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Das rote Nachthemd
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eBook431 Seiten5 Stunden

Das rote Nachthemd

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Über dieses E-Book

F.L. hat sein ganzes Leben als Arzt gearbeitet. Jetzt ist er alt und denkt über sein Leben nach. Die alten Bilder erscheinen vor ihm.. Er versucht, sie zu ordnen. Und er denkt darüber nach, wie manches hätte anders sein können. Und er beschreibt, was die, denen er begegnet ist, schreiben würden über das, was er mit ihnen erlebt hat.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Okt. 2016
ISBN9783738087468
Das rote Nachthemd

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    Buchvorschau

    Das rote Nachthemd - Florian Lettre

    1.Splitter

    Florian hatte über vierzig Jahre als Arzt gearbeitet. Jetzt hatte er Ruhe. Sein Leben erschien vor ihm. Ungeordnet. Es gefiel ihm, die alten Sachen wieder zu sehen. Die schönen und die nicht so schönen. Und die traurigen. Und die unangenehmen. Alles.

    Eines Tages war ein Brief vom Präsidenten der Universität gekommen. Maria hatte ihn aufgemacht.

    „Du sollst nächste Woche zum Präsidenten kommen."

    „Ich? Was soll das bedeuten?"

    „Weiß ich auch nicht."

    Florian las sich das Schreiben genau durch. Er konnte nicht erkennen, warum er zum Präsidenten kommen sollte. Er kannte den Mann nicht. Manchmal wurde sein Name in der Zeitung erwähnt. Ein Bild war dabei gewesen. Er hatte es vergessen. Der Mann war ihm gleichgültig. Er hatte nichts mit seiner Arbeit zu tun.

    In der nächsten Woche hatte Maria seinen guten Anzug bereitgelegt und ein weißes Hemd. Eine Krawatte lag dabei.

    „Was soll das? Ich bin kein Pfingstochse."

    „Das ziehst du an. Ich will nicht, dass du beim Präsidenten wie ein heruntergekommener Asylant erscheinst."

    „Nun übertreibe nicht! Ich bin immer sehr gut angezogen. Eine Kollegin hat gesagt, ich sei der am besten angezogene Arzt in der Abteilung. Frauen haben dafür ein Gespür."

    „Wenn es nach dir ginge, wärst du der am schlechtesten angezogene Arzt."

    „Ich verdanke alles dir."

    „Ja, ja. Das kannst du dir sparen. Pass auf dich auf!"

    Florian fuhr zum Präsidenten. Er war viel zu früh da. Er suchte das Zimmer des Präsidenten und meldete sich bei der Sekretärin.

    „Entschuldigung. Mein Name ist L. Ich habe einen Termin beim Präsidenten."

    Die Sekretärin sah in ihrem Kalender nach.

    „Ja, das stimmt. Nehmen sie bitte einen Moment Platz. Der Präsident hat noch etwas zu erledigen. Ich werde sie hereinrufen."

    Florian setzte sich auf dem Gang vor dem Sekretariat auf einen Stuhl.

    Gedanken überfielen ihn. Gedanken an früher. Situationen. Das damals nahm ihn gefangen. Er saß wieder auf einem Stuhl. Er wartete. Er wartete lange. In der Tasche hatte er seine Doktorarbeit. Bisher war alles gut gegangen. Er hatte alle Prüfungen bestanden. Dies war seine letzte Prüfung. Dann war er Doktor. Ich mache mir keine Sorgen, dachte er. Dieses Mal nicht. Meine erste Prüfung ohne Sorgen. Was soll mir noch passieren? Diese alte Frau kann mir nichts anhaben. Ich bin seit einer Woche zum zweiten Mal Vater. Maria hat ihr Baby zur Welt gebracht. Diese alte Frau hat keine Kinder. Alles ausgetrocknet. Neben der Tür das Schild mit dem Namen und dem Titel der alten Dame. Ihre Vorlesung war langweilig gewesen. Nur wenige Studenten saßen im Hörsaal, wenn sie ihre Vorlesung hielt.

    Dann ging die Tür auf. Die Sekretärin bat ihn herein. Sie war freundlich und zuvorkommend.

    „Frau Professor erwartet sie", sagte sie. Florian ging hinter ihr in das nächste Zimmer. Bücher an den Wänden, ein großer alter Schreibtisch. Zeitschriften und Bücher auf dem Schreibtisch.

    Zwei Bilder an der Wand dahinter. Breite vergoldete Rahmen. Stillleben. Ein Reh und eine Vase mit Blumen.

    „Herr L.?"

    „L.", sagte Florian. In seiner Stimme war Respekt. Die alte Frau sah müde aus. Ihre Augenlider ließen nur einen kleinen Teil der Augen sehen.

