Die Ruhe der Pharaonen
Von Jay Baldwyn
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Buchvorschau
Die Ruhe der Pharaonen - Jay Baldwyn
Kapitel 1
Prolog
Der halbwüchsige Junge wähnte sich in einem Albtraum oder in einem Horrorfilm, in dem er Zuschauer und Akteur zugleich war. Ängstlich wurde er sich bewusst, dass er ganz allein war und niemanden um Hilfe ersuchen konnte. Seine trockene Kehle erlaubte nicht einmal zu schreien. Die Atmosphäre des nüchternen Hotelzimmers hatte sich von einem Moment auf den anderen verändert. Schuld daran war eine furchteinflößende Gestalt, die aus dem Nichts aufgetaucht war und aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen schien. Der halbnackte Mann, dessen Haut eine tiefe Brauntönung aufwies, trug nur eine Art Tunika und Sandalen an den Füßen. Während der Oberkörper durchtrainiert und muskulös wirkte, war sein Kopf seltsam deformiert und ähnelte dem eines Krokodils, einschließlich des Mauls mit gefährlich spitzen Zähnen. Die langen schwarzen Haare, die ein seltsamer Schmuck krönte, wollten so gar nicht zu dem Tierkopf passen, sodass seine Erscheinung eher einer Karnevalsmaskerade glich, aber die böse funkelnden, glühenden Augen standen im Gegensatz dazu. Seine Stimme, die merkwürdig verhallt klang, formte kehlige Laute einer fremden Sprache.
Obwohl der Junge kein Wort verstand, spürte er die fast greifbare Drohung, die von der Botschaft ausging. Als die Schauergestalt sich langsam in Bewegung setzte, fiel die Schockstarre für einen Moment von dem Teenager ab, sodass er in den Nebenraum flüchten konnte. Als er drinnen an der geschlossenen Tür herunterrutsche und seinen Kopf schutzsuchend zwischen den Knien verbarg, bemerkte er, dass er sich nass gemacht hatte.
Kapitel 2
Vier Tage früher:
Michel war sehr froh gewesen, den kühlen Temperaturen des März in Paris für die Dauer der Winterferien zu entkommen und in die Sonne fliegen zu können. Dennoch war er dann vor Ort von der Idee, sich auf eine Shoppingtour zu begeben, nicht sonderlich begeistert. Schließlich war er nach Luxor gereist, um die Kulturschätze Ägyptens zu bewundern, allen voran das Tal der Könige, die derzeitige Arbeitsstätte seines Vaters Alain. Michel hatte den Verdacht, dass seine ältere Schwester Jeanne ihren Willen bei den Eltern durchgesetzt hatte, weil sie sich erhoffte, einen besonders exotischen Fummel zu finden, mit dem sie bei ihren Freundinnen daheim in Paris angeben konnte. Alain veranlasste nämlich sein schlechtes Gewissen, darüber, dass er schon Monate von seiner Familie getrennt war, seinen Kindern annähernd jeden Wunsch zu erfüllen, was Jeanne mitunter schamlos ausnutzte. Mutter Catherine tat ihr Bestes, den im Ausland weilenden Vater zu vertreten, geriet aber gelegentlich an ihre Grenzen, denn es war nicht einfach, einen lebhaften Dreizehnjährigen und eine verwöhnte Sechzehnjährige zu bändigen.
Die Tatsache, dass der Bazar Sharia el Birka sich in unmittelbarer Nähe des palastartigen Hotels Sofitel Old Winter Palace befand, veranlasste Jeanne maulend zu bemerken, warum sie nicht dort, sondern „nur" im Shehrazade abgestiegen waren. Alain überhörte den Vorwurf, der zudem auch noch sehr ungerecht war, denn das Shehrazade mit seiner kleinen Kuppel, den anmutigen Domen und dem insgesamt orientalischen Touch hatte durchaus das Flair der Geschichten aus 1001 Nacht. Sein Besitzer hatte sich damit einen Traum erfüllt und sogar eine sechsjährige Bauzeit in Kauf genommen. Alain Duval erklärte seiner Tochter mit Engelsgeduld, dass das Shehrazade Hotel mit seinem Standort auf der Westbank wesentlich günstiger für ihn gelegen war, denn vom Dorf Geziret El Beirat konnte er das Tal der Könige in kaum fünfzehn Minuten mit dem Geländewagen erreichen und musste nicht erst von Luxor aus den Nil mit dem Boot überqueren. Deshalb hatten auch er und seine Kollegen dort Quartier bezogen. Außerdem verfügte das Hotel über alle Annehmlichkeiten einer großen Hotelanlage, bot aber die Gemütlichkeit eines kleineren familiär geführten Hotels. So war es kein Problem gewesen, sein Einzelzimmer für die Dauer des Besuches seiner Familie gegen zwei Doppelzimmer einzutauschen.
