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Gipfelgespräch: Roman
Gipfelgespräch: Roman
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eBook134 Seiten2 Stunden

Gipfelgespräch: Roman

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Über dieses E-Book

Das Leben ist ein Berg, mit seinen Höhen und Tiefen. Auf dem Zenit ihres Lebens unternimmt eine Frau eine Wanderung. Und begegnet sich selbst. Die Stimmen der Vergangenheit verbinden sich zu einem Gespräch über das Leben, darüber Frau zu sein, Frau in diesem Leben zu sein. Was anderen Midlife-Krise ist, führt sie als Gipfelgespräch. Unbewusstes wird bewusst. Vergessenes erinnert. Aus einem Chor von Erinnerungen und Reflexionen, alltäglichen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen entsteht das Abbild eines weiblichen Bewusstseins im 21.Jahrhundert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Feb. 2021
ISBN9783831910441
Gipfelgespräch: Roman

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    Buchvorschau

    Gipfelgespräch - Andrea Paluch

    machen?

    In dem Moment, als die Kinder nicht mehr bei ihr wohnten, war ihr austariertes Leben zu Ende. Fast zwei Dekaden lang waren die Waagschalen voll gewesen. Jetzt war eine davon leer und schnellte nach oben. Die andere wurde zu Ballast. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihr Leben hatte Schlagseite bekommen. Sie musste etwas in die leere Waagschale werfen, damit es wieder ins Gleichgewicht kam. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Statistisch gesehen würde sie noch vierzig Jahre leben. Zu lange, um nur Lücken zu füllen. Sie hatte Querflöte zu spielen gelernt, Sprachen und Literatur studiert, bestimmt tausend Bücher gelesen, zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern bekommen. Und jetzt gab es da diese Leerstelle. Wohin mit ihrer Zeit und Kompetenz? Was konnte sie eigentlich? Was konnte sie eigentlich tun? Genau genommen, war es geboten, sich zivilgesellschaftlich oder politisch zu engagieren. Das hatte sie jedoch erst nach den letzten zwanzig Lebensjahren verstanden. Als ihr Doktorvater ihr bei der Urkundenüberreichung gesagt hatte, sie gehöre nun zur intellektuellen Elite, war ihr das peinlich gewesen. Sie hatte die in diesem Satz implizierte Verantwortung nicht verstanden, ja, noch nicht einmal wahrgenommen. Alles was sie gehört hatte, war ein Kompliment. Verantwortung war ihr weit weg vorgekommen und erst konkret geworden, als sie Kinder bekam. Und da diese nun in ihr eigenes Leben aufgebrochen waren, konnte die Gesellschaft zu ihrem Recht kommen. Hatte die Gesellschaft überhaupt ein Recht? Wollte sie ihre Zeit wirklich mit Leuten verbringen, die sie sich nicht aussuchen konnte?

    Damit hatte sie nicht gerechnet. Allein zu sein, hatte etwas bei ihr ausgelöst, unerwartet heftig und unkontrollierbar. Sie fühlte sich verlassen, blutete von innen. Dieser Zustand musste aufhören.

    Aus der leeren Wohnung zu fliehen und die neue Situation zu verarbeiten, waren wahrscheinlich die ersten richtigen Schritte. Ihre Kollegin hatte ihr schon oft vom Bergwandern vorgeschwärmt. Sie war Mitglied im Alpenverein und nahm regelmäßig an angebotenen Touren teil. Die Fotos, die sie hinterher zeigte, waren jedes Mal phänomenal. Gipfelketten und Panoramablicke über riesige Felsmassive. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, es einmal zu probieren. Eine Gruppenreise kam für sie allerdings nicht infrage. Grundsätzlich nicht, in dieser aktuellen Gemütslage jedoch schon gar nicht. Sie würde sich alleine freikämpfen. Zum Glück war gerade vorlesungsfreie Zeit und sie konnte los.

    Sie setzt sich an den Computer und sucht nach Reiseverbindungen. Seit der Coronakrise sind die Flugpläne ziemlich ausgedünnt. Trotzdem findet sie einen Flug für den übernächsten Tag. Zwar wäre sie am liebsten sofort am nächsten Morgen abgereist, aber vielleicht war etwas Zeit für die Vorbereitung gar nicht schlecht.

