Kopf und Körper: oder: Das Trapez des Lebens
Von Jörg Neugebauer
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Über dieses E-Book
Die kann der Orthopäde Dr. Bergner ihr bieten, und er tut das gerne, nachdem Sophie, seine Frau, als Französischlehrerin in Depressionen versunken, ihn verlassen hat, um in Paris, der Stadt ihrer Studienzeit, ihre Identität wieder zu finden.
Und dann ist da auch noch Claire, die süße Frau des Bankdirektors, die, von ihrer Unfruchtbarkeit und der Ereignislosigkeit ihres provinziellen Lebens frustriert, sich und ihren doch nicht so nutzlosen Kopf erst entdeckt, als sie sich angewöhnt hat, einsamen Männern ihren Körper zu zeigen.
Auf Umwegen also entdecken die Protagonisten, wie Kopf und Körper zusammengehören. Und auch Jean weiß am Ende, dass er mit seiner Marie nicht körperlich zusammensein muß, um ihr ganz nah zu sein. Nicht nur diese beiden, sondern alle Figuren der Erzählung haben etwas von Trapezkünstlern: Sie versuchen den Schwung des auf sie zufliegenden Trapezes zu nutzen, indem sie sich hinaufschwingen und, im Vertrauen auf ihr gutes Geschick, zusehen, wohin es sie trägt.
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Buchvorschau
Kopf und Körper - Jörg Neugebauer
Kopf und Körper oder: Das Trapez des Lebens
Erster Teil: Ein Trapezkünstlerpaar
Ein Trapezkünstlerpaar verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch Auftritte unter Zirkuskuppeln und in großstädtischen Varietétheatern.
Allem Irdischen scheint sie entrückt, die Zweisamkeit der beiden jugendlich schlanken Artisten. Und doch bereitet es ihnen Mühe, alles Beschwerliche unten zu lassen, wenn sie, von munteren Orchesterklängen begleitet, hinaufsteigen in ihr gemeinsames Himmelreich.
Marie, die hübsche Seilakrobatin, ist ehelich nämlich einem anderen Mann verbunden, den sie bald nach Beginn ihrer beruflichen Partnerschaft mit Jean geheiratet hat. Charles, ihr Gatte, besucht seine Frau hin und wieder und schläft dann auch mit ihr in dem kleinen Wohnwagen, der den beiden jungen Künstlern als Behausung dient.
Nicht, dass Charles eifersüchtig gewesen wäre. Nein, er ertrug die berufsbedingte Liaison seiner kleinen Gemahlin mit einem Gleichmut, der darauf hindeutete, daß es für ihn nicht nur Marie gab in seinem harten Männerleben. Der groß und stark gebaute Baustoffhändler war es zufrieden, seine, wie er sie gern nannte, Luftkünstlerin, oben in der erleuchteten Kuppel herumwirbeln zu sehen, um sie danach in seine mächtig behaarten Arme zu schließen. Und eine volle Nacht lang an ihr jene Rechte zu behaupten, die ihm aus dem gemeinsamen Ehevertrag nun einmal erwachsen waren.
Der eher schmächtige Jean, in solchen Nächten ausquartiert oder vielmehr von sich aus das Weite suchend – Charles bot ihm jedes Mal an zu bleiben – konnte sich oft nur schwer mit seiner Rolle abfinden. Mit düsterer Miene saß er dann in stinkenden Spelunken und trank, da er Bier nicht mochte, mehr Cocktails als ihm guttaten. Zuweilen verirrte er sich auch in Männerlokale, in denen er auf ihn irritierende Weise zuvorkommend bedient wurde.
Erst wenn Charles endlich, wie immer morgens um halb acht, in seinem breittürigen Mercedes abgefahren war, nicht ohne bei seiner Frau an ihn Grüße zu hinterlassen, erschien Jean mit verwüsteter Frisur und dunkel umringten Augen an der Wohnwagentür. Wo seine berufliche Partnerin ihn freundlich und mit schwarzem Kaffee erwartete. Die erste halbe Stunde sah er sie dann gar nicht an. Starrte nur in seine Tasse oder zum Fenster hinaus. Erst nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie trotz allem ganz dieselbe geblieben war, fiel die trockene Starre allmählich von ihm ab und wich jener Geschmeidigkeit, ohne die er am Abend nicht wieder hätte hinaufsteigen können auf jenes Seil, das allein seine und Maries Welt war.
Den oft bis zur Haltlosigkeit hingerissenen Zusehern freilich erschienen Jean und seine zierliche Gefährtin als das ideale Paar der Lüfte. Dort, in die Unendlichkeit des Raumes, gehörten sie hin. Nirgendwo sonst sollten sie existieren.
Nichts weiß das Publikum von den vielen Jahren des langsamen Lernens, durch die den beiden, als fast gleichaltrige Kinder zweier befreundeter reisender Clowns in engster Vertrautheit miteinander aufgewachsen, diese fast perfekte Überlistung der Körperschwere erst nach und nach möglich geworden ist.
Waren sie doch fast wie Geschwister gewesen. Früh schon bei einem benachbarten Trapezmeister hatten sie die ersten Schwünge erlernt. Und so war es ihnen zum Alltag geworden, einander entgegenzufliegen und einander festzuhalten, seit sie sieben und er neun gewesen. Zumal sie beide ja ihre Mütter nicht kannten. Die von Marie war wohl gleich nach Maries Geburt gestorben, und von Jeans Mama war überhaupt nichts bekannt.
