu tun hat.

    Karen atmet tief ein, legt den Arm auf die Tür und stützt ihren Kopf in die Hand. Sie genießt jetzt den warmen Wind, der ihr Gesicht umspielt, und der den Geruch des Meeres mit sich bringt. Die rötliche Abendsonne scheint zwischen riesigen Palmen hindurch und spiegelt sich wie ein Meer von Flammen in den Fenstern der Hochhäuser, die Karen auf sich zukommen sieht.

    »You get it«, verkündet ein riesiges Werbeplakat rechts des Highways. »Yes«, denkt Karen und gibt sich dem Gefühl des Ankommens hin.

    »Wir werden über die Golden Gate fahren.«

    Karens Müdigkeit ist wie weggeblasen. »Tatsächlich?«

    »Jeder, der nach San Francisco kommt, sollte sie gesehen haben. Wir nehmen ohnehin den Highway One über Santa Cruz .«

    In Karen breitet sich ein Gefühl der Leichtigkeit aus, eine Art Schwebezustand, gleichsam als habe der Flug über den Teich noch nicht aufgehört, und sie würde die nächsten Monate immer so weiterfliegen von einem Ereignis zum nächsten. San Francisco musste die Stadt sein, die sie in ihren Träumen immer gesehen hatte, hier waren die Hochhäuser Paläste und alle Straßen endeten an Plätzen, auf denen die Menschen in fröhlichen Gruppen zusammenstanden, um sich die freundlichsten Dinge zu erzählen. Selbstverständlich lächelnd, denn Tränen gab es nicht im Paradies. Unwillkürlich lächelt auch Karen, als sie sich bei diesen Gedanken ertappt.

    Das Auto nimmt eine Kurve und da erhebt sie sich auch schon majestätisch, die goldene Brücke, durch deren gewaltige Pfeiler man hindurchfährt, als passiere man das Tor zum Land der Riesen.

    »Aber sie ist rot?«. Karen schüttelt erstaunt den Kopf.

    »Natürlich«, entgegnet Dagmar Assner, »Rot ist doch die Farbe des Herzens.«

    »Wenn Großmutter besonders gut zu uns sein wollte, nannte sie uns ‘Gold’.«, erinnert sich Karen.

    »Sehen Sie, Karen, wie ähnlich die Menschen sich doch sein können«.

    Unter ihnen breitet sich jetzt wieder der Pazifik aus, die weißen Schaumkronen der Wellen und die bunten Segel zum Schmuck angelegt. Karen sieht das zweite Tor der Brücke auf sich zukommen und die Skyline der Stadt hinter dem Meer. »Wahnsinn«, flüstert sie.

    »Man kann sich nicht satt sehen. Mir geht es immer wieder so wie Ihnen«, antwortet Dagmar Assner.

    Als die Dämmerung langsam hereinbricht, sind sie auf dem Highway One und haben San Francisco längst hinter sich gelassen. Die Straße schlängelt sich am Meer entlang und gibt den Blick frei auf die Steilküste, an die schäumend die Wellen branden.

    Karen schmeckt das Salz des Wassers förmlich auf der Zunge.»Jetzt ein Bad, das wär’s!«

    »Hier kämen wir kaum hinunter. Und die Steilküste ist mit dornigem Gestrüpp bewachsen«, entgegnet Dagmar Assner.

    »Wie hoch wird sie sein?« fragt Karen.

    »Vielleicht fünfzig Meter. Aber keine Sorge, Karen, Sie werden noch ausgiebige pazifische Bäder nehmen können. In der Gegend um Monterey haben wir schönste Strände.«

    »Wahrscheinlich sind die Wellen heute auch zu hoch«, sagt Karen.

    »Da können Sie sicher sein. Selbst dort, wo man Wellenreiter sieht, kann man als Gelegenheitsschwimmer oft nicht hinein. Es wäre selbstmörderisch. Dieser Ozean ist nicht umsonst der größte der Welt.«

    Bewundernd schaut Karen die Steilküste entlang, diesen Wall, den das Land wie zum Schutz vor der Gewalt des Wassers vor sich aufgetürmt hat. Hier und da tupfen bereits Lichterpunkte in die aufziehende Dunkelheit.

