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Nurfürdich
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eBook374 Seiten5 Stunden

Nurfürdich

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Über dieses E-Book

Merle stolpert durch Zufall über das Facebook-Profil ihrer großen Liebe Tom, der sie vor über 12 Jahren von heute auf morgen hat sitzenlassen. Obwohl sie eine bislang glückliche Ehe mit Andy führt und die beiden ein gemeinsames Kind haben, kann sie den Wunsch herauszufinden, warum Tom sie damals verlassen hat, nicht unterdrücken. Sie nimmt Kontakt zu ihm auf ... dies bleibt nicht ohne Folgen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Okt. 2015
ISBN9783738044553
Nurfürdich

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    Buchvorschau

    Nurfürdich - Anne Meller

    1

    Lange ist es her ... und doch scheinbar nicht lang genug, um Dich komplett vergessen zu haben. Wo bist Du, was tust Du, was fühlst Du, mit wem bist Du zusammen ... warum interessiert mich das bloß nach all den Jahren so brennend?

    Wenn Du wüsstest, wie oft meine Gedanken in den letzten Wochen um Dich gekreist sind! Die kurze Zeit, die wir damals miteinander verbracht haben, habe ich nie vergessen.

    Vielleicht ist man ja tatsächlich einmal im Leben mit dem Menschen zusammen, der einen dann das restliche Leben zumindest in Gedanken begleitet ... auch wenn man sich nie wieder begegnet. Wie dem auch sei ... ich hoffe, Du bist glücklich und hast das gefunden, wonach Du gesucht hast.

    Tatsächlich habe ich dieses Profil nur für dich angelegt, mit meinem echten geht es verständlicherweise nicht, Du würdest mich sofort erkennen und das macht mir Angst ... ich erwarte auch keine Rückmeldung, ich habe diese Zeilen nur für mich gebraucht, um einmal das Gefühl zu haben, Dir das gesagt zu haben, was ich damals verpasst habe: nämlich, dass ich Dichüber alles geliebt habe ...

    Ich starrte seit gefühlten Stunden auf den Bildschirm des Computers und mein Finger lag nun schon seit einer Ewigkeit auf der linken Maustaste. Der Cursor zeigte blinkend auf das Senden-Symbol und ich war sozusagen nur einen Mausklick davon entfernt, diese Nachricht in die Weiten des Internets zu schicken.

    Unschlüssig las ich die getippten Zeilen erneut, während immer wieder die gleichen Fragen durch meinen Kopf schwirrten: Wollte ich das denn tatsächlich abschicken? Was, wenn er sich zusammenreimte, dass diese Nachricht von mir kam? Aber genau das wollte ich doch auch, oder?

    Verdammt, Merle, Du hast definitiv Besseres zu tun, als den kompletten Vormittag vor dem Rechner zu hocken, schalt ich mich im Stillen. Ich musste wirklich völlig den Verstand verloren haben, dass ich mich damit aufhielt, obwohl unser Haus aussah, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen. Der Wäschekorb quoll über, die Spülmaschine wartete darauf, endlich eingeräumt zu werden und auch sonst hatte ich diverse Haushaltspflichten zu erledigen, die ich in den letzten Tagen sträflich vernachlässigt hatte und ehrlicherweise nur allzu gerne auch weiterhin vor mir herschieben würde.

    Seufzend lehnte ich mich auf dem Bürostuhl zurück und schaute aus dem Fenster unseres Büros, um den beiden Schmetterlingen zuzusehen, die auf der üppigen Rose in unserem Garten tanzten. Nein, man konnte mir sicherlich keinen grünen Daumen nachsagen ... eher das Gegenteil war der Fall ... aber meine Rosenbüsche, die ich damals nach unserem Einzug mit viel Liebe ausgesucht und gepflanzt hatte, gehörten zu meinen absoluten Favoriten und ich erfreute mich jeden Sommer aufs Neue daran, wenn sie so schön blühten, wie jetzt.

    Die Sonne lachte inzwischen strahlend vom Himmel und die Luft hatte sich bereits jetzt am Vormittag auf angenehme 23 Grad erwärmt ...endlich schien der Sommer Einzug zu halten, was für Mitte Juni auch langsam Zeit wurde. Die Kinder würden bald Sommerferien bekommen und Sam, mein 8jähriger Sohn, war angesichts unserer bevorstehenden Urlaubsreise in die Türkei, bei der uns in diesem Jahr sein bester Freund Jonathan begleiten würde, schon mächtig aufgeregt.

