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Bodos zornige Seele
Bodos zornige Seele
Bodos zornige Seele
eBook994 Seiten13 Stunden

Bodos zornige Seele

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Über dieses E-Book

Die sechs Robbenschlächter im Süden von Neufundland müssen sterben. Sie sind für den Tod von Ewald Falland verantwortlich. Ewald war der der einzige Freund des wohlhabenden Bodo Cron, der seit vielen Jahren eine Tier- und Umweltschutz-Gruppe leitet.
Welche Ziele verfolgt der junge Unternehmer mit den vielen kleinen Unternehmen, die nicht zueinanderpassen wollen? Ihm zur Seite stehen Marco, ein IT-Genie, und der Sicherheits-Experte Ole.
Der Ruhelose bereist China, Australien, Indonesien, Japan, Indien und Nigeria. Grauenhafte Bilder fräsen sich tief in seine krank gewordene Seele.
In China öffnet ihm die heißblütige Sue das Tor zur Liebe. Und in Japan hinterlässt die zweifache Priesterin Kazumi tiefe Spuren.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Feb. 2018
ISBN9783742749475
Bodos zornige Seele

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    Buchvorschau

    Bodos zornige Seele - Kurt Pachl

    Kapitel 1

    Kurt Pachl

    Bodos zornige Seele

    Umwelt Thriller

    Unsere Zivilisation wird aufgrund des Klimawandels des

    Ressourcenverbrauchs und des Bevölkerungswachstums

    nicht überleben.

    Das Ende der Ära Mensch ist unausweichlich.

    Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Wasserversorgung,

    Landwirtschaftsentwicklung und Energieverbrauch

    sind fünf Entwicklungen,

    welche zum Kollaps unserer Gesellschaft führen können.

    Sobald nur zwei Entwicklungen einsetzen,

    die diese Faktoren maßgeblich beeinflussen,

    ist der Untergang der Menschheit nicht mehr aufzuhalten.

    Und eben das sei bereits passiert.

    Dies geht aus einer Studie von Mathematikern,

    Politikwissenschaftlern und Biologen

    unter Zugrundelegung einer

    NASA-Studie hervor.

    Jetzt war es nicht mehr zu ändern. Die sieben Männer bereiteten sich auf ihre Aktion vor. Bodos Freunde empfanden Stolz, ihm diesen Dienst zu erweisen. Er hatte entschieden, alle sieben seelenlosen Robbenschlächter, die für Ewalds Tod verantwortlich waren, in die Hölle zu schicken.

    Ole bestand darauf, den Fischkutter bereits am späten Nachmittag im Schutze einer kleinen, felsigen Insel mit windzerzausten Kiefern vor Anker zur bringen. Dieses Idyll lag nur dreihundert Meter vom Festland entfernt, inmitten der riesigen Hare Bay, im Norden von Neufundland.

    Mitte April waren hier oben die Nächte noch empfindlich kalt. Eingerahmt von steil aufragenden, noch mit schneebedeckten Bergen, bildete sich in der Bucht über Nacht eine dünne Eisschicht. Diese Eisschicht musste am folgenden Morgen Jungfräulichkeit ausstrahlen. Nichts durfte auf die Anwesenheit der sieben Männer hinweisen.

    Obwohl die Aktivisten in den letzten Jahren unter den widrigsten Umständen übernachtet hatten, empfanden sie die beiden Kajüten unter Deck als äußerst beengt. Mit Ausnahme von Marco und Ole waren es allesamt hünenhafte Naturburschen. Marco, der IT-Experte, wechselte in der Nacht zu Amaro Nguyen in den Führerstand.

    Der Indianermischling hatte den alten Kut­ter zwei Wochen zuvor in Channel-Port aux Basques für neuntausend kanadi­sche Dollar erstanden. Seit im Sommer 1992 das kanadische Fischereiminis­terium ein Fangverbot für Kabeljau verhängte und die Hoheitsgewässer auf 200 Seemeilen erweitert hatte, dümpelten tausende große und kleine Kutter unge­nutzt in den Häfen. Für Bodo, der die Aktion leitete, hatte es oberste Priorität, dass der Motor des Kutters die Crew nicht im Stich ließ. Amaro war mit Fischer­booten aufgewachsen. Er hatte fast eine Woche benötigt, um einen gebrauchten, jedoch noch sehr gut erhaltenen und stärkeren Motor, einzubauen. Die Gruppe würde den kleinen Hafen in der Seal Bay reibungslos und noch schneller als ursprünglich geplant erreichen. Die Entscheidung des Leiters dieser Aktion, den Kutter kurz nach der Ankunft im Hafen auf Grund zu setzen, musste respektiert werden.

    Kurz vor sechs Uhr früh räkelte sich Bodo aus dem Schlafsack und schlüpfte in den wattierten Schnee-Overall mit angenähter weißer Fellmütze. Anschlie­ßend stieg er in die ebenfalls weißen Fellstiefel. Bevor er die schmale Holz­treppe nach oben stapfte, kontrollierte er den kleinen Schwedenofen. Es war keine Glut mehr zu sehen. In den nächsten Stunden durfte kein Rauch aufstei­gen. Nicht die Spur eines verräterischen Geruches durfte in der klaren und küh­len Morgenluft liegen.