    „Ihre Dissertation befasst sich....." Sie referierte das Wichtigste aus seiner Doktorarbeit. Sie hatte sie tatsächlich gelesen. Ungewöhnlich. Sie verwickelte ihn in eine Diskussion über eine bestimmte Einzelheit in seiner Doktorarbeit. Florian dachte: Rede du, das ist mir gleichgültig. Du willst dich nur aufspielen. Du kannst mir nichts anhaben. Plötzlich sagte sie:

    „Herr L.! Sie machen einen tranigen Eindruck. Haben sie Beruhigungsmittel genommen?"

    Florian wollte nicht tranig sein. Das ging ihm gegen den Strich. Wie konnte sie so etwas sagen? Er war seit einer Woche Vater zweier Kinder.

    „Ja, ich habe ein Beruhigungsmittel genommen", wollte er sagen. Im letzten Moment fiel ihm ein: Dann kann sie mich durchfallen lassen. Dieses alte Aas! Was hat sie gegen mich? Etwas an mir gefällt ihr nicht. Sie kann meine Art zu reden nicht ausstehen. Nicht genug Ehrerbietung. Aber ich gehe dir nicht auf den Leim! Was soll Maria sagen, wenn ich nach Hause komme und durchgefallen bin.

    „Nein, sagte Florian „ich habe keine Medikamente eingenommen. Ich bin so. Er lächelte die alte Frau an. Sie hob ihre Augenlieder und sah ihn missbilligend an. Sie schüttelte sogar den Kopf. Sie war angewidert von diesem jungen Mann. Einige Monate später bekam er seine Doktorurkunde während einer Feierstunde im Hörsaal der Universität ausgehändigt. Maria saß neben ihm. Ihr Sohn lag zu Hause in seinem Bettchen und schlief fest.

    Die Sekretärin kam.

    „Der Präsident erwartet sie."

    Florian ging mit ihr durch ihr Zimmer und kam in ein großes Zimmer mit breitem Schreibtisch und Büchern an den Wänden. Das war alles nicht billig, dachte er. Der Präsident stand auf und gab Florian die Hand. Er konnte sich jetzt wieder an das Bild in der Zeitung erinnern.

    „Sie sind seit 1970 Mitglied unserer Universität. Das sind zwanzig Jahre. Eine lange Zeit. Sie waren einige Jahre Assistenzarzt. Dann wurden sie Oberarzt. Sie haben sich vor fünf Jahren habilitiert. Nun hat mir ihr Chef vorgeschlagen, sie zum außerplanmäßigen Professor zu ernennen. Ich habe mir ihren Werdegang angesehen und bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich keine Einwände habe. Ich gratuliere ihnen. Damit sind sie nun Kollege."

    Der Präsident übergab Florian die Urkunde und dann war Florian wieder auf dem Gang mit den Stühlen. Er fuhr nach Hause. Er war etwas stolz, aber nicht sehr viel. Vor ihrem Haus stand Maria und machte ein Foto. Sie hatte ihn erwartet.

    „Wie war es?"

    „Ich bin jetzt Professor."

    „Das habe ich mir gedacht. Warum solltest du sonst zum Präsidenten kommen? Wo ist die Urkunde?"

    Florian holte die Urkunde heraus.

    „Sieht ganz ordentlich aus. Büttenpapier. Und ein Siegel. Ich gratuliere dir". Sie drückte ihn an sich und gab ihm einen Kuss.

    „Er hat gesagt, ich sei jetzt Kollege. War ich das vorher nicht?"

    „Für ihn nicht."

    Am nächsten Morgen verkündete der Chef, dass Herr L. zum außerplanmäßigen Professor ernannt worden sei und gratulierte. Dann ging es zur Arbeit wie immer. Die Oberschwester sagte „Herr Professor" zu Florian. Er sah sie nachdenklich an. Er wusste nicht, ob sie sich über ihn lustig machte. Es vergingen ein paar Monate bis sich Florian an die neue Anrede gewöhnt hatte. Früher hatte er gedacht, dass ein außerordentlicher Professor etwas ganz Besonderes sei. Er hatte nicht gewusst, dass das ein Professor zweiter Klasse war. Aber immerhin, dachte er. Dieser Doktor und dieser Professor, das waren Titel. Mehr nicht. Sie waren nicht die wichtigsten Punkte in seinem Leben. Sie waren wichtig, aber nicht die wichtigsten.

    „Guten Morgen", hatte Florian gesagt.

    „Guten Morgen", sagte die Sekretärin. Sie sah vor sich hin. Sie war in Gedanken.

    „Wie geht es ihnen?" sagte Florian. Sie sah auf. Etwas war in ihrem Blick.

    „Mir geht es gut. Sie betonte das „mir. Florian wusste nicht, was er davon halten sollte.

    „Dann ist alles in Ordnung."

    „Ja." Die Sekretärin sah wieder vor sich hin. Da war etwas. Florian sah die Sekretärin an und sagte:

    „Was ist denn?"