    Das wird der coolste Urlaub überhaupt, hatte er noch heute Morgen am Frühstückstisch gestrahlt, während er dabei war, sein Brot zu schmieren. Angesichts seiner kindlichen Freude wurde mir warm ums Herz. Ja, ich freute mich auch ... na klar, auch wenn mir angesichts der Verantwortung, die wir für ein fremdes Kind übernehmen würden, auch ein bisschen flau im Bauch wurde.

    Sam war Einzelkind geblieben und ich war mir darüber bewusst, wie viel Spaß es ihm bereiten würde, diesmal nicht allein mit seinen Eltern zu verreisen, sondern einen Spielkameraden mit an Bord zu haben. Es waren Momente wie diese, in denen ich mir wieder wünschte, dass Sam noch eine Schwester oder einen Bruder bekommen hätte. Bedauerlicherweise war es nicht mehr dazu gekommen.

    Mein Blick wanderte zurück auf den Bildschirm.

    Ich kann das nicht abschicken, das ist verrückt und ganz ehrlich: Was zum Teufel soll das bringen? Nachdenklich betrachtete ich das Profilbild der geöffneten Facebook-Seite. Die Augen des Mannes, an den meine Nachricht gerichtet war, schienen mich regelrecht zu durchbohren ... so, als wollte er fragen, was ich eigentlich nach der langen Zeit von ihm wollte.

    Er sah auch jetzt, nach 12 Jahren, die wir uns nun nicht mehr gesehen hatten, atemberaubend gut aus.

    Sein dichtes schwarzes Haar umrahmte sein Gesicht immer noch so perfekt wie damals, auch wenn die Schläfen mittlerweile leicht ergraut waren. Die strahlendblauen Augen blickten leicht amüsiert in die Kamera, entspannt hielt er ein Glas Wein in der Hand. Es schien sich um einen Urlaubsschnappschuss zu handeln, denn im Hintergrund erkannte man das Meer und eine Felsformation ragte beeindruckend in den wolkenlosen Himmel.

    Ja, da saß er, mein Tom.

    Eigentlich hieß er Thomas, aber er hatte mir mal erzählt, dass ihn seit seiner frühesten Kindheit eigentlich niemand je so genannt hatte ... außer seiner Großmutter, die nichts von verniedlichten Vornamen hielt. Hatte ich vielleicht unbewusst deshalb meinen Sohn Sam genannt, weil es hier keine Möglichkeit gab, eine Koseform abzuleiten?

    Mein Gott, was für ein Blödsinn, langsam drehte ich wirklich durch. Reiß Dich zusammen, mach einfach den verflixten Computer aus und geh an die Arbeit, schimpfte ich wieder mit mir.

    Aber was, wenn ich doch auf Senden drückte und er vielleicht sofort an mich denkt? Er würde zurückschreiben, würde fragen Merle, bist Du das? und der Ball wäre ins Rollen gekommen ...

    Ein schrilles Klingeln durchbrach die Stille des Wohnzimmers und ich zuckte erschrocken zusammen. So versunken war ich gerade in meiner Traumwelt gewesen, dass mich unser Telefon fast zu Tode erschreckte.

    Ich sprang auf und durchsuchte den Raum nach dem Mobilteil. Irgendwann fand ich es schließlich auf dem Esszimmertisch und hörte, kaum dass ich mich gemeldet hatte, die fröhliche Stimme meiner besten Freundin Anne: Stell Dir vor, ich habe gerade den neuen Job bekommen! Die wollen, dass ich noch diesen Monat anfange. Ach, Merle, endlich kommt wieder Bewegung in mein Leben!

    Ich lachte: Anne, das ist phantastisch, ich freue mich so sehr für Dich. Wo genau wirst Du denn anfangen?

    Aufgeregt erzählte sie mir von dem kleinen Stadtblatt, das letzten Monat die Stelle einer Grafikdesignerin ausgeschrieben hatte. Sie habe sich eigentlich keinerlei Chancen ausgerechnet, wir seien schließlich keine 30 mehr und mit zunehmendem Alter werde es für uns Frauen ja bekanntlich schwieriger auf dem Stellenmarkt, aber ihre Entwürfe seien wohl so gut angekommen, dass sie in die engere Auswahl gekommen war. Heute Morgen hatte sie dann die endgültige Zusage bekommen und war völlig aus dem Häuschen.