    Sie erreichen Santa Cruz. Scheinbar hat sich das Land bereits mit dem Wasser versöhnt, schiebt sich nur noch leicht hügelig ins Meer und lässt die Wellen sanfte Buchten graben.

    Jedoch streift auch hier das Heulen des Windes, der von weit draußen kommen muss, wie eine stete Warnung über das Ufer.

    Aus dem Autoradio klingt ein leicht melancholischer Sound. »This is your land …«, verspricht Bruce Springsteen, und Karen würde es gern glauben. Doch in all diesen Traum von einer Ankunft in einem völlig anderen Leben mischt sich plötzlich Furcht. Karen versucht die Gedanken wegzuschieben, setzt ihre Zuversicht, das vor ihr liegende Jahr zu packen und mit dickem Portemonnaie heimzukehren, dagegen. Sie ruft sich zurück, wie sie nach der Bestätigung Dagmar Assners, sie sei unter vielen ausgewählt worden, den ganzen Weg nach Hause gelaufen war, weil sie sich mit dieser Zuversicht, die sie da erfüllt hatte, in der

    S-Bahn wie ein Tiger im Käfig gefühlt hätte. Doch das Gefühl der Furcht lässt sich nicht verdrängen, und langsam keimt in Karen die Ahnung, dass sie eine Art Grenze vor sich hat, und nicht weiß, wie die Welt dahinter aussehen wird, ob es einen lebbaren Platz für sie darin gibt.

    Als hätte Dagmar Assner in Karens Gedanken lesen können, streicht sie ihr leicht über die Hand, die in Karens Schoß liegt.

    »Sie werden sich schnell heimisch hier fühlen. Die Amerikaner sind ganz nette Leute, glauben Sie mir.«

    Karen will etwas entgegnen, aber der Kloß in ihrem Hals lässt es nicht zu. So nickt sie nur schnell und schaut angestrengt nach vorn, wo bereits die Lichter von Monterey auftauchen.

    »Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen, Karen, es ist eines der schönsten Zimmer des Hauses.« Dagmar Assner lächelt Karen aufmunternd zu und wendet sich dann an das Mädchen, das ihnen mit dem Koffer gefolgt war. »Danke, Maria, stell den Koffer dort auf die Bank.« Das Mädchen mit den dunklen Augen und den noch dunkleren Haaren, die sie mit einem Haarreif streng nach hinten geschoben hat, nickt, und verlässt darauf den Raum. »Und ich werde Sie jetzt auch allein lassen. Wir sehen uns morgen zum Frühstück.«

    Leise zieht sich Dagmar Assner zurück und wendet sich an der Tür noch einmal um. »Gute Nacht, Karen, schlafen Sie gut«.

    »Danke, Frau Assner, Sie auch.« Und wie zur Bestätigung, die Unsicherheit hinter sich gelassen zu haben, richtet sich Karen sehr gerade auf und wendet sich noch einmal zur Tür.

    »Frau Assner?«

    »Ja?«

    »Ich freue mich, dass ich hier bin.«

    »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Karen, dass Sie mir helfen werden.« Sehr zerbrechlich sieht sie auf einmal aus und die hellgrauen Augen, die dem Gesicht so oft diesen strahlenden Ausdruck verleihen, haben einen Anflug von Müdigkeit. Und fast so, als sei ein kleines Licht darin ausgegangen, heben sich jetzt die Falten um die Augen deutlich hervor.

    Die Frauen nicken einander zu, und Dagmar Assner schließt leise die Tür. Karen steht noch für einige Sekunden mit dem Blick in diese Richtung, bevor sie sich langsam umdreht, um das Zimmer in Ruhe aufnehmen zu können.