    Die Sekretärin schwieg. Sie sah Florian nur an. Nach einer Weile sagte sie:

    „Doktor L.! Ich weiß nicht, ob ich ihnen das sagen soll. Wir kennen uns schon lange. Ich bin von ihnen nie enttäuscht worden. Bisher jedenfalls."

    „Sie machen mich neugierig".

    „Es ist nicht angenehm für sie." Die Sekretärin sah sich um. Sie waren allein.

    „Was?"

    „Heute war Doktor W. bei unserem Chef. Er hat mit ihm gesprochen."

    „Ja?"

    „Ich habe das Gespräch zufällig gehört."

    „Ja?"

    „Es drehte sich um ihre Erkrankung."

    „Ach. Um mich."

    „Und um ihre Erkrankung. Sie hatten doch einen Schlaganfall."

    „Ja. Das war furchtbar. Ich hatte Glück, dass ich mich erholt habe."

    „Man merkt nichts mehr davon. Sie arbeiten mehr als andere Mitarbeiter."

    „Arbeit ist gut bei so etwas."

    „Doktor W. hat davon erfahren."

    „Ich habe ihm davon erzählt. Wir arbeiten jeden Tag zusammen."

    „Sie sollten nicht so vertrauensvoll sein."

    „Warum? Der Chef weiß auch davon."

    „Doktor W. hat gesagt, dass es untragbar sei, einen Arzt nach einem Schlaganfall als Oberarzt zu beschäftigen."

    „Das hat er gesagt?"

    „Ja, das hat er gesagt."

    „Das kann ich mir nicht vorstellen. Doktor W. ist mein Freund. Wir arbeiten zusammen."

    „Sie sind manchmal naiv."

    „Vielen Dank, dass sie mir das gesagt haben. Ich bin ganz verunsichert."

    „Deshalb habe ich gezögert, mit ihnen zu sprechen."

    Florian ging aus dem Zimmer. Es war wie ein Schlag mit einer Keule gewesen. Er ging langsam nach unten zu den Patienten.

    „Gut dass du wieder da bist. Wir haben eine Menge Patienten." Doktor W. sah aus wie immer. Es war viel zu tun. Florian rief den nächsten Patienten. Er wollte das Gespräch vergessen. Er konnte es nicht vergessen. Immer wieder sah er seinen Kollegen an. Er sah aus wie immer.

    Maria und Steffi saßen schon eine Weile in dem Restaurant. Jede hatte ihren Kaffee vor sich und einen Teller mit etwas Gebäck. Sie saßen allein an ihrem Tisch.

    „Merkwürdig: wir sind jetzt über dreißig Jahre verheiratet, aber ich kenne Florian nicht viel besser als damals als wir uns kennen lernten."

    „Hat er sich verändert in dieser Zeit?" Maria musste nachdenken. Dann sagte sie:

    „Dieser Schlaganfall war natürlich eine schlimme Sache. Er kam aus heiterem Himmel."

    „Ich habe dich bewundert. Du hast das großartig gemeistert. Ich hätte das nicht so gekonnt."

    „Was sollte ich anders tun? Die Kinder waren klein. Sie brauchten mich. Ein Glück, dass sich Florian so gut erholt hat. Ein Arzt hatte mir gesagt, dass er nicht alt werden würde. Jetzt ist er fast sechzig."

    „Er ist noch Professor geworden. Das hätte ich ihm nicht zugetraut. Er ist eher zurückhaltend. Er kann sich nicht gut in den Vordergrund spielen."

    „Da hast du Recht. Wenn wir Leute eingeladen haben, sagt er manchmal den ganzen Abend nichts. Das ist richtig peinlich."

    „Ich habe ihn aber auch schon anders erlebt. Wir hatten einmal eine wüste Diskussion mit euch über Sozialismus und Kapitalismus. Florian war für Sozialismus und Detlef für Kapitalismus."

    „Er ist ein Linker."

    „Ein Linksaußen."

    „Ja, das ist er."

    „Dabei ist er doch aus dem Osten abgehauen."

    „Er hatte sich den Westen anders vorgestellt. Er hat der Propaganda geglaubt und war dann enttäuscht."

    „Er hat hier weiter studiert und ist Arzt geworden und Professor. Was will er eigentlich?"

    „Er findet dieses System hier ungerecht. Er ist manchmal naiv."

    „Warum hast du ihn eigentlich geheiratet? Du hattest viele Chancen bei Männern. Du hättest dir einen anderen suchen können. Und ein schöner Mann ist er nicht gerade. Er macht so auf bescheiden. Ist er das?"

    „Ja, das ist er. Er meint, er habe nur Glück gehabt. Verdient habe er das alles nicht. Mich nicht und seinen Beruf nicht."