    Mein Gott, seufzte sie aus tiefstem Herzen, bald verdiene ich endlich wieder mein eigenes Geld und kann hier bei meinen Eltern raus. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich darauf freue.

    Doch, das konnte ich sehr wohl. Anne hatte eine schlimme Scheidung hinter sich ... man könnte auch sagen, eine Schlammschlacht von fast nicht zu fassendem Ausmaß ... und mangels Job und Geld zurück zu ihren Eltern flüchten müssen. Und seien wir mal ehrlich? Wer bitte möchte mit 41 Jahren wieder in sein Elternhaus zurückziehen? Also, ich persönlich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, auch wenn ich meine Eltern abgöttisch liebte und wir fast jeden Tag mindestens einmal miteinander telefonierten.

    Dennoch war man mit Anfang 40 definitiv in einem Alter, in dem man entweder mit seiner eigenen Familie oder zumindest allein leben sollte.

    Wir müssen das unbedingt feiern, Merle, außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr gesehen. Wie passt es Dir morgen Abend? Wir gehen ins Paulo`s und lassen es uns mal wieder so richtig gut gehen, unterbrach Anne meine Gedanken.

    Hm ... ich weiß nicht, ich muss das mit Andy besprechen, wenn er heute Abend wiederkommt. Du weißt doch, dass er momentan so viele auswärtige Termine hat und abends erst immer spät hier ist. Sam kann ich schließlich nicht allein lassen, überlegte ich laut, aber ich klär das und melde mich später nochmal, ok?

    Nachdem ich noch mehrfach versprochen hatte, auf jeden Fall mein Bestes zu geben, um meinen Mann zu überreden, morgen doch bitte einmal pünktlich zu sein, legten wir auf.

    Gedankenverloren blieb ich mit dem Telefon in der Hand im Raum stehen und blickte mich um. Vielleicht sollte ich jetzt wirklich mal anfangen, mich ein bisschen um Ordnung und Sauberkeit in diesem Haus zu kümmern.

    Ich ließ also den Computer Computer sein, um in der Küche erstmal die Geschirrberge in die Spülmaschine einzuräumen. Ich könnte mich später noch mit dieser absurden Idee einer anonymen Mail an Tom befassen ... hoffentlich mit klarerem Kopf.

    Später stand ich vor dem Kalender, um die Termine für den heutigen Tag zu checken. Ok, heute ich Dienstag, Sam hatte also am Nachmittag Fußballtraining, vorher mussten wir kurz beim Arzt vorbei, um seine hoffentlich jetzt komplett abgeklungende Mittelohrentzündung nachsehen zu lassen, und auf dem Weg dahin würden wir kurz bei unserem Steuerberater halten, um die Steuererklärung einzureichen.

    Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich nur noch genau anderthalb Stunde Zeit hatte, um einzukaufen und das Mittagessen vorzubereiten, bevor Sam aus der Schule kam. Hatte ich tatsächlich fast den gesamten Vormittag damit zugebracht, eine so kurze Mail an einen Mann zu schreiben, den ich seit 12 Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte, um sie dann stundenlang anzustarren und letztendlich doch nicht abzusenden? Ich musste wirklich verrückt sein.

    Nachdem ich rasch zum Supermarkt geradelt war, um die Zutaten für einen Nudelauflauf zu besorgen, bog ich gerade wieder um die Ecke, als ich den silbernen Kombi meines Mannes auf unsere Auffahrt fahren sah. Was machte er denn um diese Uhrzeit hier? Es kam äußerst selten vor, besser gesagt eigentlich nie, dass Andy in der Woche mittags nach Hause kam. Entweder war er plötzlich krank geworden oder er hatte etwas sehr Wichtiges vergessen.

    Andy leitete eine mittelständische Baufirma, die er in zweiter Generation von seinem Vater übernommen hatte. Hans, Andys Vater, war zwar immer noch regelmäßig im Büro, ließ seinem Sohn aber mittlerweile alle Entscheidungsfreiheiten und stand ihm nur noch beratend zur Seite.