Die Quengelei seiner Schwester hatte Michels Laune noch verschlechtert. Er erhoffte sich kaum etwas von dem Besuch des traditionellen Basars Sharia el-Birka, auf dem man von Teppichen und Kleidungsstücken bis hin zu den üblichen Silberarbeiten ziemlich alles fand. Daneben würde es bestimmt jede Menge „Antiquitäten" geben, die in Wahrheit nur neue, geschickt bearbeitete Stücke waren, um ihnen ein antikes Aussehen zu verleihen, dachte Michel. Wenn er Lust auf die Atmosphäre eines orientalischen Basars hatte, brauchte er schließlich in Paris nur in das Barbès-Viertel, gleich neben dem Montmartre mit seiner Sacré Coeur fahren.
Michels Vorschlag, lieber den Basar Wekalat Al-Balah in Kairo aufzusuchen, war auf wenig Gegenliebe gestoßen. Zwar handelte es sich dabei um ein ganzes Viertel mit Gassen, in denen es palastartige Läden, bis zu drei Etagen hoch und von weißen Säulen gestützt, gab. Und Stoffe, neue und gebrauchte Kleidung, zu Ballen geschnürte Vorhänge, bis hin zu Bettwäsche sollte es dort in Hülle und Fülle geben, aber der Nachteil war, dass Michel die Entfernung wesentlich unterschätzte. Immerhin betrug die Luftlinie zwischen Luxor und Kairo zirka fünfhundert Kilometer, auf dem Landwege sogar mehr als sechshundert. Man hätte also eine über siebenstündige Fahrt auf sich nehmen müssen, wozu das Ehepaar Duval keineswegs bereit war.
So unterdrückte Michel seine Unlust und nahm sich vor, das Beste aus der Shopping-Tour zu machen. Da sich der Basar räumlich nur vergleichsweise bescheiden ausdehnte, würde sich der Zeitaufwand in Grenzen halten.
Tatsächlich war Michel es dann, der am meisten herumstöberte und die abgelegensten Winkel untersuchte, bis er plötzlich ganz verschwunden war.
Während Alain sich kaum Sorgen machte, weil er sich kaum vorstellen konnte, dass sein Sohn ernsthaft in Gefahr war, Jeanne nur genervt reagierte, weil der kleine Bruder wieder mal „Zicken" machte, geriet Catherine mehr und mehr in Unruhe und bestand darauf, Michel zu suchen. Der tauchte nach geraumer Zeit mit verstrubbelten Haaren und staubigem Gesicht wieder auf und konnte den Unmut der Familie nicht verstehen.
»Ich bin schließlich kein Baby mehr«, sagte er trotzig, »was soll mir hier schon passieren? Hattet ihr Angst, man hätte mich in die Wüste entführt?«
»Keine schlechte Idee, dann wären wir dich wenigstens los«, bemerkte Jeanne und kassierte dafür von ihrer Mutter einen bösen Blick.