    „Da ist Detlef aus ganz anderem Holz geschnitzt. Der litt nie an Minderwertigkeitsgedanken. Der hatte immer große Pläne und dann wurde nichts daraus. Gut, dass ich ihn los bin. Ein guter Liebhaber war er. Das kann ich nicht bestreiten." Maria schwieg nach diesen Worten ihrer Freundin.

    „Du sagst nichts dazu?" sagte Steffi nach einer Weile.

    „Wir sind alle älter geworden, Florian auch", sagte Maria.

    „Du siehst immer noch sehr gut aus. Du hast kaum Falten. Bei mir ist das anders. Wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, erkenne ich mich nicht. Das ist eine andere Frau, die mich da ansieht."

    „Das geht mir auch so. Am meisten stört mich, dass ich manchmal so ungehalten bin. Ich weiß nicht, woher das kommt. Dann bin ich auch ungerecht. Hinterher ärgere ich mich. Florian leidet darunter. Glaube ich."

    „Bist du nicht zufrieden? Du hast zwei gesunde Kinder. Du hast einen schönen Beruf."

    „Es war etwas viel für mich. Die Arbeit im Labor und dann nach Hause zu den Kindern. Ich bin immer zuerst in die Küche zum Herd und habe das Mittagessen gemacht. Danach habe ich mich erst ausgezogen. In den letzten Jahren ist es besser geworden. Die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Sorgen macht man sich trotzdem."

    „Du warst immer sehr pflichtbewusst. Ich war da ganz anders."

    „Dich haben diese charmanten Männer interessiert. Hinter denen warst du her." Steffi musste lachen.

    „Siehst du das so?"

    „Stimmt das nicht?" Steffi sah ihre Freundin lächelnd an.

    „Vielleicht hast du Recht. Glück habe ich mit diesen Männern nicht gehabt. Jetzt bin ich alt und allein. Keiner will mich mehr."

    „Du hast mich."

    „Wenn wir damals nach Paris gegangen wären, wäre alles anders gekommen. Wir hatten schon alles geregelt. Und dann kam Florian und wir sind beide hier geblieben."

    „Freundinnen sind wir geblieben. Du hast mir das nicht übelgenommen."

    „Alte Freundschaften halten am längsten."

    Steffi sah auf die Uhr. Sie musste los. Sie würden sich bald wiedertreffen. Und dann würden sie mehr über Detlef als über Florian reden.

    Diese Splitter seines Lebens. Waren sie für den, der sie las, zu ordnen? Zogen sie ihn hinein in dieses Leben? Florian kamen Zweifel. Er begann den Splittern eine Ordnung zu geben.

    2.Frühe Bilder

    Florian war erstaunt, wie genau er sich an einzelne Szenen seines Lebens erinnern konnte. Diese Erinnerung reichte teilweise bis in seine Kindheit zurück. Allerdings waren diese Erinnerungen wie Inseln in einem Meer des Vergessens.

    Er war ein schüchterner kleiner Junge und hatte kaum Freunde, mit denen er spielen konnte. Bei schönem Wetter war er im Garten, der sich um das Haus herum hinzog. Im hinteren Teil des Hauses wohnten seine Eltern, im vorderen Teil seine Verwandten. Er ging gern zu der jungen Frau im vorderen Teil des Hauses. Die Verwandten waren erst vor einiger Zeit eingezogen und hatten in dem Haus geheiratet. Florian war bei der Hochzeit dabei gewesen. Er hatte in der Kirche Blumen gestreut. Die junge Frau gefiel ihm. Er musste daran denken, wie sie in ihrem Brautkleid ausgesehen hatte. Das weiße Kleid hatte im unteren Teil einen breiten dunkelblauen Streifen. Der Stoff war aus Fallschirmseide. Es war die Zeit nach dem Krieg. Es gab kaum etwas zu kaufen. Aber das war er gewohnt.

    Sein Vater war ein großer breitschulteriger Mann. Florian freute sich, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Er war Werkleiter in einem volkseigenen Betrieb, der für die ganze DDR Fahrstuhlkäfige herstellte. Nach dem Krieg gehörte der Betrieb einem privaten Besitzer. Als dieser nach dem Westen gegangen war, wurde der Betrieb volkseigen. Sein Vater hatte erwogen, mit nach dem Westen zu gehen. Er hatte erwartet, dass der Besitzer ihn und seine Familie mitnahm. Das erfüllte sich nicht. Sein Vater hatte befürchtet, dass er seine Stelle verlieren würde. Aber die neuen Herrn im volkseigenen Betrieb waren froh über einen erfahrenen Mitarbeiter. Sein Vater saß abends bei seinem Weinbrand und erzählte von den Problemen im Werk. Er sprach mit Begeisterung von seiner Arbeit. Die Mutter war froh, wenn er zu Hause seinen Weinbrand trank und nicht im Gasthaus. Oft war es eine ganze Flasche. Die Mutter und auch Florian hatten es nicht gern, wenn der Vater in ein Gasthaus ging. Dann kam er erst in der Nacht nach Hause und war betrunken. Am nächsten Morgen ging er trotzdem zur Arbeit. Die Mutter schämte sich, wenn die Nachbarn darüber redeten. Der Vater war stolz auf Florian, wenn er aus der Schule gute Zensuren brachte.