    Die beiden hatten wirklich ein sehr harmonisches Verhältnis und manchmal fragte ich mich, warum es mit Dorothea, Andys Mutter, so ganz anders gekommen war. Sie hatte die Familie verlassen, als Andy und seine Schwester Marlene noch Kinder gewesen waren, um sich selbst zu verwirklichen. So hatte sie es zumindest ausgedrückt. Die Enge in der niedersächsischen 160.000 Einwohner-Stadt, in der wir lebten, habe sie erdrückt und ihr die Luft zum Atmen genommen.

    Nun atmete sie bereits seit 30 Jahren die Berliner Großstadtluft und ließ sich höchstens zu runden Geburtstagen - und dann auch nur höchst widerwillig - bei uns blicken. Sie war in Berlin als freischaffende Künstlerin tätig, was jedoch genau ihre Kunstwerke waren, hatte ihre Familie in all den Jahren nicht herausfinden können. Sie lebte ihr Leben und hatte offenbar nie das Bedürfnis verspürt, zumindest ihre Kinder daran teilhaben zu lassen.

    Hans und Dorothea waren zwar nie geschieden worden, sprachen aber bei den seltenen Zusammentreffen höchstens ein paar höfliche Worte miteinander. Ich empfand diese offensichtlichen Spannungen immer als sehr unangenehm, da ich selbst eine so behütete und glückliche Kindheit verlebt hatte und mir gar nicht vorstellen konnte, was es überhaupt bedeutete, bei nur einem Elternteil aufzuwachsen, noch dazu beim Vater.

    Andy selbst sprach nie gern über seine Mutter und in den 10 Jahren, die wir mittlerweile zusammenwaren, hatte er mir immer nur so häppchenweise Informationen über sie zukommen lassen, dass ich manchmal das Gefühl hatte, sie eigentlich kaum zu kennen. Wahrscheinlich hatte er ihr nie verziehen, dass sie ihn und seine kleine Schwester damals einfach so zurückgelassen hatte.

    Hey, was machst Du denn hier, hast Du was vergessen?, fragte ich atemlos, als ich nach einem kurzen Sprint mit dem Rad neben ihm vor der Haustür zum Stehen kam.

    Andy war gerade im Begriff aufzuschließen und blickte nur kurz auf, als er mich bemerkte. Seine mürrische Miene verriet mir augenblicklich, dass irgendwas nicht in Ordnung zu sein schien.

    Ach, ich war auf dem Weg zu einem Kunden hier in der Nähe, um dann dort vor der Tür festzustellen, dass ich die falschen Unterlagen mitgenommen habe, knurrte er missgestimmt. Zum Glück konnte ich den Termin noch ein wenig nach hinten schieben, aber mir fehlt trotzdem die Zeit, um ganz zurück ins Büro zu fahren. Alma hat mir die Unterlagen hierher gemailt, damit ich sie mir ausdrucken kann.

    Alma war Andys Sekretärin und seit vielen Jahren die gute Seele der Firma. Ich wusste nicht, wie viele Jahre sie schon für Wagner&Sohn tätig war, aber sie war schon die Sekretärin von Hans gewesen und saß jetzt im Vorzimmer von Andy.

    Ich war der felsenfesten Überzeugung, dass der Laden zusammenbrechen würde, wenn sie irgendwann beschließen würde, in Rente zu gehen. Andererseits war Andy sicher ein genauso hervorragender Chef wie er Ehemann und Vater war, dachte ich liebevoll. Von daher würde sie sicher gern noch einige Jahre mit ihm aushalten.

    Wir standen mittlerweile in der Küche und ich war gerade dabei, die Einkäufe auf der Arbeitsfläche zu verteilen, um endlich mit dem Kochen zu beginnen. Andy stand an der offenen Kühlschranktür und trank aus der halbvollen Wasserflasche. Wie ich diese Angewohnheit hasste ... als wenn wir keine Gläser besitzen würden.

    Ich bin dann auch sofort wieder weg, sagte er, nachdem er die Flasche - natürlich nur halb zugeschraubt - wieder weggestellt hatte. Bei Andy musste immer alles schnell gehen, da waren solche Nichtigkeiten wie das richtige Zuschrauben von Wasserflaschen oder ähnlichem natürlich absolute Zeitverschwendung.

    Okay, murmelte ich, mehr für mich als für ihn, da er schon auf dem Weg ins Büro war, und mich eh nicht mehr hören konnte.