Nachdem beide Clowns, nach einem gemeinsamen Auftritt auf einem touristischen Bergfest, unter der Heimfahrt in ihrem Wagen von einem plötzlich herabstürzenden Felsen erdrückt worden waren, hatte man sie, nun beide Waisen, ganz in die Familie des Trapezkünstlers aufgenommen. Der ließ sie sogleich in seiner Gruppe mit auftreten, wo sie als „Luftflöhe" das besondere Entzücken des Publikums hervorriefen. Allerdings wurden beide recht kurz gehalten und waren bald daran gewöhnt, eigentlich nur einander zu haben. Sie schliefen im selben schmalen Bett und teilten die kargen Mahlzeiten im Kreise der Akrobatenfamilie.
Als Jean dreizehn war und Marie elf, schloß sich die Familie einem anderen, größeren Zirkusunternehmen an, der über mehrere Trapezgruppen verfügte. Staunend beobachteten die zwei die Kunstfertigkeit der fremden Akrobaten. Und jetzt begann auch so etwas wie Ehrgeiz in ihnen zu wachsen, es diesen anderen gleichzutun, sie womöglich zu übertreffen. Der oberste Leiter der übergroßen Trapezkünstlergruppe verfügte, dass die beiden „Zwillinge", wie sie damals oft nur kurz genannt wurden, nunmehr getrennt und zwei verschiedenen Teilgruppen zugeordnet wurden. So kamen sie fast nur noch bei den abendlichen Auftritten zusammen. Auch waren beide jetzt ganz getrennt untergebracht. Jean schloss sich an einen nur wenig älteren Jungen an, der ihm viel Neues zeigte. Und Marie, die noch mit fünfzehn fast wie ein Kind wirkte, verlernte und vergaß allmählich jegliche Angst vor der Tiefe. Wie einen süßen Ball warfen die erwachsenen Männer und Frauen sie einander sich zu - da musste sie einfach irgendwann aufhören, an einen Abgrund oder an die reale Gefahr eines Sturzes zu glauben. Doch dann wurde die Großgruppe aufgelöst, und die meisten Akrobaten waren gezwungen, sich neue Arbeitgeber zu suchen. Jean freilich, der mit seinem engen Kumpel inzwischen sehr gut eingeübt war, erhielt mit diesem bei ihrem bisherigen Zirkus einen neuen Vertrag angeboten, dessen Bedingungen sogar besser waren als zuvor.
So hätten sich die Wege der so lange unzertrennlich Gewesenen beinahe getrennt. Aber Marie war, nunmehr sechzehnjährig, im letzten Jahr zu einem schönen jungen Mädchen herangewachsen und, obgleich noch immer von fast übermäßiger Zartheit, so doch nicht länger geeignet, als nichtiger Luftball herumgeworfen zu werden. Ja, sie hatte sich eines Tages schlankweg geweigert, sich einer solchen Prozedur weiterhin und jemals wieder zu unterziehen.
Dem über seine eigene Zukunft noch unentschlossenen Jean, mit dem sie in letzter Zeit meist nur Grußworte und belanglos verlegene Floskeln gewechselt hatte, eröffnete sie, bei Gelegenheit einer zufälligen Begegnung in dem kantinenartigen Speisemobil des großen Zirkusunternehmens, den Wunsch und die Absicht, ihr Glück als freie Trapezkünstlerin zu versuchen und sich bei einer entsprechenden Agentur eintragen zu lassen.
Jean, gerade achtzehnjährig, machte sie, eigentlich mehr, um vor seinem Partner und Kumpel großzutun, darauf aufmerksam, dass sie, im Unterschied zu ihm selbst, ja noch minderjährig sei und sich folglich aus eigenem Recht gar keiner Agentur überantworten könne.
Auf diese Rede hin schlug Marie die Augen nieder, und Jean bemerkte hier zum ersten Mal ihre langen dunklen Wimpern und den unvergleichlichen Liebreiz, den diese zusammen mit den ungewöhnlich hohen, bisher so gar nicht sichtbar gewesenen Backenknochen bewirkten. Umso mehr, als von der Seite durchs Fenster gerade ein frühsommerliches Abendlicht ihr Antlitz und Scheitel erleuchtete.
Jetzt verstummten sie beide, und der andere, der das Gespräch der beiden an einem der hohen, runden Tischchen aus einiger Entfernung verfolgt hatte, machte sich, indem er etwas Unverständliches murmelte, davon. Jean aber konnte gar nicht genau genug hinsehen, als Maries ihm nun ganz unbegreiflich halbmondförmige Lippen den dicken Rand der billigen Kaffeetasse umschlossen, die sie mit ihren schmalen, noch immer fast kindlichen Händen zum Munde führte.
Aber ehe das Mädchen ihn ansehen konnte, schaute er selbst weg, weil er sich plötzlich fürchtete vor ihren schrägen Augen. Ich kann das ja machen für dich, mit der Agentur, hörte er sich ganz von ferne sagen, während er durchs dick verschmierte Fenster auf ein draußen vorbeigeführtes Kamel blickte, ohne es wirklich wahrzunehmen. Ich krieg das schon irgendwie hin.
Willy, Jeans Kumpel, wollte es erst gar nicht glauben, als dieser ihm von der Änderung seiner Pläne Kenntnis gab. Nach und nach kam Jean auch erst mit der ganzen Wahrheit heraus. Ja, er wolle jetzt doch den ihnen beiden angebotenen Vertrag nicht unterschreiben. Nein, wahrscheinlich würden sie nicht mehr zusammen arbeiten. Ob er denn wirklich mit seiner Schwester zusammenziehen wolle, fragte Willy ihn mehrmals. Für Willy war Marie Jeans Schwester. Sie ist nicht meine Schwester. Aber ihr seht euch doch ähnlich. Wieso sehen wir uns ähnlich? Dann liebst du sie also! Du liebst deine eigene Schwester. Sie ist nicht meine Schwester. Aber du