    In diesem Jahr passierte viel. Es war im Februar 1945, als Florians Schwester am Morgen aus der Schule nach Hause kam. Sie klagte über Ohrenschmerzen. Gegen Mittag kam der Arzt. Er verordnete ein Medikament gegen das hohe Fieber. Die Schwester hatte Scharlach. In der Nacht wurden die Ohrenschmerzen schlimmer und das Fieber stieg. Am Morgen kam der Arzt nochmals. Er machte ein bedenkliches Gesicht. Die Schwester hatte weiter hohes Fieber. Sie war unruhig und redete wirr. Sie griff sich immer wieder an den Kopf. Der Arzt sprach mit dem Krankenhaus in der Kreisstadt. Es gelang ihm, ein Bett für Florians Schwester zu bekommen. Es war drei Monate vor Ende des Krieges. Der Krankenwagen kam und brachte die Schwester ins Krankenhaus. Florian war den ganzen Tag allein. Erst am Abend kam die Mutter nach Hause. Vater und Mutter sahen sehr ernst aus. Am nächsten Tag war Florian wieder allein. Die Mutter kam wieder erst am Abend nach Hause. Sie hatte geweint. Am nächsten Tag zog sie schwarze Sachen an.

    „Mutter, sagte Florian „was ist denn? Die Mutter nahm seinen Kopf in ihre Hände und drückte ihn an sich. Florian sah, dass sie weinte.

    Am nächsten Tag mussten alle im Hause in den Keller wegen Fliegeralarm. In der Nacht gab es Unruhe im Hause. Am Morgen war Besuch da. Es waren die Verwandten aus Dresden. Sie waren ausgebombt. Florian wusste nicht, was das ist. Sein Cousin war auch da.

    „Was ist ausgebombt?" sagte Florian zu ihm.

    „Wir hatten Fliegeralarm."

    „Wir auch."

    „Als wir aus dem Keller kamen, brannte unser Haus."

    „Warum?"

    „Durch die Bomben."

    „Was habt ihr gemacht?"

    „Wir sind zu Fuß zu Euch gelaufen."

    „Das ist weit."

    „Die ganze Nacht sind wir gelaufen." Florian konnte sich nicht vorstellen, dass jemand soweit laufen kann. Es war der 13. Februar 1945. Die Verwandten blieben einige Wochen bei ihnen. Florian spielte gern mit seinem Cousin. Eines Tages sagte er:

    „Wenn meine Schwester wiederkommt, können wir zu dritt spielen. Vater, Mutter und Kind. Du bist das Kind."

    Der Cousin sah ihn an.

    „Deine Schwester kommt nicht wieder." Florian sah ihn ungläubig an:

    „Sie kommt nicht wieder?"

    „Weißt du nicht, dass sie gestorben ist?" Florian rannte zur Mutter. Das musste ein Irrtum sein. Die Mutter nahm ihn in ihre Arme.

    „Deine Schwester ist gestorben." Florian sagte nichts. Er verstand das nicht. Alte Leute sterben und Soldaten sterben. Aber seine Schwester? Er verstand das nicht. Am nächsten Tag ging seine Mutter mit ihm zum Friedhof. Auf dem Hügel lagen Blumen über Blumen. Florian hatte noch nie so viele Blumen gesehen.

    „Wenn sie so schöne Blumen hat, dann bin ich nicht traurig." Die Erwachsenen schüttelten den Kopf.

    „Er kann das noch nicht verstehen", sagten sie.

    Anfang Mai kamen die Russen. Florian sollte zum Friseur gehen. Er ging nicht gern zum Friseur. Er sah zum Fenster hinaus auf die große Straße.

    „Mutter, da kommen komische Panzer." Die Mutter sah auf die Straße.

    „Das sind die Russen."

    Alle hatten Angst vor den fremden Soldaten. Die ganze Familie hatte sich in den Keller geflüchtet. Der erste Russe nahm sich das Fahrrad mit, das man im hinteren Hof vergessen hatte. Es war nicht in Ordnung. Der nächste Russe kam zusammen mit anderen. Er war ein Lehrer, der Deutsch sprach. Die Stadt war übergeben worden. Ein mutiger Mann war mit einer weißen Fahne zum Stadtrand gegangen, den fremden Truppen entgegen. Nach einigen Tagen begann der Bäcker in der kleinen Stadt wieder zu backen.

    Die Zeit nach dem Krieg war für alle eine schwere Zeit. Aber für Florian war das selbstverständlich. Er kannte keine besseren Zeiten. Mittags kochte sein Mutter für ihn Meerrettichsoße mit Kartoffeln. Pudding gab es nur selten. Das war ein Festtag. Er hatte nur wenige Spielsachen. Zu Weihnachten gab es Geschenke, die durch Tauschen erworben wurden. Auf dieses Fest mit seinen Geschenken freute er sich das ganze Jahr.