    Ich zog die Schublade auf, um den Topf für die Nudeln rauszunehmen, als ich mitten in der Bewegung erstarrte.

    Verdammt! Ich hatte völlig vergessen, womit ich heute Morgen beschäftigt gewesen war. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis Andy sich an den Rechner setzen, die Maus bewegen und der Monitor aus dem Ruhemodus erwachen würde. Dort würde die Mail an Tom aufleuchten und seine hellblauen Augen würden von seinem Profilbild direkt in die dunkelbraunen Augen meines Mannes blicken.

    Ich Idiotin, wie konnte ich das bloß vergessen! Nach dem Telefonat mit Anne hatte ich mich nicht mehr zurück an den Rechner gesetzt und mich ja bekanntlich gezwungen, meine Pflichten im Haushalt zu erfüllen, was bisher mehr recht als schlecht geklappt hatte.

    Mir wurde augenblicklich heiß und kalt und mein spontaner Ruf Andy! hallte durchs Haus.

    Was ist?, fragte er unwillig und drehte sich im Türrahmen des Büros zu mir um. Ich stand im Flur und hatte das Gefühl, gleich vor lauter Panik ohnmächtig zu werden. Was sollte ich bloß sagen bzw. tun, um ihn vom Rechner fernzuhalten?

    In meinem Kopf ratterte es fieberhaft, bis mir endlich etwas einfiel: Da Du gerade hier bist: Wärst Du bitte so lieb und würdest kurz den Gartenschlauch richtig anschließen? Er springt mir immer ab, sobald ich das Wasser aufdrehe.

    Andy verdrehte die Augen: Och, Merle, ehrlich, kann das nicht bis heute Abend warten, ich habe es verdammt eilig.

    Ich trat einen Schritt näher an ihn heran, legte ihm beide Hände auf die Brust und blickte ihm bittend in die Augen: Bitte, das geht doch sicher ganz schnell und ich muss unbedingt die Pflanzen draußen gießen, bevor sie vertrocknen.

    Kurz hatte ich das Gefühl, dass Andy doch lieber erst ins Büro gehen würde, aber ich bemerkte sein Zögern und letztlich drehte er sich zur Wohnzimmertür und verschwand im Garten.

    Erleichtert atmete ich aus. Mir war bewusst, dass ihn diese verzweifelte Aktion von mir nur sehr kurz beschäftigen würde, denn der Gartenschlauch saß natürlich bombenfest. Lediglich tropfte er ein wenig, aber er war durchaus zu gebrauchen.

    Ich stürzte also schnell ins Büro und bewegte die Maus, damit der Ruhemodus beendet wurde. Der Bildschirm wurde hell und Tom`s Lächeln erschien auf dem Bildschirm. Hektisch bewegte ich die Maus hin und her. Verflixt nochmal, wir brauchten dringend einen schnelleren Rechner, fluchte ich innerlich.

    Während ich mit einem Ohr angestrengt nach draußen lauschte, versuchte ich irgendwie den gerade stockenden Mauszeiger in Bewegung zu bringen. Das darf doch wohl nicht wahr sein, warum hängt dieser blöde Computer sich ausgerechnet jetzt auf?

    Merle, rief Andy von draußen, was ist bitte das Problem? Der funktioniert doch einwandfrei.

    Ich hörte seine Schritte, die langsam näher kamen und fing verzweifelt an, wie wild auf der Maus herumzuklicken. Endlich bewegte sich was, aber ... Oh nein, bevor ich endlich oben rechts das Kreuz zum Schließen des Bildschirmfensters drücken konnte, hatte ich gerade noch Gelegenheit die Worte zu lesen, die mittig auf der Seite erschienen: IHRE NACHRICHT WURDE GESENDET.

    Als Andy den Raum wieder betrat, stand ich schweißgebadet und mit bis zum Hals klopfendem Herzen vor dem Computer und starrte immer noch wie gebannt auf den Bildschirm, auf dem nun aber keine Facebook-Seite mehr aufleuchtete, sondern ein Bild meines lachenden Sohnes, welches ich als Hintergrundbild festgelegt hatte.

    Merle? Du hast mir nicht geantwortet: Der Schlauch sitzt doch fest. Was hast Du denn für ein Problem damit?, fragte Andy mich ungeduldig.

    Ich wollte gerade zu einer weitschweifenden Erklärung ansetzen, als er mich schon sanft beiseite schob, um auf dem Bürostuhl Platz zu nehmen.