    Der Führerstand war bereits leer. Bodo öffnete die Schiebetüre und betrat den schmalen Gangbord. Ein kalter Windhauch ließ ihn zusammenzucken. Fast automatisch zog er die Fellmütze über. Der Kutter ankerte dicht an einem Fel­sen, der wie ein riesiger Quader fast senkrecht ins Wasser ragte. Es genügte ein kleiner Schritt, um vom Gangbord an Land zu gelangen. Bradly wollte ges­tern den Kutter zwanzig Meter weiter vor Anker bringen, da von dieser Stelle aus ein ungehinderter Blick zum Buchteingang möglich gewesen wäre. Doch Amaro hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Morgensonne sich im Glas des Führerstandes widerspiegeln könnte; zumindest war dies nicht gänzlich aus­zu­schließen.

    Bodo blickte sich suchend um. Eingerahmt von zwei uralten Kiefern befand sich einige Meter oberhalb des Bootsaustieges ein großer, flach geschliffener Fel­sen. Unter einem weit herausragenden Ast der linken Kiefer sah er die Silhouette eines Mannes. Dieser stand bewegungslos und breitbeinig, wie eine Statue, und blickte in Richtung Osten.

    Amaro begrüßte Bodo mit einem Kopfnicken und deutete mit dem Kinn zum Eingang der Bucht. Der Himmel färbte sich gerade von einem dunklen Rot in ein sattes Dunkelorange; darin feine weiße und schwarze horizontale Streifen. Langsam betupfte das Licht auch die rechte und linke Bergflanke am Bucht­eingang. Das Farbenspiel kroch nun langsam die hohen Bergketten hinauf. Jetzt begann sich das Feuerwerk, auf der dünnen Eisschicht der Hare Bay widerzu­spiegeln.

    Während Bodo das Farbspektakel in sich aufsog, war Amaro unbemerkt ver­schwunden. Als er lautlos seinen ursprünglichen Platz einnahm, hatte er zwei große Henkeltassen in den Händen. Wortlos streckte er Bodo eine davon entge­gen. Schweigend standen die beiden Hünen nebeneinander. Der Kaffee dampfte in der kalten Luft, und die Männer wärmten sich die Hände an den Tassen. Das dunkle Schwarz über ihnen wich langsam einem Dunkelblau, und am Horizont schob sich die fahlgelbe Sonne wie ein gleißendes Halbrund in das Meer aus Orange. Amaro hatte ebenfalls die weiße Tarnkleidung angezogen. Für ihn war diese Temperatur wie ein Frühlingslüftchen. Er brauchte keine Fellmütze. Sein langes, tiefschwarzes Haar kontrastierte zum weißen Overall. Die Farben des jungen Tages verstärkten seine vom Wind und Wetter gegerbten Gesichtszüge. Wie Bodo war er knapp zwei Meter groß, breitschultrig und trotz des Overalls erkennbar muskulös.

    Den Körperbau hatte Amaro von seinem Vater geerbt. Damit erschöpften sich allerdings die Gene der weißen Rasse. Amaros Mutter war die Tochter eines Häuptlings aus dem Stamm der Eyak. Dieser Tatsache verdankte der Vater den reibungslosen Aufbau eines ansehnlichen Fischunternehmens im Südwesten von Alaska. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr schuftete der Mischling im Familienunternehmen. Als der mittlerweile hünenhafte Natur­bursche seine Mutter eines Tages blutüberströmt am Boden liegend vorfand, entschied das Blut der Eyak innerhalb weniger Sekunden über Amaros künf­tiges Leben. Sein Vater musste sechs Wochen im Krankenhaus verbringen, und der mit einem Schlag erwachsen gewordene Eyak versprach seinem Erzeuger, ihn in kleine Stücke zu schneiden, und an die Lachse zu verfüttern, sollte er noch einmal Hand an seine Mutter legen. Danach nahm er sich seinen Verdienst, den ihm sein Vater bislang vorenthalten hatte, aus der Kasse. Seine Mutter gab ihm wortlos einen Kuss auf die Stirn, ehe er mit einer guten Ausrüstung in die Wildnis Alaskas verschwand. Im Laufe der Jahre häuften sich unaufgeklärte Todesfälle von betrunkenen und bestialischen Robbenjägern, gierigen Ölsuchern und Trupps von Jägern, die ihren Spaß daran hatten, wie eine wilde Horde durch die herrlichen Weiten Alaskas zu ziehen.

    Die Eyak verstanden sich als Teil der Schöpfung. Sie entnahmen der Natur immer nur so viel, wie sie zum Leben brauchten. Und sie entschuldigten sich bei den erlegten Tieren und bedankten sich beim Schöpfer. Amaro verstand sich als Beschützer seiner Heimat. Als ihm eine Sondereinheit zu dicht auf den Pelz rückte, setzte er sich in die Staaten ab und schloss sich den Eco Warriors an.

    Zusammen mit Bodo und Marco wurde er einige Zeit später in Little Guantanamo inhaftiert. Sein kanadischer Freund, Vincent Decoux, konnte damals durch die Maschen des FBI schlüpfen. Er half Amaro später wieder auf die Beine zu kommen, und stellte den Kontakt zu Bodo her. Als Amaro von Bodos Plan hörte, weinte er vor Glück. Ohne Bodos

    Hilfe hätte er das Little Guantanamo wahrscheinlich nicht lebend verlassen.

