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Mechanical: Der Tod fuhr Achterbahn
Mechanical: Der Tod fuhr Achterbahn
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eBook222 Seiten3 Stunden

Mechanical: Der Tod fuhr Achterbahn

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Über dieses E-Book

Coney Island, das Vergnügungszentrum New Yorks ist Schauplatz einer unheimlichen Geschichte. Seit Jahrzehnten ereignen sich dort ungeklärte Todesfälle oder es verschwinden Personen, die nie wieder auftauchen, Bei diesen Fällen sieht niemand einen Zusammenhang. Vielmehr vermutet man bei den Unfällen Materialermüdung oder technisches Versagen und bei den Vermisstenmeldungen Ehetragödien dahinter. Ein Detective – Investigator, der aus Chicago stammend neu zum New York Police Departement dazu stößt, nimmt sich der Sache an. Zeugenaussagen zufolge wurde meist eine mechanische Puppe am Unglücksort gesehen oder ein keuchendes Atmen bzw. eine Art Pfeifen gehört, findet er heraus.
Schließlich laufen alle Fäden in einem ehemaligen Etablissement außerhalb der Vergnügungsparks zusammen.
Die Leser werden in die Welt der Jahrmarktattraktionen entführt, über die gesamte Zeit des vergangenen Jahrhunderts. Sie erfahren viel über die zeitweiligen Vergnügungsparks auf Coney Island und können einen Blick hinter die Kulissen werfen. Vor ihren Augen läuft die Entwicklung des Vergnügungsgewerbes ab. Von den Anfängen mit seinen Auswüchsen wie den "Freak"-Shows, bis hin zu den immer gefährlicher werdenden Fahrgeschäften. Vom Aufblühen bis zum Untergang der unterschiedlichen Parks. Sie machen Bekanntschaft mit Kleinwüchsigen, Tiermenschen, Allesfressern, Magiern, usw.
Ein Mystery-Thriller, der spannend unterhält, aber auch verstört.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Juni 2014
ISBN9783847694755
Mechanical: Der Tod fuhr Achterbahn

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    Buchvorschau

    Mechanical - Jay Baldwyn

    1.

    Shirley O’ Brian wartete geduldig vor dem Fahrgeschäft „Hell’s Gate" - Tor zur Hölle. Ihr taten die Füße weh, denn sie war mit ihrer kleinen Familie schon seit Stunden unterwegs. Ihr Söhnchen Jim hatte unbedingt zum Abschluss dieses aufregenden Tages mit seinem Daddy Sean Geisterbahn fahren wollen. Am liebsten auch mit Mom, weil die immer so schön schrie, wenn sie sich erschreckte, aber Shirley hatte dankend verzichtet und Sean wie immer seinem Sprössling den Wunsch nicht abschlagen können.

    Sie waren zuvor schon Stunden im Luna Park gewesen, dem großen Vergnügungspark auf Coney Island, der im Karree Neptune Avenue, 8. Straße West, Surf Avenue und 12. Straße West lag. In früheren Jahren waren die meisten Attraktionen sogar um eine künstlich angelegte Lagunenstadt im orientalischen Baustil gruppiert, die vom sechzig Meter hohen Electric Tower überragt wurden.

    Der siebenjährige Jim hatte die unzähligen Giebel und Türmchen, die durch Hunderttausende Glühbirnen in verschiedenen Farben beleuchtet wurden, bestaunt. Sie hatten Attraktionen gesehen wie die „Reise zum Mond" und „War of the Worlds - Krieg der Welten.

    Die Surf Avenue war erfüllt von drängelnden Erwachsenen und aufgeregt lärmenden Kindern, die wie Jim nicht genug von den Fahrgeschäften, Schießbuden und Imbissständen bekommen konnten. Die bekannten Vergnügungsparks wiesen nur einen Teil der Fahrgeschäfte auf Coney Island auf, daneben existierten entlang der Surf Avenue und der Bowery Street Achterbahnen, Karussells, Schießbuden, aber auch Tanzlokale, Theater, Hotels, Restaurants und Bierzelte.