    Ach, das ist komisch, vorhin ist er mir ständig abgesprungen. Vielleicht habe ich ihn jetzt doch so fest dranschrauben können, dass er nun hält. Trotzdem Danke, dass Du kurz nachgesehen hast, bedankte ich mich und legte die Hand auf die Schulter meines Mannes. Er murmelte irgendetwas vor sich hin und beschäftigte sich schon mit dem Lesen seiner Mails.

    Ich begab mich mit immer noch etwas zittrigen Knien zurück in die Küche, um nun endlich das Mittagessen vorzubereiten. Sam würde heute vermutlich ein wenig hungern müssen, da ich es auf keinen Fall mehr schaffen würde, rechtzeitig fertigzuwerden.

    Während ich Karotten und Paprika kleinschnitt, dachte ich über die vergangenen Minuten nach. Was wohl passiert wäre, wenn ich nicht rechtzeitig gewesen wäre oder mein fades Ablenkmanöver mit dem Gartenschlauch nicht funktioniert hätte? Was, wenn Andy die Zeilen gelesen hätte, die seine Frau an einen anderen Mann verfasst hatte? Hätte er es überhaupt gelesen? Vielleicht hätte er auch einfach den Bildschirm minimiert, um sein Mail-Programm zu öffnen ... Ich wusste, dass Andy nichts mehr hasste, als Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit. Daher war mir sehr wohl bewusst, wie sehr er sich heute über sich selbst ärgern musste, weil er die falschen Unterlagen eingesteckt hatte. Vermutlich hätte er tatsächlich gar nicht weiter nachgelesen, was da auf dem Bildschirm stand, sondern sich einfach beeilt, seine Mails zu öffnen, um an seine Unterlagen zu gelangen.

    Ich hörte sein leises Fluchen aus dem Büro und musste lächeln, da Andy vermutlich gerade dasselbe Problem mit unserem langsamen Rechner hatte, über das ich mich vor wenigen Minuten auch geärgert hatte.

    Wenige Minuten später betrat Andy die Küche, stellte seine Aktentasche auf den Barhocker, um einen Ordner herauszunehmen. Die gerade ausgedruckten Seiten schob er hinein und verstaute alles wieder in der Tasche.

    So, erledigt, sagte er und schaute sich dann fragend um, Ist Sam noch gar nicht da?

    Nein, er muss aber jeden Moment reinkommen. Willst Du vielleicht noch kurz warten? Er freut sich bestimmt, Dich mal im Hellen zu sehen, lachte ich.

    Ja, ich würde mich auch freuen, aber ich muss wirklich los, sagte er und beugte sich kurz über die Küchentresen, um mir einen leichten Kuss auf die Wange zu geben. Wir sehen uns heute Abend. Leider wird es wohl spät werden, da ich im Zeitplan nun etwas hinterherhinke.

    Als wäre das was Neues, dachte ich insgeheim, sagte dann aber nur: Kein Problem. Aber wäre es möglich, dass Du morgen ein wenig früher hier bist? Ich würde mich furchtbar gerne mit Anne treffen. Sie hat endlich eine neue Stelle und möchte das gern ein wenig mit mir feiern. Fragend sah ich ihn an.

    Das ist sehr schön für Anne. Wurde ja auch Zeit, dass sie mal wieder ein wenig Auftrieb kriegt. Ich denke, ich kann es einrichten, morgen eher hier sein, hörte ich ihn noch sagen, bevor er durch die Haustür verschwand.

    Lächelnd nahm ich seine aufrichtige Freude über die guten Neuigkeiten zur Kenntnis. Ich wusste, dass er Anne sehr gern hatte, obwohl ihn auch mit Alexander, Anne's Exmann, eine innige Freundschaft verband.

    Wir hatten beide bedauert, dass die Ehe von Anne und Alexander nicht mehr zu kitten gewesen war, und der anschließende erbitterte Scheidungskrieg hatte auch uns ganz schön zugesetzt. Nun traf sich Alexander in der Regel mit meinem Mann, während ich natürlich meiner besten Freundin beistand. Es war schon eine komische Situation, wenn man bedenkt, wie viele gemeinsame Pärchen-Abende und Urlaube uns vier verbanden.