    Nun standen sie mit ihren Henkeltassen nebeneinander und begrüßten schwei­gend den Tag. Amaro erinnerte Bodo an Ewald. Auch bei diesem Indianermischling brauchte es keine Worte. Es war, als sprächen auch ihre Seelen miteinander.

    »Sie haben soeben den Hafen verlassen.« Mit diesen Worten näherte sich Marco den beiden Männern. Bodos langjähriger Wegbegleiter hatte die Aufgabe, den Funkverkehr zu verfolgen. Er wandte den Kopf zu Amaro.

    »Wann werden sie hier sein?«

    »Schätze in einer halben Stunde«, antwortete dieser knapp. In Little Guantanamo teilten sie sich eine Zeitlang gemeinsam eine Zelle. Marco nickte kurz und verzog sein Gesicht zu einem leichten, dankenden Lächeln. Wortlos legte Bodo seine Arme über die Schultern seiner beiden Wegbegleiter. Vor allem für Marco bedeutete diese Geste Freundschaft, Dank, Wärme, Kraft und Zusammengehörigkeit.

    Der eher schmächtige Mann unterstützte Bodo bereits als Jugendlicher beim Kampf gegen Tier­versuche. Als IT-Experte war es damals seine Aufgabe gewesen, alle Aktionen akribisch vorzubereiten. Gemeinsam litten sie später fast fünfzehn Monate in Little Guantanamo. Bodo hatte zuvor erkannt, dass in Marco ein riesiges IT-Genie schlummerte. Bodo war fortan Marcos Mentor geworden. Für ihn war es nicht nur ein Zeichen der Freundschaft, wenn er jeden noch so ausgefallenen Wunsch des Algorithmen-Fetischisten finanzierte. Er wusste und ahnte, dass dieses Geschenk Gottes, wie er es manchmal scherzhaft nannte, gehoben werden musste, und noch große Dienste leisten würde. Für Marco ging diese Symbiose weit über eine Freundschaft hinaus. Ein Leben ohne Bodo war für ihn nicht mehr vorstellbar.

    Er stand plötzlich neben den drei Männern. Sie hatten ihn nicht kommen hören.

    Während Marco sich im Laufe der Jahre zu Bodos linker Hand ent­wickelte, war Ole zu seiner unverzichtbaren Rechten erwachsen. Dieser Bur­sche dachte und bewegte sich nicht nur wie ein Luchs; er hatte den Instinkt und so­gar die Augen dieser Tiergattung.

    Über Nils Ruffuß, der sich als Jugendlicher Bodos Feldzug gegen Tier­ver­suche angeschlossen hatte, lernte Bodo Ole kennen. Dessen Vater hatte auf­grund eines Unfalles den Hof und die Fischerei in Norwegen aufgegeben. Ole war in Hamburg geboren. Seine Mutter, eine Köchin, hatte sich des Norwegers mit einem Bein erbarmt, und ihn geheiratet. Irgendwann zogen sie in die Einöde Norwegens, wo der Vater schließlich dem Suff erlag. Zuvor hatte er sei­nen Sohn wie einen Hund geschlagen.

    Ole, nur 175cm groß, verbrachte die meiste Zeit in den Fjorden und den riesigen Wäldern Norwegens. Er wurde muskulös, zäh, ausdauernd – und jähzornig. Nach einigen Jobs auf Ölplattformen in Norwegen und in Nigeria gelangte er schließlich zur norwegischen Armee. Dort erhielt er eine Spezialausbildung bei einer Sondereinheit und wurde als Waffenspezialist sowie Sprengstoff- und Nahkampfexperte ausgebildet. Nachdem der Jähzornige einen Vorgesetzten übel zugerichtet hatte, verbrachte er ein halbes Jahr im Gefängnis. Danach zog es den Norweger wieder nach Hamburg, wo er sich bei einer Wach- und Schließgesellschaft sowie bei einem Werttransportunterneh­men über Wasser halten konnte.

    Heute standen sie in der Einsamkeit von Labrador. Bodo, ein muskulöser Hüne, zog Ole näher heran, so dass sein rechter Arm sowohl über Marcos und zum Teil auch über Oles Schulter reichte.

    »Ich danke euch für eure Freundschaft. Auch in Ewalds Namen.«

    Die Männer wussten, dass Bodo keine Antwort erwartete. Sie blickten schweigend in Richtung Osten. Dort stand die Sonne inzwischen wie ein Feuerball am Horizont. Es war Ewalds Art zu beten, wenn er solche Herrlich­keiten mit der Kamera einfing, und dabei oft, wie ein kleiner, begeisterter Junge wirkte. »Ach Ewald, ich wünschte, du wärst heute bei uns«, flüsterte Bodo leise.

    »Er ist bei uns. Freundschaft geht über den Tod hinaus.«

    Es war Cristostomo Campbell, der dicht hinter den vier Männern stand, und nun den Reißverschluss seines Overalls zuzog.

    »Ich bin stolz darauf, solche Freunde zu haben. Heute ist ein schöner Tag zum Sterben, sagen wir Indianer. An wichtigen und guten Entscheidungen darf man nicht zweifeln.« Mit diesen Worten klopfte er Bodo freundschaftlich auf die Schulter. Cristostomo und Bodo kannten sich seit vielen Jahren. Der kana­dische Indianer war 190 cm groß, hatte pechschwarze, kurze Haare, die nun in der frühen Morgensonne glänzten.