    Shirley verlor langsam die Geduld. Irgendwann mussten Sean und Jim doch genug von der Geisterbahn haben. Auch wenn sie zwei- oder dreimal gefahren waren, hätten sie schon längst wieder draußen sein müssen. Aber aus den seitlich gelegenen Türen neben dem Kassenhäuschen waren stets nur fremde Kinder und Erwachsene herauskommen. Beherzt ging sie zu der bebrillten Dame hinter dem Glasfenster, die sie an einen der Gehilfen verwies, die den aus- und einsteigenden Fahrgästen behilflich waren.

    „Haben sie einen siebenjährigen Jungen in Begleitung seines Vaters gesehen? fragte sie den etwas schmuddlig wirkenden Burschen. „Beide haben auffallend rötlich blonde Haare.

    „Davon habe ich heute ungefähr schon zwei Dutzend gesehen, aber in der letzten halben Stunde nicht."

    „Aber das gibt’s doch gar nicht" Shirley war am Ende ihrer Weisheit. Kopflos lief sie die Surf Avenue entlang, weil sie plötzlich glauben wollte, dass Sean vielleicht von den Menschenmassen in eine Richtung gedrängt worden war, in die er gar nicht gewollt hatte, ohne dass es Shirley aufgefallen war.

    Nachdem sie das gesamte Areal um den Luna Park herum erneut abgelaufen war, kamen ihr vor Erschöpfung die Tränen. Kraftlos rutschte sie an einer Laterne herunter, wo sie wie ein Häufchen Elend sitzen blieb.

    „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Ma’am?" fragte ein auf sie aufmerksam gewordener Cop.

    „Ich habe meinen Mann und meinen Sohn im Gedränge verloren, sagte Shirley weinerlich. „Ich bin jetzt seit über einer Stunde unterwegs, ohne Ergebnis.

    „Wo haben Sie denn die beiden zuletzt gesehen?" fragte der etwas ältere Mann mit beruhigendem Tonfall seiner Stimme.

    „Vor dem Hell’s Gate. Ich habe draußen auf sie gewartet. Aber sie sind zwar hineingegangen, jedoch nicht mehr herausgekommen."

    „Nun, das würde bedeuten, dass sie noch immer drin sind, nicht wahr? Vielleicht hat es einen kleinen Unfall gegeben, und einer der Wagen ist aus den Schienen gesprungen. Haben Sie dort nachgefragt?"

    „Ja, natürlich, aber der junge Mann wusste nichts von einem Unfall. Der Betrieb ging ja auch ganz regulär weiter."

    „Dann haben Sie sie beim Herauskommen übersehen. Vielleicht sind sie längst auf dem Nachhauseweg."

    „Aber reden Sie doch keinen Unsinn, mein Mann würde mich nie …, Entschuldigung, Sir. Aber ich bin vor Sorge schon ganz verrückt."

    „Führen Sie eine gute Ehe? Verzeihen Sie die Frage …"

    „Ja, wir lieben uns, und unser Sohn ist ein wahrer Sonnenschein, unser Ein und Alles."

    „Ich frage nur deshalb, weil es doch sein könnte, dass ihr Mann die Gelegenheit genutzt hat, um …"

    „Das ist völlig ausgeschlossen, vergessen Sie’s. Das würde er nie tun. Und es gibt auch keine andere Frau, um ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen. Wie gesagt, wir führen eine außergewöhnlich glückliche Ehe."

    „Dann würde ich vorschlagen, dass Sie jetzt nach Hause fahren. Vielleicht warten die beiden dort schon. Und falls nicht, kommen sie eventuell später. Notfalls können Sie dann morgen eine Vermisstenanzeige aufgeben. Es müssen ohnehin eine Anzahl von Stunden vergangen sein, bis …"

    „Ja, ich weiß. Danke, aber ich gehe vorsichtshalber noch einmal zur Geisterbahn zurück."