    Im September kam Florian in die Schule. Er bekam eine Zuckertüte. In der Spitze waren ein paar Bonbons aus Zucker. Die Schule war ein großes Gebäude mitten in der Stadt. Mutter und Tante begleiteten Florian. In der Turnhalle gab es eine Ansprache, von der Florian nichts verstand. An der einen Wand hing eine große rote Fahne. Am nächsten Tag begann der Unterricht. Er begann mit dem Buchstaben A. Am nächsten Tag folgte das B.

    Florian übte zu Hause das Schreiben der Buchstaben. Florian saß in der ersten Reihe, weil seine Mutter das so gesagt hatte. Der Lehrer war jung und freundlich. Florian war froh, wenn er wieder zu Hause bei seiner Mutter war. Das erste Problem kam, als er aus den Buchstaben ein Wort machen musste. Das Wort klang anders als die einzelnen Buchstaben. Er schaffte das.

    Als Kind war Florian meist allein. Er hatte keine Freunde. In der Schule saß er in der ersten oder zweiten Reihe. Seine Mutter wünschte das so. Er machte, was seine Mutter wollte. Er war diesen beiden Erwachsenen, die seine Eltern waren, unterlegen. Er hatte keine Chance gegen sie. Wenn er einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte, wäre das vielleicht anders gewesen. So lernte er früh, sich unterzuordnen. Später dachte er, dass er dadurch für immer geprägt wurde. Er versuchte, den Lehrern alles Recht zu machen. Er war ein fleißiger Schüler. Seine Hausaufgaben erledigte er immer. Die anderen Jungen kamen am Morgen zu ihm und wollten sie abschreiben. Er gab sie ihnen. Im Unterricht meldete er sich nur selten. Aber er lernte zu Hause fleißig auswendig und schrieb gute Arbeiten. Am Ende des Schuljahres hatte er gute Noten in seinem Zeugnis. Die Eltern waren stolz und lobten ihn. Er war glücklich. In der Schule hatte er Angst vor den Raufbolden. Er war ihnen nicht gewachsen. Er suchte sich andere Jungen, die ihm beistanden. Dafür gab er ihnen von seinem Frühstücksbrot. Er hatte immer reichlich davon. Auf dem Weg nach Hause hatte er Angst vor anderen Kindern. Er war froh, wenn er wieder zu Hause war und in seinen Büchern lesen konnte. Er flüchtete gern in diese Welt der Bücher. Er las alles im Bücherschrank seiner Eltern und auch seiner Tante, die mit im Hause wohnte. Er las alle Karl-May-Bücher und die Zukunftsromane von Dominik. Er las auch die Mädchenbücher seiner verstorbenen Schwester. Später las er dann Ganghofer. Im Bücherschrank standen auch die Klassiker-Ausgaben: Goethe, Schiller, Lessing, Shakespeare. Er las alles. Im Lexikon suchte er nach bestimmten Stichworten: Geschlechtsverkehr, Geschlechtsorgane. Als er entdeckte, was beim Geschlechtsverkehr wirklich passierte, war ihm das unangenehm. Eine andere Art Kinder zu zeugen wäre ihm lieber gewesen. Ein Raufbold aus seiner Klasse fragte ihn, ob seine Eltern auch ficken. Florian wusste nicht was das ist und die ganze Klasse lachte.

    Er war erkrankt. Die Zeitungen berichteten auf der ersten Seite. Dann gab es jeden Tag ein Bulletin der Moskauer Ärzte. Florian konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann sterben würde. Der Mann war so mächtig. Es war nicht möglich, dass er nicht mehr sein würde. Man würde ihn am Leben erhalten. Er würde gesund werden. Dann verschlechterte sich der Zustand von Tag zu Tag. Hoffnung keimte auf. Florian hoffte von Tag zu Tag mehr, dass er sterben würde. Und dann geschah das Unglaubliche. Im Radio kam Trauermusik. Den ganzen Tag Trauermusik. Der Kerl war tot. Eine Riesenüberschrift in der Zeitung. Und Bilder weinender Menschen. Florian erfasste ein Gefühl von großem Glück. Es gab etwas das stärker gewesen war als diese Macht. Vielleicht hatte es mit Gott zu tun. Der hatte die Geduld verloren mit diesem Menschen, der ihn verleugnete. Ungestraft verleugnete. Bisher jedenfalls. Dann wurde der Mann beerdigt. Im Mausoleum an der Kremlmauer neben Lenin. Wieder weinten die Menschen. Florian weinte nicht. Er war nicht traurig. Er war froh. In der Schule versammelten sie sich auf dem Schulhof. Der Schulleiter hielt eine Rede. Florian sah um sich. Niemand durfte sehen, dass er froh war. Die Russen hatten ihren Führer verloren. Es geschah ihnen recht nachdem sie seinem Vaterland den Führer genommen hatten. Florian hatte die beiden in den sowjetischen Filmen über den großen Krieg gesehen. Er war stolz auf seinen Führer gewesen. Es durfte nur niemand davon wissen. Zu Hause wurde nicht mehr über den deutschen Führer gesprochen. Man sah aber noch die Stelle an der Wand im Wohnzimmer. Dort hatte sein Bild gehangen. Über den Führer sprach niemand mehr. Aber auf Deutschland auf ihr Vaterland waren alle im Hause stolz. Florian war auch stolz auf dieses Land. Die Sieger hatten es unterworfen und geteilt. Das würde nicht ewig so sein. Das wusste er. Das erhoffte er.