    Dass er Halbindianer war, unterschlug Cristostomo gerne. Sein Vater war ein Weißer aus Ontario und hatte mit einer Indianerin eine Ranch in Manitoba auf­gebaut. Zum Leidwesen des Vaters war Cristostomo bereits als Jugendlicher tagelang in den Wäldern verschwunden. Um nichts auf der Welt wollte er später die Ranch der Eltern übernehmen. Mit Rinderzucht konnte sich Cristos­tomo nicht identifizieren. Stattdessen studierte er Biologie. Während des Studi­ums lernte er die Indianerin Awanasa Archambeau kennen. Awanasa wurde Biologie-Lehrerin und Cristostomo führte Naturbegeisterte durch die schöne, fast unberührte Wildnis von Quebec.

    »Luft, Luft, aahhh.« Es war Bradly Bryant, der sich mit einer Tasse dampfen­dem Kaffee in der Hand zum Ausblickfelsen arbeitete. »Nie wieder übernachte ich mit euch in einer Kajüte. Das halten doch nur Murmeltiere aus.« Er schlürfte genüsslich an seiner Tasse.

    »Wenn es da unten streng riecht, dann kann dies nur von dir kommen«, sag­te Marco lachend. »Von dieser Nacht hast du doch überhaupt nichts mit­bekommen. Du hast geschnarcht, dass das ganze Boot vibriert hat. Ich bin des­halb zu Amaro geflüchtet.«

    Die Männer lachten. Während Bodo, Marco, die beiden Indianer und Vincent es gestern Abend bei einer Flasche Bier belassen hatten, brauchte Bradly seine Flasche Whiskey. Nur Ole hielt sich an seine Cola. Da unten im Süden der Staaten degeneriert man schneller, hatte gestern Bodo zu Marco gesagt. Bradlys Heimat war die Stadt Biloxi, im äußersten Süden von Mississippi, am Golf von Mexiko.

    Als Letzter tauchte Vincent Decoux auf. Er, der für die Planung dieser Aktion zuständig war, wohnte an der Grenze zwischen Kanada und Alaska.

    Vincent, Cristostomo, Amaro, Ole und Bradly hatten eines gemeinsam. Sie waren raue Gesellen, Kämpfernaturen - und vor allem Scharfschützen mit Spezialausbildungen. Sie hatten sich Gedanken um Bodo gemacht.

    Bradly hatte sechs Barrett M82 besorgt, und diese an Vincent zum Versand gebracht. Amaro grinste vor wenigen Tagen geringschätzig über die relativ kur­zen Gewehre. Doch als sie vor zwei Tagen in die Wälder fuhren, um Schießübungen zu machen, pfiff er beeindruckt durch die Zähne. Nach einer Weiterentwicklung wog die M82 aufgrund des Einsatzes von Titan nur knapp über zehn Kilogramm. Hinzu kam ein Zeiss-Zielfernrohr mit sechs-­ bis vier­undzwanzigfacher Vergrößerung. Entgegen einem Jagdgewehr konnte dieses Spezialgewehr mit einer weitaus effektiveren Munition geladen werden. Ganz wichtig war, dass der bewegliche Lauf geflutet wurde und Kühlrippen besaß. Zusätzlich war eine Mündungsbremse eingebaut.

    Diese garantierte, dass der Rück­stoß um siebzig Prozent verringert wurde. Das war ganz entscheidend für die zweiten und nachfolgenden Schüsse.

    Den Scharfschützen war der Mund offen stehengeblieben, als Bodo nach bereits zehn Minuten drei kleine Münzen hintereinander aus einer Entfernung von dreihundert Metern zerkleinerte. Sie konnten nicht ahnen, dass er durch Oles Schule gelaufen war. Und dieser grinste anerkennend.

    Bradly hatte unter­schiedliche Munition mitgeliefert. Das Magazin fasste zehn Schuss 12,7x99 mm. Sie entschieden sich für die Weichkernmunition. Diese eigneten sich für Kopfschüsse. Der Austritt am Hinterkopf war bis zu zehn Mal größer als das Ein­schussloch. Ole riet von Stahlmantelgeschossen ab. Reste dieser Munition, die Rückschlüsse auf den Gewehrtyp hätten geben können, wären später von Experten leichter zu finden gewesen. Zur Sicherheit hatte jeder Schütze ein Ersatzmagazin.

    »Lasst uns hinuntergehen«, mahnte Amaro, nachdem er in die Richtung des herrlichen Sonnenaufganges geblickt hatte.

    Marco und Ole reichten den Männern jeweils ein mit weißem Stoff bespanntes Futteral durch die Tür des Führerstandes. Danach trat Ole mit seinem Futteral nach draußen.

    »Sie müssen in ein paar Minuten am Buchteingang auftauchen«, sagte Marco im Türeingang. Danach gab er den sechs Männern ein kleines Päckchen. In jedem Päckchen befand sich ein kleines Fernsprechgerät. Bei der gestrigen Besprechung waren sie jedes Detail noch einmal durchgegangen. Als Einsatz­leiter hatten sie sich dabei auf Amaro geeinigt. Er wusste genau, in welcher Sekunde die Schüsse abgegeben werden mussten. Alle Ziele mussten aufrecht stehen. Der jeweils erste Schuss war im Bruchteil einer Sekunde abzugeben; gleich­zeitig. Nicht das kleinste Risiko durfte eingegangen werden.