    Sie wollte nicht viel tragen, so viel war klar. Wahrscheinlich war es am besten, sie nahm den Daypack, den sie sich für die Städtetour mit den Kindern nach London gekauft hatte. Sie hatte immer den Lastesel gespielt und Jacken, Wasser, Bonbons und Taschentücher für alle dabeigehabt. Die Hüftgurte an dem Rucksack hatten sie von Anfang an gestört, im Alltag waren die völlig unpraktisch. Deshalb war sie ein paar Mal kurz davor gewesen, sie abzuschneiden. Aber etwas Intaktes zu zerstören, brachte sie nicht übers Herz. Nun ist sie froh darüber, es nicht getan zu haben. Ihre alten Wanderschuhe hat sie auch noch. Zuletzt hat sie die im Studium benutzt, es klebt noch gelber Lehm aus einem anderen Leben in den Ritzen. Das Profil ist deutlich abgelaufen und eine Naht droht sich aufzulösen. Doch für ein paar Tage müssen die reichen. Nun fehlt ihr nur noch eine Jacke, leicht, warm, wind- und wasserabweisend. Und ein Jugendherbergsschlafsack. Das wird sie noch kaufen müssen. Wanderstöcke kann sie sich von ihrer Kollegin leihen.

    Es fühlt sich wunderbar befreiend an, nur die allernötigsten Sachen einzupacken. Unterhosen nehmen nicht viel Platz weg, davon gönnt sie sich eine für jeden Tag. Socken ebenso. Ein T-Shirt zum Schlafen. Eine Jogginghose, falls es kalt wird. Den Rest hat sie auf der Reise an. Dann ein kleines Handtuch. Die Zahnbürste, eine Zahnpasta-Probe aus der Apotheke, etwas Creme abgefüllt in ein kleines Pöttchen, ein Mini-Shampoo aus einem Hotel, alles in eine Klarsichttüte. Was noch? Tampons und Schmerztabletten. Eine Rolle Klopapier. Und sonst? Ein dünnes Buch würde bestimmt auch gehen. In ihrem Stapel noch zu lesender Bücher steckt Ophelias poetischer Lebensbericht von Paul Griffiths. Es ist ein Monolog, für den Griffiths ausschließlich die 481 Wörter benutzte, die Shakespeare Ophelia im „Hamlet" zugestand. Und trotzdem, oder gerade deswegen, wirkte die entworfene Seelenlandschaft sehr intensiv. Die sprachliche Begrenzung drängte sich nicht auf, lief unbewusst mit. Sie sieht hinab auf ihren Rucksack. Fehlte noch etwas? Na klar, Wasserflaschen. Sie muss über sich selbst den Kopf schütteln. Fast hätte sie das Wichtigste vergessen.

    Sie fährt mit dem Bus zum Bahnhof. Eine hübsche junge Frau mit Zwillingskarre steigt ein. Die Kinder sind extrem süß und schauen sich mit großen dunklen Kulleraugen um. Die Mutter ist etwas hektisch, sie will unbedingt ganz schnell nach vorne zum Fahrer, um eine Fahrkarte zu kaufen. Sie ist beinah übermotiviert. Auf ihr scheint eine unglaubliche Bringschuld zu lasten. Kaum hat sie die Bremse der Karre arretiert, ist sie auch schon auf dem Weg. Der Bus fährt an und sie torkelt dem Fahrer entgegen. Alle Fahrgäste sehen ihr dabei zu. Auf dem Rückweg fällt sie fast einem Rentner auf den Schoß, den sie zuvor schon angerempelt hat. Sie entschuldigt sich mehrfach, der Rentner lacht und winkt beschwichtigend ab. Er findet das anscheinend nicht schlimm, die Frau aber offenbar sehr wohl. Die ganze Situation ist extrem unangenehm. War die Frau so beflissen, weil sie dunkelhäutig war und ein Kopftuch trug? Fühlte sie sich dazu verpflichtet, besonders korrekt zu sein, weil sie anders aussah als alle anderen im Bus? Zeichnete ihr offensichtlich angeborenes Alltagsdeutsch sie nicht als Deutsche aus? Wahrscheinlich war ihr klar, dass alle sie als Ausländerin wahrnahmen. Und vermutlich hatte sie das schon öfter erlebt. Was müsste anders sein, damit die Situation nicht so angespannt wäre? Vielleicht gab es ein grundsätzliches Missverständnis, dass in einer Demokratie die Mehrheit im Recht war. Das Recht der Mehrheit bedingte jedoch die Pflicht, Gerechtigkeit für jeden Einzelnen zu garantieren.

    Sie ist etwas zu früh am Bahnhof und kann in aller Seelenruhe zu ihrem Zug schlendern, der schon am Bahnsteig wartet. Die Pendler sind seit einer Stunde weg und nur wenige Reisende sind unterwegs. Geschenkte Zeit. Eine Pause wie Atem anhalten, ein Moment der Stille, bevor die Reise Fahrt aufnimmt.