    „Dann viel Glück, good bye." Der Polizist tippte mit der Hand an seine Mütze und verschwand kurz darauf im Gewühl.

    Shirley ging mit letzter Kraft zum Hell’s Gate zurück. Schon von weitem sah sie die etwas Furcht einflößende Puppe, die mechanisch betrieben wurde, und deren Bewegungen deshalb etwas abgehackt und unheimlich wirkten. Sie trug ein Kostüm wie Dracula, hatte blutunterlaufene Augen und lange Reißzähne. Auf ihrem Schoß saß eine ebenfalls mechanisch betriebene Kinderpuppe, aus deren kleinen, roten Mund auch bereits kleine Vampirstiftzähne herausschauten.

    Beim Näherkommen glaubte Shirley ihren Augen nicht trauen zu können. Es waren Sean und Jim, die sich mit abgehackten Bewegungen wie Puppen bewegten. Das konnte doch nur ein makabrer Scherz sein. Shirley ging auf die beiden zu und versuchte, Jim kraftvoll von Seans Schoß herunterzuziehen. Das bewirkte, dass die Puppe einen Arm verlor und noch groteskere Bewegungen machte. Als Shirley sich auf Sean warf und dabei ein Bein abbrach, und die Lücke den Blick auf einen Teil der Mechanik freigab, fing sie hysterisch an zu schreien, bevor alles Schwarz um sie herum wurde und sie von den Gehilfen des Fahrgeschäftes ohnmächtig davongetragen wurde.

    Der Name Coney Island erschien zum ersten Mal Mitte des 16. Jahrhunderts auf einer Karte. Zu einer Zeit, als New York noch Nieuw Amsterdam hieß. Der Begriff stammte von der niederländischen Kolonie Conyne Eylandt, wurde unter den Briten zu Conney Isle und dann zu Coney Island.

    Die kurze Entfernung zu New York machte die Halbinsel Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Badeort für Reiche, deshalb entstanden immer mehr Hotels mit wohlklingenden Namen wie „Tivoli und „Windsor. Gleichzeitig blühten aber auch Prostitution und Glücksspiel auf.

    Der Umstand, dass man für nur fünfzig US-Cent von Manhattan aus mit dem Raddampfer zu der Insel kommen konnte, ermöglichte auch der ärmeren Bevölkerungsschicht den Besuch von Coney Island. Eigens eingerichtete Eisenbahnstrecken beförderten zusätzlich die Menschenmassen. Neben zahlreichen Strandbädern dienten Tanzlokale und Fahrgeschäfte der Unterhaltung der Besucher.

    Das Dreamland war der dritte Vergnügungspark in Folge, der neben dem Steeplechase Park und dem Luna Park 1904 auf Coney Island entstand. Es bot vor allem Fahrgeschäfte des Science-Fiction-Genres. Daneben konnte man Shows in einer großen Halle besuchen. Klein-Venedig mit Canale Grande und dem Markusplatz oder das von Zwergen bewohnte Lilliputia.

    James March hatte sich von Kindesbeinen an für den Bau und die Entwicklung von Achterbahnen interessiert. So wusste er, dass bis 1888 schon an die fünfzig Achterbahnen in Europa und Amerika gebaut worden waren. In den 1920er Jahren sollten der Thunderbolt – Donnerblitz, der Tornado und der Cyclone hinzukommen. Der Tornado sollte aufgrund eines Feuerschadens erst fünfzig Jahre später, im Jahre 1977, abgerissen werden, der Thunderbolt sogar erst im November 2000.

    Aber all das würde nach James Marchs Zeit geschehen. Zur Eröffnung des Dreamland 1904 war er mit knapp vierzehn Jahren freilich noch zu jung gewesen, um dort tätig sein zu können, aber er hatte mit großen Augen die Attraktionen bestaunt.