    Die sechs Schützen verließen den Kutter. Marco blieb an Bord. Amaro hatte gestern Abend eine gut begehbare Strecke zum Kamm der kleinen Insel aus­findig gemacht. Der Aufstieg würde nur zehn Minuten in Anspruch nehmen. Schweigend stapften die Männer Amaro hinterher; in kleinen und sicheren Schritten. Ihre Fellmützen mussten sie erst überziehen, sobald sie die Anhöhe erreicht hatten. Die Mannschaft musste in der Landschaft zerfließen; sie durfte nicht vorhanden sein.

    Das kleine, flache Plateau hatte ausreichend Platz für die Scharfschützen. Von hier aus hatten sie einen herrlichen Weitblick. Am Eingang der Bucht war ein kleiner Kutter zu sehen, eingerahmt vom großen Sonnenball. Ewald hätte dieses fast kitschige Bild in vielen Aufnahmen festgehalten, dachte Bodo. Von jetzt an mussten sich die Männer vorsichtig bewegen. Sie streiften ihre Fell­mützen über und gingen unwillkürlich in die Hocke. Der Wind hatte den neuen, leichten Schnee der letzten Nacht verweht. Die verbliebene Schneedecke war nur knapp fünf Zentimeter hoch und angefroren. Trotzdem glätteten die Aktivisten den vorderen Bereich mit ihren Händen. Die Zweibeine der Gewehre mussten einen absolut festen Stand haben. Darüber hinaus hatte Bodo darauf bestanden, anschließend alle ausgeworfenen Hülsen einzusammeln. Keine durfte zurückbleiben.

    Die Schützen zogen die Gewehre aus den Futteralen, klappten die Zweibeine auf und brachten die Gewehre in Stellung. Aus einer Seitentasche des Futte­rals entnahmen sie ein volles Ersatzmagazin und legten dieses neben das Gewehr. Kniend kramten sie nach den kleinen Päckchen, welche Marco ihnen übergeben hatte. Das Sprechfunkkästchen in der Größe eines Handys steckten sie in die linke Brusttasche des Overalls, nachdem sie den Schalter auf „ON" umgelegt hatten. Sie zogen das dünne Kabel nach oben, legten den Kopfhörer an, und steckten das Empfangsteil in das linke Ohr. Sofort begann es leise zu rauschen.

    Amaro vergewisserte sich, dass alle Empfang hatten.

    »Sprechprobe«, zischte er leise.

    Bodo, der am linken Rand kniete, antwortete leise: »Eins«.

    Ole neben ihm sagte: »Zwei.«

    Danach kamen Amaro, Bradly, Vincent und rechts außen befand sich Cristos­tomo. Unabhängig davon, wie immer sich die Robbenschlächter bewe­gen würden; »ansprechen« mussten jeweils die Schützen von links nach rechts ent­sprechend den Männern am Strand gegenüber - von links nach rechts.

    Aus der rechten Brusttasche des Overalls zogen nun die Männer weiße Gesichtsmasken und weiße Gummihandschuhe. Bodo hatte ursprünglich darauf bestanden, auch enganliegende Brillen zu tragen. Er war ein Sicher­heitsfanatiker. Für den Extremfall, dass einer der Schützen gefangen genommen würde, wollte er sicherstellen, dass ihnen nicht der leiseste Hauch von Schmauchspuren anhaftete; zum Beispiel an den Wimpern. Anhand der Schmauchspuren ließe sich weitestgehend ermitteln, mit welchem Waffentyp und mit welcher Munition geschossen worden war. Die Klei­dung, die Gesichtsmasken und die Handschuhe mussten unmittelbar nach der Aktion vernichtet werden. Vor allem Amaro konnte Bodo überzeugen, dass eine Brille bei einem noch so geringen Rückschlag des Gewehres ein Sicher­heitsrisiko darstellte. So einigten sie sich darauf, später auf dem Boot die Körperteile hinter den Öffnungen der Gesichtsmasken mit einer Speziallösung sorg­fältig zu reinigen.

    Als sie das Tuckern des Kutters hörten, legten sie sich aus Sicherheitsgründen flach auf den Bauch. Durch einen Zufall könnte einer der Robbenjäger mit dem Fernglas das Gebiet absuchen. Das war zwar äußerst unwahrscheinlich, jedoch nicht gänzlich auszuschließen. Amaro hatte ausgerechnet, dass die Robbenjäger frühestens in zwanzig Minuten nach dem ersten Stopp des Kutters am festgelegten Aktionspunkt angelangt sein würden.

    Auf der gegenüberliegenden Festlandseite, am Fuße der Bergkette, hatten Wind und Wellen zwanzig bis dreißig Meter breite Schotterbänke ausge­waschen. Auf diesen Schotterinseln, die teilweise noch mit einer leichten Schneedecke bedeckt waren, hatten sich unterschiedlich große Robbenkolonien versammelt. Zu dieser Jahreszeit waren die meisten Robbenjungen vier bis sechs Wochen alt. Das Spektakel der Jungen war aufgrund der dünnen Luft und der Entfernung von dreihundert bis vierhundert Metern so laut zu vernehmen, als wären diese nur wenige Meter entfernt. Direkt gegenüber, auf der dritten Schotterbank von rechts, lagen fünf Robbenmütter, Sattelrobben und fünf Jungrobben. Zwei davon trugen noch ein weißes Fell und waren demnach noch keine vier Wochen alt. Die übrigen Jungrobben hatten ein Alter von sechs bis maximal sieben Wochen.