    Florian war das letzte Jahr in der Grundschule. Er war jetzt vierzehn. Die Abschlussprüfung stand vor der Tür. Er lernte für die Prüfungen. Es waren viele Prüfungen. Er war gut vorbereitet als sie begannen. Er war der Einzige an seiner Schule, der in der Mathematikarbeit keinen Fehler machte. Die Lehrer waren stolz auf ihn. Es gab Schulen, wo kein Schüler eine Mathematikarbeit ohne Fehler abgab. Die Aufgaben waren von einer Zentrale ausgearbeitet worden. In diesem Land wurde alles organisiert. Manchmal klappte es. Manchmal nicht.

    Der Sommer war heiß. Und dann kam dieser Tag. Florian saß vor dem Radio. Mühsam konnte er den Westberliner Sender empfangen. Es gab einen Bericht von der Sektorengrenze in Berlin. Ein großes Haus stand in Flammen. Es gab Demonstrationen. Die Demonstranten forderten eine Rücknahme von Normerhöhungen. Florian war voller Hoffnung, dass sich jetzt etwas ändern würde. Er wusste nicht genau, was sich ändern konnte. Vielleicht würde sein Vaterland wieder vereinigt werden. Er hasste diese Leute, die hier regierten. Am nächsten Tag stand in der Zeitung etwas von einem neuen Kurs. Die Demonstrationen seien von Provokateuren aus dem Westen angezettelt worden. Florian glaubte das nicht. Alle im Haus glaubten das nicht. Als er in die Schule kam, stand ein sowjetischer Panzer vor dem Rathaus. Er stand einfach so da. Soldaten waren nicht zu sehen. In der Schule hieß es, die Prüfung im Fach Gegenwartskunde falle aus. Florian war froh. Dieses Fach hatte er nicht gern. Am nächsten Tag war der Panzer wieder weg. Florian machte die letzten Prüfungen. Er war der beste Schüler der ganzen Schule. Er war stolz auf sich. Und seine Eltern auch. Und auch sein Klassenlehrer. Es gab eine Feier im größten Betrieb der Stadt. An der Stirnseite hing wie immer ein Bild von W.U.

    Nach der Grundschule kam er in eine andere Stadt in die Oberschule. Im Westen hieß das Gymnasium. Er war jetzt vierzehn und unsicher wie er zurechtkommen würde. Er setzte sich in die letzte Reihe neben Rudolf. Der kam aus einem kleinen Dorf und sein Vater war Bauer in einer LPG. Rudolf fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zehn Kilometer zur Schule. In einem eisigen Winter erfror er sich die Ohren. Bald zeigte sich, dass sie die besten Schüler in ihrer Klasse waren. Nur im Turnen war Rudolf besser.

    „Florian, einen Augenblick! Ich wollte sie etwas fragen."

    Florian blieb stehen und sah den Lehrer an. Er hatte bei ihm Geschichte.

    „Sie haben heute die Meinung geäußert, das russische Proletariat sei noch nicht reif für eine Revolution gewesen. Wie kommen sie darauf?"

    „Das ist mir nur so eingefallen. Das hat nichts zu sagen."

    Der Lehrer sah ihn nachdenklich an.

    „Das beruhigt mich. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn sie auf die Argumente des Klassenfeindes hereinfallen würden."

    „Da müssen sie keine Angst haben. Die Sowjetunion ist für mich die Vorhut des Sozialismus."

    „Die Oktoberrevolution ist einzigartig in der Geschichte. Zum ersten Mal hat das Proletariat die Macht übernommen."

    „Ich dachte, die Pariser Kommune wäre das erste Mal."

    „Das stimmt schon. Aber das war nur eine kurze Episode. Die Oktoberrevolution hat die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in Russland beseitigt."

    „Das Proletariat ist für mich die einzige progressive Klasse."

    „In unserem Land steht das Proletariat in einem harten Kampf mit Resten der alten Ordnung. Immer wieder werden überholte Standpunkte vertreten. Der Klassenfeind ist noch nicht bezwungen."