    Im Jahre 1911 war James stolz gewesen, als Volljähriger im Dreamland angestellt zu werden. Der im selben Jahr errichtete Giant Racer - Riesenrenner, der damals größten Achterbahn auf Coney Island, war sein Refugium gewesen. Dort war er jeden Tag mit Spaß und Freude zur Arbeit gegangen. Allerdings nur für eine Saison, denn nach dem Ausbruch eines Feuers, ausgelöst durch Reparaturarbeiten in der Geisterbahn, war das Dreamland bis auf den aus Stahl gebauten Giant Racer vollständig niedergebrannt. Nach der Liquidierung des Unternehmens entstanden auf dem westlichen Teil des Geländes ein Streichelzoo und eine Western-Show.

    James hatte sich daraufhin im Luna Park für das „Loop the Loop, der ersten Achterbahn der Welt mit Looping, beworben, war aber „nur bei der Wildwasserbahn „Shoot-the-Chutes - Schussfahrt" untergekommen. Beide waren aus dem 1902 geschlossenen Sea Lion Park übernommen worden.

    Heimlich träumte James aber von etwas ganz anderem. Er hatte im Laufe der Jahre etwas Geld angespart und wollte sich außerhalb der großen Parks in der Surf Avenue oder Bowery Street ansiedeln. Er wollte eine Art Kuriositäten-Kabinett eröffnen. Die Idee war ihm angesichts der Lilliput-Show im Dreamland gekommen. Neben allen möglichen außergewöhnlichen Erscheinungen sollte es auch Schönheitstänze und „lebende Fotografien bei ihm geben, die beide denselben Zweck erfüllten, notdürftig bekleidete hübsche junge Frauen anzuschauen. Damit würde er Geld machen können; er brauchte nur noch die entsprechend zugkräftigen „Damen zu finden. Um eine eigene Achterbahn betreiben zu können, reichten seine Ersparnisse ohnehin nicht.

    Ganz in der Nähe fand James eines schönen Tages auch das Objekt seiner Begierde. Eine junge Frau mit aufregenden Kurven und dem Glitzern der Erfolgssüchtigen in den Augen sonnte sich, ohne dabei ihre Umgebung aus den Augen zu lassen. Ihr war der Mittdreißiger mit den ersten feinen Silberfäden an den Schläfen schon längst aufgefallen, bevor er sich frech neben sie setzte.

    „Hi, passen Sie nur auf, dass Sie sich Ihre Alabasterhaut nicht verbrennen, wäre wirklich schade drum."

    „Wer sagt das? Wenn Sie ein billiges Abenteuer suchen, sind Sie an der falschen Adresse."

    „Wer das sagt? Ich, und so wahr ich James March heiße, erkenne ich, dass Sie mit Ihrer Figur groß herauskommen können."

    „Ach, die Masche. Jetzt müssen Sie nur noch sagen, dass Sie vom Film sind und einen neuen Star suchen …"

    „Nicht ganz. Aber Sie könnten die Hauptattraktion in meinem Schaugeschäft werden. Die Leute werden Schlange stehen."

    „Das ist ja lieb gemeint, aber angeglotzt werde ich schon genug von den Gästen der Bar, in der ich arbeite. Mein Traum sieht ganz anders aus. Man soll mich ansehen, ja, aber nicht, weil ich hübsch bin, sondern weil ich einen interessanten Charakter verkörpere. Als Bühne kommt für mich nur eine Theaterbühne infrage, keine eines drittklassigen Etablissements."

    „Gefällt mir, dass Sie klare Vorstellungen von Ihrer Zukunft haben. Aber warum zwei Schritte vor dem ersten machen? Als meine Hauptattraktion werden Sie von mehr Menschen gesehen als jemals in Ihre Bar kommen werden. Hat denn die Dame mit den großen Plänen auch einen Namen?"