    Gerade als ich den Auflauf in den Ofen schob, sah ich Sam auf seinem Fahrrad um die Ecke biegen. Fröhlich verabschiedete er sich von Felix, dem Nachbarsjungen, der zwar nicht in Sams Klasse ging, aber den gleichen Schulweg hatte.

    Hi Sam, wie war die Schule?, fragte ich, nachdem ich ihm die Tür geöffnet und ihm seinen Schulranzen abgenommen hatte. Er grinste mich breit an uns strahlte aus den gleichen dunkelbraunen Augen seines Vaters, um mit stolzgeschwellter Brust zu sagen: Wir haben die Mathe-Arbeit zurückbekommen und rate mal, was ich habe?

    Hm, eine 3?, riet ich vorsichtig.

    Mama, tadelte er mich, doch keine 3. Ich habe eine 2 geschrieben!

    Er hüpfte auf und ab wie ein Flummi und freute sich unbändig, dass er uns endlich mal eine solche Note in dem von ihm so verhassten Fach Mathe präsentieren konnte.

    Stolz schloss ich ihn in die Arme, wuschelte durch seine kurzen blonden Haare und versicherte ihm, wie stolz auch sein Vater auf ihn sein würde.

    Liebevoll betrachtete ich meinen Sohn, während er seine Jacke auszog und sie auf den Korbstuhl schmiss, der neben der Garderobe stand. Er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte die gleichen blonden, leicht gewellten Haare und seine Augen hatten ein genauso tiefes Braun wie die von Andy. Auch war Sam für sein Alter schon ziemlich groß und da Andy mit 1,94m auch nicht der kleinste Mann war, vermutete ich, dass Sam auch hier mit ihm gleichziehen würde. Na ja, dann würde ich später mit meinen 1,69m wohl zu meinen beiden Männern aufblicken müssen, dachte ich amüsiert.

    Was gibt es denn zu essen?, fragte Sam und schaute neugierig um die Ecke in die Küche, ich habe Bärenhunger!

    Es dauert noch ein paar Minuten, leider war ich heute Morgen etwas zu beschäftigt und ich habe ein bisschen die Zeit vergessen. Vielleicht fängst Du schon mit Deinen Schularbeiten an und ich rufe Dich, sobald das Essen fertig ist?, schlug ich ihm vor.

    Nachdem Sam sich nach oben in sein Zimmer verzogen hatte, räumte ich die Küche auf, deckte den Tisch und schaute in den Ofen, um nachzusehen, wie weit der Auflauf war.

    Als ich am Abend mit einem Glas Wein auf der Terrasse saß, ging ich nochmal die Steuererklärung durch. Leider hatte ich nach dem doch etwas hektischen Nachmittag mit Arztbesuch, Fahrt zum Fußballtraining und diversen noch zu erledigenden Einkäufen, völlig vergessen, die Steuererklärung abzugeben. Einige Kleinigkeiten waren mir nun noch aufgefallen, die es zu korrigieren galt und ich ging rüber ins Büro, um mir die notwendigen Schreibutensilien zu holen.

    Aus Sam's Zimmer klangen die Stimmen einer Hörspiel-CD herunter, die Sam sich abends immer anmachte, wenn er ins Bett ging. Vermutlich war er längst eingeschlafen.

    Im Büro fiel mein Blick auf den Computer. Zögernd ging ich näher, als mir meine morgendliche Aktion wieder in den Kopf kam. Ob Tom bereits auf meine Mail reagiert hatte?

    Selbstverständlich konnte er gar nicht wissen, wer ihm geschrieben hatte. Extra für diese Mail hatte ich mir nämlich ein neues Facebook-Profil mit dem Namen Nurfürdich angelegt. Nurfürdich war mit niemandem befreundet, hatte keinerlei Aktivitäten, außer der einen: Eine Mail an Tom Riedel zu schreiben, die ich heute Vormittag im Eifer des Gefechts tatsächlich versendet hatte.

    Ich schaltete den Rechner ein und wartete, bis das fröhliche Gesicht meines Kindes auf dem Bildschirm erschien. Nachdem ich die Facebook-Startseite geöffnet hatte, tippte ich Nurfürdich und mein dazugehöriges Passwort ein. Unruhig wartete ich den Anmeldevorgang ab und erstarrte Augenblicke später, als Facebook mir rot leuchtend eine ungelesene Nachricht anzeigte.