»Es gehört sich einfach nicht, seine Mutter derart in Sorge zu versetzen«, meinte Alain, »das dürftest du in deinem Alter langsam begriffen haben, junger Mann.«
»Jetzt bin ich ja wieder da, also könnt ihr euch wieder abregen.«
»Wie siehst du eigentlich aus?«, fragte Catherine, »hast du in einem Müllhaufen herumgewühlt? Und was ist das für ein Päckchen, das du krampfhaft vor uns zu verbergen suchst?«
»Das sollte eine Überraschung sein. Es ist ein uraltes Spiel, mit dem wir uns die langweiligen Abende versüßen können. Fernsehen auf dem Zimmer gibt es ja hier nicht und wie ich das einschätze, werden die ohnehin nicht vorhandenen Gehsteige hier abends hochgeklappt.«
»Entschuldige, dass wir dir nicht den Komfort eines Fünf-Sterne-Hotels bieten«, sagte Catherine immer noch verärgert, »wir sind davon ausgegangen, dass du hauptsächlich deinen Vater wiedersehen willst, und abends von all den neuen Eindrücken todmüde ins Bett fallen wirst.«
»So war es ja nicht gemeint«, lenkte Michel ein, »ich dachte nur, vielleicht habt ihr Lust…«
»Zeig mal her, was man dir da angedreht hat, wahrscheinlich eine der „echten" Antiquitäten, die man eigens für diese Zwecke herstellt.« Alains Tonfall war sachlich und ohne Hohn, trotzdem fühlte Michel sich angegriffen.
»Ganz so blöd bin ich nun auch nicht, die Karten sind ziemlich abgegriffen, mit Hieroglyphen verziert und weisen Sprüche in arabischer Sprache darauf. Sie müssen schon sehr alt sein. Ich habe sie in einer dunklen Ecke gefunden, und der Händler wollte sie auch zuerst auf keinen Fall hergeben.«
»Ja, das sagen sie alle«, lachte Alain, »und wie viel hat man dir schließlich abgeknöpft? Du hattest doch kaum Bargeld dabei.«
»Der Verkäufer war an Währung nicht interessiert, er wollte lieber mein Handy haben.«
»Das du ihm hoffentlich nicht gegeben hast«, rief Catherine aus, »es war immerhin ein Geschenk deines Vaters.«
»Ach, maman, da gibt es doch dauernd Neuerungen bei den Telefonen. Ich konnte mit meinem ja nicht einmal ins Internet gehen.«
»Na, wie schrecklich«, zog ihn Jeanne auf, „wozu auch? Das kannst du zu Hause von deinem Laptop erledigen, da kann man wenigstens noch halbwegs kontrollieren, wie viel du herumsurfst.«
»Das musst du gerade sagen.«
»Warum hast du das Telefon nicht mir gegeben, wenn es dir nicht mehr fein genug war?«, sagte Jeanne, »hast wohl gedacht, ich kann damit nicht umgehen? Aber da täuschst du dich. Im SMS-Schreiben bin ich kaum zu schlagen.«
»Das denke ich mir, so was können ja auch schon Babys. Warum stehst du eigentlich noch hier rum? Du wolltest doch sicher nach einem neuen Fummel suchen, damit deine Freundinnen grün vor Neid werden.«
»Weil wir zusammenbleiben wollten, wenn du es genau wissen willst, du Hörnie. Nur du hast dich nicht daran gehalten und uns allen damit den Tag versaut.«
»Ich bin ziemlich enttäuscht, wie wenig du meine Geschenke wertschätzt«, unterbrach Alain das Streitgespräch seiner Kinder, »das nächste Handy wirst du dir selbst von deinem Taschengeld kaufen müssen. Wie ich dich kenne, wird es ein Smartphone sein und dementsprechend eine Weile dauern, bis du genug zusammengespart hast.«
»Es tut mir leid. Ich war wohl etwas unüberlegt.«
»Entschuldigung angenommen. Ich weiß, dass man manchmal schwer wiederstehen kann, wenn man sich einbildet, etwas unbedingt haben zu wollen. Wir werden zurückgehen und es gegen Bargeld eintauschen, aber vorher will ich mir den Plunder noch genauer ansehen.«
Alain Duval wickelte den Kartenstapel aus, bei dem sich noch eine kleine Schriftrolle befand, und pfiff bald darauf anerkennend durch die Zähne.