    „Ja, den hat sie, und den sollten Sie sich gut merken. Ich heiße Tallulah Greene. Diesen Namen werden Sie eines Tages in großen Lettern auf dem Broadway lesen können."

    „Das kann ich mir sogar vorstellen, bei dem klangvollen Namen, und dem Aussehen."

    Tallulah sah ihn interessiert von der Seite an. Vielleicht hatte der freche Kerl gar nicht so Unrecht. Vielleicht würde eine Bühne, auf der sie alle möglichen Leute sehen könnten, auch die entsprechend Einflussreichen und Talentsucher, eine Art Sprungbrett für sie sein.

    „Und wann kann man sich den Schuppen mal ansehen?" fragte sie nassforsch.

    „Den gibt es noch gar nicht. Ich kann ja nicht das Pferd von hinten aufzäumen und erst Attraktionen suchen, wenn der Laden schon eröffnet ist."

    „Ach so, dann suchen Sie mal schön ihre Attraktionen. In einem halben Jahr können Sie mich dann ja mal anrufen", lachte Tallulah.

    „Vielleicht darf ich das schon früher tun, vielleicht morgen."

    „Sie sind einer von der ganz schnellen Truppe, was?"

    „Nun ja, der frühe Vogel fängt den Wurm. Nicht, dass Sie mir noch einer vor der Nase wegschnappt. Außerdem könnten Sie mir behilflich sein. Vielleicht haben Sie noch hübsche Freundinnen oder Verbindung zu etwas ungewöhnlichen Leuten wie Kleinwüchsige, Deformierte, Halbmenschen oder was weiß ich."

    „Sie trauen mir ja eine Menge zu. Nein, Ihre Freaks müssen Sie schon selbst suchen; die eine oder andere Freundin könnte ich unter Umständen liefern."

    „Also, Tallulah, dann machen wir Nägel mit Köpfen. Morgen gehen wir ein geeignetes Objekt suchen, einverstanden?"

    „Einverstanden. Hoffentlich bereue ich es nicht eines Tages, aber Sie haben so schöne grüne Augen, denen man kaum widerstehen kann", grinste Tallulah.

    „Umso besser, damit wäre die Basis geschaffen", antwortete James. Und die Doppeldeutigkeit seiner Aussage war durchaus beabsichtigt.

    James fand am nächsten Tag in Begleitung von Tallulah einen etwas heruntergekommenen ehemaligen Show-Room in der Bowery Street, der inzwischen geschlossen, aber von der Anlage durchaus geeignet war, etwas daraus zu machen. So konnte man die vorgelagerte schmale Terrasse zu einer weithin sichtbaren Showbühne umbauen, die freilich nur den Sinn haben sollte, die Besucher ins Innere des Etablissements hineinzulocken. Dort würden sie dann gegen entsprechendes Eintrittsgeld die Show verfolgen können und zu gesalzenen Preisen billig eingekaufte Getränke konsumieren können. Ein weiterer Vorteil des Objektes war das angrenzende Wohnhaus, in dem zuvor die „Damen" ihre Dienste angeboten hatten. Dort konnte James mit Tallulah wohnen und auch den Mitarbeitern seiner Show Unterkunft bieten.

    James hatte geradezu spartanisch gelebt und jeden Cent zurückgelegt, um sich seinen Traum zu erfüllen. Zusammen mit dem alten Schmuck seiner Großmutter sollte das sein Startkapital sein. Für den Rest sorgten Kredite, die aufgrund des Booms der Vergnügungsindustrie auf Coney Island günstig zu haben waren. Er kündigte seinen Job bei der Wildwasserbahn und beaufsichtigte fortan die Umbauarbeiten seines Geschäftes. Daneben empfing er scharenweise „Künstler", die entweder aufgrund ihres ansprechenden Äußeren, oder ihrer ganz besonderen Anomalien geeignet schienen, sich einem breiten Publikum zu präsentieren. Empfehlungen von ehemaligen Kollegen und entsprechende Agenturen halfen ihm dabei ebenso wie eine geschaltete Anzeige, ein bunt gewürfeltes Programm zusammenzustellen, das langsam in seinem Kopf Gestalt annahm.