    Kapitel 2

    Bodo war plötzlich unendlich traurig. Ihm wurde bewusst: Es lag zwar in seiner Macht, diese Robben dort drüben zu retten. Ewald hatte dies damals versucht – vor nun genau zehn Jahren. Ewald … vergib mir, dass ich dich damals mitgenommen habe, sinnierte Bodo. Ewald, sein Kindheits- und Jugendfreund … sein Blutsbruder … sein Anker in so vielen Stunden … Für ihn, diesen leidenschaftlichen und bekannten Naturfotografen, waren diese Bilder, diese unschuldigen und lebensfrohen Robbenbabys das Paradies schlechthin. Bodo schloss kurz die Augen. Ihm war, als hörte er Ewalds erregte Stimme.

    Vor seinem geistigen Auge sah er nun wieder, wie sich Ewald mit seiner Kamera auf allen vieren an die kleinen Robben heranarbeitete, um hautnah Bilder schießen zu können. Die Evolution hatte es so eingerichtet, dass aus der Sicht der Robben vom Menschen keine Gefahr ausging. Also blieben die Robben­mütter seelenruhig liegen, und die Robbenbabys ließen ihrer Neugierde freien Lauf und schnupperten am Objektiv von Ewalds Kamera.

    »Schau dir das an. Sind sie nicht süß? Toll. Danke Bodo«, flüsterte er aufgeregt zu Bodo, Simone, Ole und Vincent hinüber.

    Durch die Robben abgelenkt, war ihnen entgangen, dass sich ein Kutter näherte. Bodo hatte mit den Robbenjägern erst am darauffolgenden Tag gerechnet, da die Jagdsaison erst ab dem 15. April freigegeben wurde. Sie hörten das Tuckern des Motors und das Zerspringen der dünnen Eisdecke. Kurz darauf fuhr der Kutter knirschend auf die Kiesbank. Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Sechs Männer in braunen Overalls sprangen vom Boot. Offensichtlich hatten sie die Aktivistengruppe bereits gesehen. Die beiden größten Robbenjäger stapften rasch auf Bodos Gruppe zu. Die restlichen Robbenschlächter begannen im Akkord mit ihren Hakapiks, den Spitzhacken, auf die jungen Robben einzuschlagen. Lautes Jammern und Klagen erfüllte die kalte Luft – und immer wieder die dumpfen Schläge der Hakapiks. Keine Robbe machte Anstalten, zu fliehen. Es war, als hätten sie ihr Schicksal klagend angenommen; als würden sie lediglich flehen und bitten, verschont zu werden. Doch die Schläge trafen selbst die weißen Robbenbabys. Für die Robben­schlächter waren es Whitecoats. Die Preise pro Robbenfell waren rückläufig. Aber für Whitecoats zahlten die Chinesen viel Geld. Die Jagd auf weiße Robbenjungen war seit 1987 offiziell verboten. Umso erstaunlicher war es gewesen, dass diese Männer in einen Tötungsrausch verfielen, obwohl sie davon ausgehen mussten, beobachtet zu werden.

    Ewald fotografiert hektisch und rannte auf die Robbenschlächter zu; schreiend und weinend. Er kam nicht weit. Einer der beiden Robbenjäger war bei ihm angelangt. Ohne Vorwarnung schlug einer von ihnen mit der Hakapik Ewald die Kamera aus der Hand. Wie erstarrt blickte der Fotograf einige Sekunden auf seine zertrümmerte Kamera. Seine Kamera war sein Heiligtum! Wie von Sinnen stürzte er sich auf den Robbenjäger. Der Fotograf war 195cm groß und durchtrainiert. Er hob den Robbenschlächter hoch wie ein Spielzeug. In diesem Augenblick traf ihn die Spitzhacke des zweiten Jägers.

    Ewald ließ den Mann fallen, sackte in die Knie und krümmte sich am Boden.

    Bodo, Vincent und Ole waren rasch zur Stelle gewesen. Bodos Tritt traf den Hakapik-Schläger in die Magengrube. Der Mann taumelte mehrere Meter zurück und ging in die Knie. Noch bevor er aufstehen konnte, hatte der deutsche Hüne ihn hoch­gerissen und ihn in hohem Bogen durch die Luft geworfen. Krachend durch­brach der Körper die dünne Eisdecke und landete im Wasser. Ole traktierte den zweiten am Boden liegenden Robbenjäger.

    Vincent hatte aufgrund seiner Kriegs­einsätze sofort erkannt, dass Ewald schwer verletzt sein musste. Rasch öffnete er die wattierte Windjacke. Der Pullover war im Bauchbereich blutge­tränkt. Simone kniete inzwischen auf der anderen Seite von Ewalds Kör­per und schluchzte. «Ist er schwer verletzt?« Vincent nickte.

    »Wir müssen die Blutung rasch stillen. Mach eine Faust.«

    Er hatte bereits Simones Hand genommen. »Fest drücken«, befahl Vincent und griff nach seinem Rucksack.

    Mit einem »Ewald« hatte sich Bodo am Kopfende seines Freundes fallen lassen. Das Gesicht des Fotografen war schmerzverzerrt. Aus dem Mund­winkel sickerten Blutstropfen.

    »Ich glaube, das war‘s mein Freund«, röchelte der verwundete Fotograf und versuchte, Bodos Hand zu ergreifen.