    Aufgeregt rutschte ich auf dem Bürostuhl hin und her. Natürlich war die Nachricht von ihm ... von niemand anderem konnte sie sein. Ich klickte neugierig auf das Briefkasten-Symbol.

    Tatsächlich, Tom hatte geantwortet, bereits eine Stunde nachdem ich meine Nachricht an ihn heute Vormittag mehr oder weniger aus Versehen versendet hatte.

    Seine Nachricht enthielt nur drei kurze Worte:

    Wer bist Du?

    2

    Tom und ich lernten uns im Frühjahr vor 12 Jahren kennen.

    Ich arbeitete damals schon in dem gleichen Autohaus, in dem ich auch heute noch - allerdings nur noch auf Teilzeitbasis - tätig bin. Ich habe immer gern dort gearbeitet, allerdings gab es zu dieser Zeit ein paar Umstände, die mir das Arbeiten nicht so angenehm machten.

    Mein damaliger Vorgesetzter, Herr Konrad, gerade 50 geworden und mächtig in den Midlife-Crisis, hatte nichts Besseres zu tun, als jedem verfügbaren Rock hinterherzusteigen. Leider gehörte auch meiner dazu, was die Zusammenarbeit mit ihm nicht wirklich leicht machte.

    Da ich seit geraumer Zeit Single war und ich damals befürchtete, dass dieses Dasein sich auch auf absehbare Zeit leider nicht ändern würde, sah er das sozusagen als Freibrief dafür an, mich ständig mit Einladungen zum Abendessen, anzüglichen Witzen und ähnlichem auf den Nerv zu fallen.

    Ich erwog ernsthaft, mich in der obersten Chef-Etage über ihn zu beschweren, war mir aber bewusst, dass seine Arbeit gut war und die Inhaber sicher kein Interesse daran hatten, einen ihrer fähigsten Männer zu verlieren. Wohl oder übel biss ich also in den sauren Apfel und erledigte meine Arbeit weiterhin gewissenhaft und versuchte Herrn Konrad so gut es eben ging zu ignorieren, was natürlich nicht einfach war, wenn man in seinem Vorzimmer saß.

    Als ich schon nicht mehr damit rechnete, ihn jemals loszuwerden, wendete sich das Blatt.

    An einem Montagmorgen kam ich ins Büro, um erstaunt festzustellen, dass Herr Konrad nicht wie gewohnt schon hinter seinem Schreibtisch saß. Ich ging in sein Büro, um nachzusehen, ob im Ausgangskorb Notizen für mich lagen, musste aber feststellen, dass der komplette Schreibtisch leergeräumt war. Sogar die Bilder seiner Frau und seiner Kinder, die immer einen Großteil seines Schreibtisches eingenommen hatten, fehlten und auch weitere persönliche Gegenstände waren verschwunden. Verwirrt drehte ich mich gerade in dem Moment wieder zur Tür um, als Herr Konrad plötzlich im Türrahmen erschien.

    Schau mich nicht so an, Du dumme Kuh, fauchte er mich direkt erbost an und in seinen Augen funkelte es streitlustig.

    Ich zuckte zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

    Er ging an mir vorbei zu dem großen Regal am anderen Ende des Raumes, vor dem noch eine kleine Umzugskiste stand, die mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. Wutschnaubend riss er sie hoch und kam auf mich zu.

    Er baute sich dicht vor mir auf und funkelte mich wütend an: Da habt Ihr Schlampen es also tatsächlich geschafft, mich feuern zu lassen. Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt! Aber glaub mir eins, ich bin noch nicht fertig mit Euch! Er warf mir einen eiskalten Blick aus seinen ohnehin schon kühlen grauen Augen zu. Auch wenn ich wusste, dass diese Worte vermutlich nur leere Drohungen sein würden, zog ich unwillkürlich den Kopf ein.

    Und eins lass Dir gesagt sein: Eine wie Du kriegt eh keinen mehr ab, so prüde wie Du bist. Schau Dich nur an ... diese verstaubten Klamotten, als kämen die direkt aus dem Schrank Deiner Oma. Verächtlich schnaubte er und deutete mit dem Kopf auf meine hochgeschlossene cremefarbene Bluse und die weite schwarze Hose, die, wie ich zugeben musste, wirklich etwas unvorteilhaft war. "Du hättest Dich lieber ein bisschen mit mir vergnügen

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