»Wenn das eine Fälschung ist, dann eine sehr gute. Ich muss mir das einmal unter der Lupe ansehen, aber ich vermute, dass die arabische Schrift erst später hinzugefügt wurde. Die Karten mit den Hieroglyphen müssen wirklich sehr alt sein. Das Material, aus dem sie angefertigt wurden, ist jedenfalls sehr ungewöhnlich und hat nicht das Geringste mit dem zu tun, woraus man heutzutage Spielkarten herstellt.«
»Das ist ja alles sehr interessant«, maulte Jeanne, »aber können wir jetzt endlich weitergehen, oder muss sich immer alles um den Knirps drehen?«
Catherine legte beschwichtigend ihre Hand auf Jeannes Arm. »Ich mache euch einen Vorschlag. Jeanne und ich sehen uns mal bei der Kleidung um und du, Alain, gehst mit Michel zu dem Händler zurück. In einer knappen Stunde treffen wir uns dann wieder hier, in Ordnung?«
»Ja, so machen wir es, Liebling. Aber lasst euch nicht übers Ohr hauen. Feilschen ist hier oberstes Gebot. Bei zwei Frauen wird man leichte Beute wittern.«
»Keine Sorge, im Preisaushandeln bin ich Spitze«, sagte Catherine, hakte Jeanne unter und verschwand kurz darauf mit ihr in der Menge.
»Was wolltest du denn mit dem Spiel?«, fragte Alain Michel, »du kennst dich weder mit Hieroglyphen aus noch bist du der arabischen Sprache mächtig.«
»Wir haben doch dich«, grinste Michel, »du bist bei beidem Experte.«
»Was die Hieroglyphen angeht schon, aber falls es sich bei der Schrift um einen seltenen arabischen Dialekt handelt, kann es schwierig werden.«
»Du schaffst das, da bin ich mir sicher.«
Michel versuchte später, sich an den eingeschlagenen Weg zu erinnern, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte weder den Laden noch den Händler wiederfinden, die sich in beiden Fällen ohnehin alle sehr ähnelten. Nachdem sie schon die Hälfte über die verabredete Zeit waren, kamen sie unverrichteter Dinge zum Treffpunkt zurück und wurden schon ungeduldig erwartet. Jeanne trug eine nagelneue Sonnenbrille, mit der sie ziemlich affig aussah, wie Michel fand, und eine Tüte in der Hand, in der sich ein wahrscheinlich ebenso scheußliches Kleid befand.
»Wo bleibt ihr denn?«, fragte Catherine und schoss kleine Blitze aus ihren grüngrauen Augen ab, »deine Tochter stirbt schon vor Hunger.«
»Wenn sie’s nur täte…«, grummelte Michel.
»So etwas sagt man nicht, noch nicht einmal im Scherz, verstanden?«, rief ihn Catherine zur Ordnung, »wie ich sehe, habt ihr das Päckchen immer noch. Wollte es der Händler nicht zurücknehmen?«
»Wir haben ihn nicht gefunden. Er war wie vom Erdboden verschwunden.«
»Na, das kann ja heiter werden. Vielleicht solltet ihr am besten gleich alles in den Nil werfen. Das Ganze kommt mir nicht geheuer vor.«
»Auf keinen Fall, maman, nicht bevor papa alles entziffert hat«, protestierte Michel, »vielleicht führen uns die Karten zu einem unentdeckten Grab. So eines, wo noch kein Grabräuber am Werk war.«
»Ja, bestimmt. Deshalb hat der Händler auch dir das Spiel überlassen, weil er selbst nicht an einer derartigen Sensation interessiert ist.«
»Vielleicht konnte er die Schriften nicht entziffern, deshalb waren sie für ihn wertlos.«
Catherine lachte. »Ja, träum weiter, du bist eben so ganz der Sohn deines Vaters. Ich warte nur auf den Tag, wo du selbst Ausgrabungen durchführen willst.«
»Warum nicht? Was ist schlecht daran, wenn man in die Fußstapfen seines Vaters treten will?«, fragte Alain.
»Nichts, Liebling, nur lass ihn noch etwas älter werden. Vielleicht will er später einmal lieber zum Mars reisen. Da gibt es sicher auch eine Menge zu buddeln.«
»Pah«, machte Michel, »wer will schon Astronaut werden? Das ist doch Schnee von gestern.«
Als sie später gut gesättigt mit einem der Boote den Nil überquerten, waren alle froh, dass es nur wenige Minuten bis zum Hotel war. Sie gingen die wenigen Meter von der Anlegestelle bis zur Hauptstraße, überquerten diese, bogen in Höhe eines kleinen Gemüseladens zweimal links ab und erreichten nach knapp 150 Metern das Hotel. Sie hätten natürlich auch im Shehrazade im Gartenrestaurant oder im Restaurant auf der Dachterrasse zu Mittag essen können, aber den herrlichen Blick auf Luxor und den Nil wollten