    Doch das Schicksal hatte Ewalds Ende noch nicht vorgesehen. Vincent konnte rasch einen Hubschrauber organisieren. Bodo bestand darauf, mitgenommen zu werden.

    »Geld spielt keine Rolle«, hatte er viele Male gesagt. Es war erstaunlich, wie rasch sich mit Geld viele Türen öffnen ließen. Erst zu diesem Zeitpunkt stellten beide Freunde fest, dass sie die gleiche, sehr seltene Blutgruppe, AB Rhesus­faktor positiv, besaßen. Am ersten Tag musste Bodo 1,5 Liter Blut spenden und im Abstand von zwei Tagen noch einmal je einen halben Liter. Ewald wurde in ein Klinikum in Montreal verlegt und verbrachte dort zwei Monate. Entgegen den Ratschlägen der Ärzte verließ der Fotograf vorzeitig das riesige Krankenhaus. Bodo bestand darauf, ihn zu begleiten. In der Einöde von Quebec, hundert Kilometer südlich der Hudson Bay, gingen Ewalds Kräfte endgültig zu Ende. Der einzige Kindheits-, Jugendfreund und Blutsbruder starb in Bodos Armen.

    Dies war das zweite große Schlüsselerlebnis, welches Bodos Seele erkranken ließ und sich zu einem schweren Trauma ausweiten sollte.

    Vor zehn Jahren, fast auf den Tag genau, hatte sich das Unglück mit Ewald und den Robbenschlächtern ereignet. Es war Amaros Aufgabe gewesen, die Namen der sechs Robbenjäger ausfindig zu machen. Kein Zweifel durfte bestehen. Als Indianer, Jäger und Fischer war er im Dorf dieser sechs Personen nicht weiter aufgefallen.

    Er übernachtete mehrere Male im Haus eines alten und kranken Inuit. Sie gaben vor, miteinander verwandt zu sein. Akkilokipok hieß der zahnlose Inuit. Er hasste diese sechs crazy devils, wie er sie nannte. In deren Adern floss das Blut von Wikingern und Basken. Diese Burschen waren körperlich größer als die Ureinwohner Labradors. Es waren Raufbolde und Säufer, die ihre Frauen schlugen. Diese degenerierte Brut hatte kein Gefühl für die Natur und deren Geschöpfe. Sie waren eine Schande für dieses ehemals schöne Land. Von diesem traurigen und wütenden Alten hatte Amaro die zuverlässige Information: Es war die gleiche Mannschaft wie vor zehn Jahren, auf die sie heute warteten.

    »Bodo, Bodo, sie sind da«.

    Es war Ole, der genau registrierte, dass Bodo in seinen Gedanken weit weg war. Und er ahnte, woran Bodo in den letzten Minuten gedacht hatte.

    Der Kutter war an der ersten Kiesbank angelangt. Als würde sich alles minutiös wiederholen, sprangen sechs Männer in braunen Overalls vom Kutter. Ohne Zögern gingen sie auf die Robbenjungen zu. Die Robbenjäger waren inzwischen aufgrund des Druckes der Tierschützer verpflichtet, die Tiere zu­nächst mit einem gezielten Schuss zu töten und anschließend mit der Hakapik die noch dünne Schädeldecke zu zertrümmern. Doch es fiel kein Schuss. Auch die geschützten Whitecoats wurden nicht verschont. Viele Leiber zuckten noch, als die Robbenjäger begannen, die Decke der Robben vom Körper zu lösen. Nein, sie hatten nichts dazu gelernt. Das waren nach wie vor seelenlose Schlächter.

    »Der Dritte von links«, vernahm Bodo aus der Ohrmuschel. Er blickte durch das Fernglas. Ihm war, als ob der Mann direkt vor ihm stand. Er war älter geworden. Aber es war zweifellos der Bursche, welcher Ewald damals die Spitzhacke in den Bauch gerammt hatte. In diesem Moment wusste er: Diese Aktion war richtig und gerechtfertigt. Diese Aktion musste ausgeführt werden.

    Kapitel 3

    Während ein Robbenjäger die Felle auf einen Schlitten legte, um diese zum Kutter zu ziehen, stapften die anderen Männer zur zweiten Bucht.

    »Schau dir das an. Das Robbenjunge ganz hinten rechts«, hörte Bodo Vincents Stimme. Bodo blickte wieder durch das starke Fernglas. Das zuerst niedergeschlagene Robbenjunge bewegte sich noch und hob den Kopf. Es rief nach seiner Mutter. Die Mutter erkannte das Klagen ihres Jungen. Sie kam näher und schnupperte an diesem lebendigen Kadaver. Sie erkannte ihr Junges nicht mehr. Der lebenswichtige Geruch war mit dem Fell verschwunden.

    Auf der zweiten Kiesbank waren nur zwei Mütter mit ihren Jungen.

    Die Robbenjäger erledigten rasch ihr Handwerk. Fünf Minuten später machten sie sich auf den Weg zur Kolonie genau gegenüber.

    Jetzt waren sie nur noch dreihundert Meter entfernt. Sie legten eine Pause ein. Vier Jäger kramten aus einer Innentasche ihres Overalls Flachmänner hervor. Sie prosteten sich zu, tranken, lachten und machten offensichtlich Witze. Die Robbenmütter und ihre Jungen sahen keinen Grund, zu fliehen.