    Karens erster Blick beim Betreten des Raumes war auf die Fensterfront gefallen, und tatsächlich sind es die bis zum Boden reichenden Scheiben, die dem Zimmer sofort einen offenen Charakter verleihen. Dieser Eindruck wird noch unterstrichen durch die Helligkeit der Farben, vorherrschend weiß. So auch die Schränke an der einen Längsseite des Raumes, die vollständig in die Wand eingelassen sind und eher wie Zimmertüren auf Karen wirken. Sie öffnet mehrere davon und muss angesichts des Volumens, das sich da vor ihr auftut, unwillkürlich lachen. Welche Berge von Kleidung und Wäsche musste man besitzen, wenn man die füllen wollte? Vermutlich hätte schon ihr ganzer Koffer auf einem der Bretter bequem Platz. Karen wandert weiter in den Raum hinein und lässt sich rückwärts auf ein mehrsitziges, hell geblümtes Sofa fallen. Die weichen Kissen geben unter ihr nach und ein leises zischendes Geräusch ist zu vernehmen. »Mach mal halblang«, kichert Karen in die Kissen, »noch bin ich doch wohl ein Leichtgewicht. Wie wird das dann in fünf oder sechs Monaten klingen?« Sie seufzt und ihr Blick richtet sich an die Zimmerdecke, wo ein weißer Ventilator tonlos seine langsame Runde dreht. Karen lässt den Blick weiter wandern und wieder wird er angezogen von der alles bestimmenden Fensterfront, durch die Lichter von draußen dringen. Schnell springt Karen wieder auf und tritt an die Scheiben. Fast verschlägt es ihr den Atem, als sie von oben auf den mit Lampen umgebenen Swimmingpool schaut. Das Leuchten des hellblauen Wassers trotzt der Dunkelheit, wirft wa bernde Schatten auf die Pflanzen der Beete, die bis dicht an das Becken reichen. Über den Garten verteilt tauchen Lampen so weit man sehen kann alles in einen warmen Schein, und all diese Lichtpunkte vermischen sich mit denen, die vom Horizont herüber blinken. Karen zwinkert mit den Augen, als diese Punkte zu tanzen beginnen. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie todmüde ist. Kein Wunder, schließlich ist sie bereits vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, Klima-und Zeitumstellung inklusive. Suchend wendet sie sich wieder in den Raum. In einem Alkoven, durch ein Podest erhöht, entdeckt sie das Bett, das mit seiner einladenden Größe regelrecht nach ihr zu rufen scheint.

    Sie fischt in ihrem Koffer nach der Tasche mit den Waschutensilien und begibt sich zu der Tür, hinter der sie das Badezimmer vermutet.

    Richtig geraten, die Tür öffnet sich zu einem Nassbereich, der gut und gern eine fünfköpfige Familie zufriedenstellen würde. In einer Ecke eingelassen im Boden eine Wanne, in der sich auch die ganze Familie versammeln könnte. Ein Stück weiter eine Duschkabine und abgetrennt hinter einer kleinen halbhohen Kachelwand die Toilette. Karen huscht in die Dusche und genießt rasch, wie der Reisestaub von ihrem Körper wäscht.

    Beim Zähneputzen überlegt Karen noch, dass ihr Hamburger Badezimmerchen hier wohl mehrere Male hineinpassen würde. Doch für derartige Überlegungen fehlt ihr eigentlich die Kraft, und so flüchtet sie sich zu dem Bett, das ihr in der vor ihr liegenden Zeit hoffentlich schöne Träume bescheren würde. Da das Bett in Fensternähe steht, schließt sie die Vorhänge auf dieser Seite des Raumes, gleitet unter die an einer Seite schon einladend aufgeschlagene Bettdecke und ebenso rasch in tiefen Schlaf.