    „Das ist mir klar."

    „Sie könnten sich offensiver für den Sozialismus einsetzen. Sie sind ein guter Schüler. Die anderen hören auf sie."

    „An mir soll es nicht liegen. Der Geschichtsunterricht bei ihnen hilft uns sehr."

    „Es gibt einige in ihrer Klasse, die nicht auf unserer Seite stehen, die wankelmütig sind."

    „Ich kenne keinen. Denken sie an einen bestimmten Schüler?"

    „Thomas und Lutz beziehen nie Stellung. Sie lernen ihre Hausaufgaben, aber am Unterricht beteiligen sie sich kaum."

    „Thomas ist einfach schüchtern. Er traut sich nicht. Wenn ich mit ihm spreche, hat er die richtige Einstellung."

    „Und Lutz?"

    „Der hat eine Freundin. Die nimmt ihn ganz in Anspruch."

    „Wer ist seine Freundin?"

    „Sabine".

    „Das ist ein Mädchen mit vielen Interessen. Sie nimmt an mehreren Arbeitsgemeinschaften teil. Manchmal macht Lutz unpassende Bemerkungen. Das gefällt mir nicht."

    „Sie müssen sich keine Sorgen machen. Der Sozialismus wird siegen." Florian lächelte den Lehrer an. War es ein ironisches Lächeln? Der Lehrer war zufrieden.

    „Bitte gehen sie jetzt zum Unterricht."

    Florian ging schnell weiter. Am Ende des Gangs stand Sabine aus der Nachbar-Klasse.

    „Was wollte der von dir?"

    „Das Übliche."

    „Sei vorsichtig, das ist ein Hundertprozentiger."

    „Weiß ich. Keine Sorge. Der erfährt nichts von mir. Er hat dich gelobt."

    „Das kann er sich sparen. Von dem will ich nicht gelobt werden. Der sollte einen besseren Unterricht machen."

    „Ja. So ein primitiver Geschichtsunterricht. Immer nur Klassenkampf. Der Einzelne spielt keine Rolle."

    „Genau. So kann man Geschichte nicht darstellen."

    „Ich habe ein Buch aus dem Westen gelesen. Da ist die französische Revolution ganz anders beschrieben."

    „Das ist interessant. Kannst du es mir borgen?"

    „Kann ich."

    „Was hast du am Nachmittag vor?"

    „Ich gehe in die Sport-AG. Ich stehe in Turnen auf einer Vier."

    „Du bist in allen anderen Fächern so gut. Ich beneide dich."

    „Du bist auch sehr gut. Ich muss weiter. Der Unterricht hat schon begonnen."

    Florians Vater war schon vor dem Krieg in die Partei eingetreten. In welche? In die kommunistische. Das war doch klar. An der Ostfront war er desertiert und hatte im Nationalkomitee „Freies Deutschland" mitgearbeitet. Er kehrte bald zurück. Er wurde Parteisekretär in seiner Fabrik. Er sprach gern von den alten Zeiten. Florian hing an seinen Lippen. Das waren Zeiten gewesen.

    Hast du gleich gewusst, dass Hitler ein Verbrecher war?"

    Natürlich, sagte der Vater. „Ihr Programm war das Verbrechen, der Krieg.

    Hast du Ernst Thälmann sprechen hören?"

    Ja, einmal. In Hamburg."

    Sprach er gut?"

    Sehr gut. Einfach und klar."

    Und Wilhelm Pieck?"

    Der war Parteivorsitzender. Ich habe ihn damals nicht gesehen. Schade."

    Aber nach dem Krieg hast du ihn gesehen."

    Natürlich. Zuletzt bei der Delegiertenversammlung in Berlin."

    Sind viele Arbeiter in deiner Firma in der Partei?"

    Nein."

    Wie viele?"

    Zwanzig."

    Von wie vielen?"

    In der Fabrik arbeiten etwa hundert Leute."

    Werden sie dich wieder wählen als Parteisekretär."

    Ich hoffe es. Ich muss gute Arbeit leisten."

    Was heißt das?"

    Ich muss den Kollegen klarmachen, was die Partei will und warum es gut für sie ist."

    Verstehen sie es?"

    Nicht alle. Manche glauben dem RIAS und diesen Westsendern. Wir müssen sie überzeugen. Beharrlich und unermüdlich." Florian war begeistert von diesem Vater. Er war sein Vorbild. Er wollte werden wie er. Es machte ihm nichts aus, dass die anderen Schüler ihm misstrauten und manchmal schwiegen, wenn er näher kam.

    Es war nicht sein Vater. Sein Vater glaubte dem RIAS und den anderen Westsendern. Er hielt nichts von der Partei. Die Mutter hielt auch nichts von der Partei.

    Mädchen waren für Florian fremde Wesen. Seine Schwester war früh gestorben. Er konnte sich kaum an sie erinnern.

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