    Am leichtesten fiel es ihm, Kleinwüchsige und Kolossalmenschen zu finden, die am häufigsten in Schaubuden zu sehen waren. Liliputaner mit ihren sehr hellen, piepsigen Stimmen, kindlichen Körpern und Gesichtszügen, aber normalen Proportionen, wurden häufig als Prinzessinnen bzw. Prinzen tituliert. So stellte sich auch bei James March ein „Prinz Piccolo" vor, der als Erwachsener nur siebzig Zentimeter maß. James konnte ihn sich gut als Zeremonienmeister vorstellen.

    Ihm zur Seite wollte er eine achtundzwanzig Zoll große bzw. kleine Frau und einen nur neunundzwanzig Zoll großen Mann stellen, der nur fünfundvierzig Pfund schwer war. Die beiden würden durchaus als Kinder des Prinzen durchgehen können.

    Was Tallulah etwas abfällig mit „Freaks bezeichnete, bedeutete im Englischen ursprünglich „Laune. Im 19. Jahrhundert änderte sich in den USA die Bedeutung zu „Laune der Natur - freak of nature. In sogenannten „Freak Shows wurden auf den Jahrmärkten Zwerge bzw. Kleinwüchsige oder andere von der Norm abweichende Menschen wie die „Dame ohne Unterleib, „die Frau mit Bart, „der stärkste Mann der Welt oder „der Zyklopenjunge präsentiert.

    Der sogenannte Elefantenmensch sorgte zu jener Zeit beim Publikum durch die Deformationen seines Körpers und des Gesichtes für ambivalente Reaktionen. Während sich manche wonnig gruselten, ekelten oder schaudernd abwandten, fühlten andere Mitleid und tiefe Erschütterung.

    Auch eine riesenhafte Dame mit immerhin 2,20 Metern Körpergröße zog James in Betracht, denn es war sehr beliebt, diese sogenannten Riesenmenschen mit Kleinwüchsigen gemeinsam auftreten zu lassen, um den enormen Unterschied deutlich zu machen.

    Die besondere Wirkung, die Siamesische Zwillinge auf das Publikum erzielten, war James nicht genug. Er wollte Zwillingsmissbildungen zeigen, bei denen sich mitunter der nicht voll ausgebildete Zwilling am Körper des anderen befand. Auch Menschen mit zusätzlichen Extremitäten galten in jener Zeit als Attraktion.

    Häufig zu sehen waren weiterhin an Fabelwesen erinnernde Menschen, auch Tiermenschen genannt, die man als das fehlende Glied zwischen Mensch und Tier ausgab. Am ganzen Körper Behaarte bezeichnete man als Affen-Wolfs- und Löwenmenschen, solche mit Knochenmissbildungen hießen „Hummer-, oder Krötenmenschen, jene mit Pigmentstörungen „Leoparden-Menschen, andere mit abnormen Hautwülsten „Elefanten- oder Kamelmenschen".

    So einen Hautmenschen, der seine Haut wie Gummi vom Hals bis zum Haaransatz ziehen konnte, um damit das Gesicht zu bedecken, engagierte James March.

    Damals hatte niemand die geringste Vorahnung, dass im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends noch immer Hautmenschen öffentlich auftreten würden. Freilich nicht auf Jahrmärkten, sondern im deutschen Privatfernsehen, also direkt in der guten Stube, innerhalb einer Show, in der das größte Talent gesucht wurde.

    Auch Tätowierungen würden dann in jener unvorstellbar fernen Zeit weltweit kein Thema mehr sein, weil sich immer mehr Stars und Normalbürger Tattoos

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