    Es ist ein Doppeldeckerzug, leer wie der Bahnsteig. Sie hat freie Platzwahl und entscheidet sich für oben. Von dort sieht die Welt ein wenig anders aus als sonst, die Perspektive ist erhaben. Sie mochte es, gegen das Bahnsteigdach zu schauen. Rechteckiges Milchglas, durchzogen mit einem Drahtgitter wie die Haustür ihrer Kindheit. Die senkrechten Scheiben sind mit einer fetten Kittschicht an den Holzsprossen befestigt, die in dem Blau der Rahmen übermalt sind. Obwohl der Farbton verblichen ist, kann sie sich vorstellen, wie er ursprünglich ausgesehen hat. Die Farbe endet erst etwa zwei Zentimeter auf dem Glas, ein Abschluss, der den unebenen Kittstreifen kaschiert. Alle paar Meter ragen vier Hutmuttern aus dem Holz, symmetrisch unter einer Sprosse, zwei rechts, zwei links davon. An diesen Stellen mündet die Farbe auf dem Glas in kleine Dreiecke, die zu den äußeren Muttern auslaufen. Alles hat Prinzip. Kleinigkeiten werden berücksichtigt, an einer Stelle, die eigentlich keiner sieht. Aber auch: dicke Vogelkacke, mitten auf einer Glasscheibe, die hinunterläuft und auf der verblichenen Farbe dunkle Streifen hinterlässt. In den Ecken der Sprossen sammelt sich brauner Staub. So viel Sorgfalt und Ordnung, dem Verwittern preisgegeben.

    Als der Zug losfährt, bewegt er sich in die falsche Richtung. Erst ist sie ungläubig, dann mischt sich Orientierungslosigkeit mit Schreck. Was sollte sie tun? Sie rafft ihre Sachen zusammen und eilt durch den menschenleeren Zug Richtung Lok. Sie klopft an die Tür der Fahrerkabine. „Warum fahren wir rückwärts?, ruft sie mit leicht alarmierter Stimme. „Der Zug fällt aus. Ich komme gleich, gibt es zur Antwort. Während der Fahrt auf das Abstellgleis denkt sie tausendmal „Verdammter Mist. Ihr Herzschlag beruhigt sich wieder. Sie ist rechtzeitig zum Flughafen aufgebrochen, sodass ihr genug Zeit bis zum Abflug bleibt. Das macht sie immer so. Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, zum Beispiel im Abstellgleis landen. Ihre Kinder lachen sie dafür immer aus. Der Zug hält und ein blasser Lokführer öffnet die Tür der Fahrerkabine. „Ich nehme Sie über das Gleisbett zurück zum Bahnhof, sagt er. „Bleiben Sie bei mir. – „Ist der Zug kaputt?, fragt sie. „Mir ist schwindelig, ich schaffe es nicht einen Bahnhof weiter, sagt der Lokführer. Sie springen aus dem Zug und laufen eine gefühlte Ewigkeit an den Gleisen entlang. Dem Lokführer schien es echt schlecht zu gehen, denn er ging sehr langsam. Als sie endlich sein Auto am Bahnhofsgelände erreichen, fragt sie: „Schaffen Sie es nach Hause? Der Lokführer nickt matt. „Na dann vielen Dank und gute Besserung", sagt sie und marschiert rasch weiter Richtung Bahnsteig. Zweiter Anlauf.

    Sie erreicht den nächsten Anschluss und sitzt zunächst wieder alleine oben im Zug. Aus dem Fenster an dem benachbarten Vierersitz sieht sie auf die blaue Bedachung. Ein pickliger Teenager kommt hoch, bemerkt sie und wählt den Sitz, über den sie gerade hinausschaut. Von allen möglichen Plätzen wählte er genau den in ihrem Blickfeld. Merkwürdig. Ihr Sohn hätte genau diesen Platz vermieden und sich so weit weggesetzt wie möglich. Der Teenager holt einen vergilbten Kinderbuchklassiker hervor und vertieft sich demonstrativ in das Buch. Er starrt auf die Seiten, ohne zu lesen, als posiere er vor ihr. Er wollte gesehen werden. Sie dreht den Kopf weg, schaut aus dem Fenster auf ihrer Seite und betrachtet die Reisenden am Bahnsteig gegenüber. Als dort der Zug einfährt, überkommt sie ein plötzliches Glücksgefühl. Woran lag das? Vielleicht, weil alle auf dem Bahnsteig gleichzeitig in Bewegung geraten. Aufbruchsstimmung. Zwei Leute setzen sich hinter sie und unterhalten sich, eine ältere Frau mit verrauchter Stimme und eine Schülerin. „Hast du schon mal ein Praktikum gemacht, oder ist das dein erstes?, fragt die ältere Frau. Das Mädchen antwortet: „Wir müssen in der Schule zwei Praktiku… Praktik… Es sucht nach der richtigen Form und kommt nicht drauf. Da springt ihr die ältere Frau zur Seite und sagt mit gütiger Stimme: „Praktikas." Ihr Glücksgefühl schlägt um in Heiterkeit. Sie muss lachen. Das hat sie schon lange nicht mehr getan, es kommt ihr ganz ungewohnt vor. Und so alleine irgendwie auch deplatziert.

    Sie war schon immer viel Zug gefahren. Als Studentin hatte sie stets versucht, Plätze

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