    2. Kapitel

    Als Karen erwacht, ist es bereits heller Tag. Sie musste fest und traumlos geschlafen haben. Zumindest kann sie sich an keinen Traum erinnern. In der Gewissheit, dass dies ein gutes Vorzeichen sein musste, streckt sie sich kurz und laut gähnend, schlägt unternehmungslustig die Bettdecke zurück und hüpft aus dem Bett. Wieder wird sie magisch angezogen von der großen Glaswand, durch die helles Sonnenlicht ins Zimmer scheint. Und da durchzuckt es sie wieder, dieses Glücksgefühl, die nächsten vielen Monate in Kalifornien zu sein und den Grundstein für eine gesicherte Zukunft legen zu können. Schon durch das Glas spürt sie die Wärme der Sonne, als sie ans Fenster tritt. Wie eine grüne Oase breitet sich der Garten, in dem Palmen das Bild beherrschen, vor ihr aus. Am Pool, von dessen Wasser auch im Tageslicht ein Leuchten ausgeht, steht Dagmar Assner, tropfnass von ihrer morgendlichen Schwimmrunde. Während sie ihr Haar frottiert, schaut sie nach oben, und die Blicke der Frauen treffen sich. Mit den nassen roten Locken, die sich jetzt kleiner kräuseln, scheint sie ihr Winken zu untermalen. Jetzt macht sie eine Drehbewegung mit der Hand und deutet dabei immer zu ihr hinauf. Karen schaut suchend vor sich und entdeckt die Glastür, die sie öffnet, und durch die sie auf eine schmale Veranda treten kann, die sie am Abend gar nicht bemerkt hatte. Von der Veranda führt eine Treppe nach unten in den Garten.

    »Kommen Sie, Karen, nehmen Sie jetzt Ihr Bad. Der Pazifik kann noch warten« Wieder winkt Dagmar Assner zu Karen hinauf, und ihr unternehmungslustiger Ton verfehlt seine Wirkung nicht.

    »Bin gleich da«, ruft Karen und stürzt ins Zimmer zurück, ihren Badeanzug überzustreifen. Gibt es eine schönere Arbeit als eine, die wie Ferien ist, denkt sie noch, und springt vergnügt die Treppe hinunter, um sich auch gleich in das Becken gleiten zu lassen. Mit einigen kräftigen Schwimmstößen erreicht sie die Mitte, dreht sich auf den Rücken und lässt die Außenfront des Hauses auf sich wirken. Strahlend weiße Fassade, mächtige Glasfenster, so wie ihres also noch viele weitere; im unteren Bereich des Hauses eine riesige Terrasse mit weißen Korbmöbeln. Große geöffnete Glastüren, durch die der Blick ins Innere fällt. Sie entdeckt einen Außenkamin mit schweren Holzscheiten, die fein säuberlich daneben aufgeschichtet liegen. Überall auf der Terrasse auch große Grünpflanzen, vorwiegend Palmen in massigen Bottichen, dazwischen Figuren, eigenartige Tierskulpturen oder auch Phantasiegestalten. Karen hat Recht behalten. Dieses Haus übersteigt ihre Erwartungen, die es auf den Fotos, die sie in Hamburg gesehen hatte, wecken sollte, um ihr den Job im besten Lichte erscheinen zu lassen.

    Zufrieden sieht Dagmar Assner vom Beckenrand zu, wie Karen voller Energie unter Wasser taucht, um prustend wieder hochzukommen. »Ich werde Maria sagen, dass wir gleich frühstücken«, ruft sie der Auftauchenden zu und betritt das Haus.

    Karen schüttelt den Kopf, als sie sich die zweite Tasse Tee eingießt. »Das gibt es doch nicht. Ich merke erst jetzt, dass man von hier auch das Meer sehen kann!«

    »Gestern Abend war es schließlich dunkel«, beschwichtigt Dagmar Assner, die in ihrem hellblauen Hosenanzug wieder einen sehr jugendlichen Eindruck macht. Wie weggeblasen scheint die gestrige Müdigkeit, die ihr jenen Anflug von Sorge ins Gesicht geschrieben hatte.

    »Heute morgen war es aber hell genug.« Karen nimmt den letzten Bissen ihres Toasts, den sie sich dick mit Honig bestrichen hatte.

    »Der Garten ist groß und das Meer ist schon noch ein paar Meter weg.«

    Dagmar Assner hat ihre Mahlzeit bereits beendet und schenkt sich noch Kaffee nach.

    Karen lehnt sich zurück und atmet in einem Stoß aus. »Sie müssen sehr glücklich sein,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1