    »Masken, Handschuhe«, zischte Amaro angewidert in das kleine Mikrofon.

    Die Schützen hatten die Masken über der Stirn bereits in Position gebracht, und zogen diese nun nach unten.

    Danach streiften sie rasch die weißen und dünnen Stoffhandschuhe über; ein gespenstisches Bild. Diesem Spuk dort drüben nicht sofort ein Ende zu bereiten, war ungemein schwer. Die Schützen mussten warten, bis auch der sechste Robbenjäger sich in Schussposition befand. Darüber hinaus war zuvor festgelegt worden, dass später die Ermittler – und hoffentlich auch Fotografen – das Gemetzel sehen würden, welches diese widerlichen Schlächter angerichtet hatten.

    Bodo kannte das Geräusch sofort. Nur sechs bis sieben Meter neben ihm hatte sich in der Spitze einer Kiefer ein Vogel niedergelassen. Im Bruchteil einer Sekunde sah er, dass es sich um einen Tannenhäher handelte. Das Verhalten dieser Vogelart ähnelte denen der Eichelhäher. Dieses Vieh wird doch jetzt nicht anfangen Lärm zu schlagen, dachte er. Kaum schoss ihm dieser Gedanke durch den Kopf, hallte weithin das schnarrende »chrääh, chrääh, crääh«. So mancher Fuchs, Wolf oder Vielfraß musste aufgrund eines solchen Gezeters die Pirsch abbrechen. Alle Tiere waren im Umkreis von mehreren Kilometern gewarnt. Bodo starrte rasch durch das Fernglas.

    Die Männer mit ihren Flachmännern dort drüben waren tatsächlich degenerierte Teufel, wie Akkilokipok sie Amaro gegenüber klassifizierte. Ein Blick zu Amaro, Christostomo und Ole verriet, dass diese Naturburschen in diesem Moment ähnlich dachten. Bei ihnen hätten angesichts der Rufe des Tannenhähers sofort die Alarmglocken schrillen müssen.

    Bodo hörte das Tuckern des Kutters.

    »Verdammt, wir haben doch nicht alles bis ins letzte Detail durchdacht«, schoss es durch seinen Kopf. »Der Kutter kann zumindest einen Teil des Schussfeldes verdecken.«

    »Amaro. Amaro. Unser Schussfeld«, flüsterte er aufgeregt ins Mikrofon.

    »Keine Sorge, der Kutter wird links außen anlanden«, war die ruhige Ant­wort. Und tatsächlich - der Kutter tuckerte vorbei, und fuhr links außen auf die Kiesbank.

    Die fünf Robbenschlächter hatten ihre Flachmänner wieder verstaut, und begannen die Felle zum Rand der Kiesbank zu ziehen. Der sechste Mann kam nun mit dem Schlitten. Er war nur noch zwanzig Meter von der Gruppe entfernt. Die Schützen entsicherten die Gewehre, und warteten angespannt auf Amaros Kommando.

    »Achtung … drei, zwei, eins, null.«

    Bei »null« bellten die Schüsse auf. Der Abzug jedes Gewehres war auf den einzelnen Schützen eingestellt. Während Amaro den Bügel nur ganz leicht anzutippen brauchte, hatte er es für sinnvoll gehalten, den Druckpunkt bei Bodos Gewehr etwas strammer zu justieren. Der jeweils erste Schuss pro Mann war bereits tödlich. Ein Großteil der hinteren Schädeldecke wurde förmlich weg­gesprengt. Der zweite Schuss in den Kopf, der fast gleichzeitig abgegeben wurde, wäre nicht mehr notwendig gewesen. Die restlichen vier Schüsse auf die Oberkörper waren lediglich zur absoluten Sicherheit abzugeben. Amaro wollte nicht das kleinste Risiko eingehen. Die Schlussfolge war so rasch, dass die Robbenjäger erst nach dem letzten Schuss leicht nach hinten fielen – alle gleichzeitig.

    Bereits fünf Sekunden später erfolgte das nächste Kommando von Amaro:

    »Masken absetzen«.

    Er löste damit einige Schützen, vor allem Bodo, aus einer Starre; gab ihnen keine Zeit nachzudenken. Fast automatisch streiften die Schützen ihre Masken nach oben. Alle weiteren Schritte waren am Tag zuvor mehrere Male einstudiert worden. Sie zogen die Kopfhörer ab und steckten diese zusammen mit dem dünnen Kabel in die linke Brusttasche des Overalls. Erst nachdem sie die weißen Fellmützen nach hinten geschoben hatten, konnten sie sich der Gesichtsmasken entledigen und diese wieder in die rechte Brusttasche des Overalls verschwinden zu lassen. Schweigend sammelten sie danach die ausgeworfenen Patronenhülsen ein.

    »Alle Hülsen vollständig?«, fragte Amaro laut, und blickte jeden einzelnen Schützen an.

    Die Schützen nickten.

    »Leerpatronen, Ersatzmagazine und Handschuhe in die Seitentasche des Futterals. Reißverschluss zuziehen«, war das nächste Kommando. Nichts durfte später herausfallen. Darauf hätten sich Fingerabdrücke oder DNA-Spuren befinden können.

    Die Männer verstauten ihre Gewehre in die Futterale. Amaro und Cristostomo übergaben ihre Futterale mit Inhalt an Bradly und Vincent. Während Bodo, Ole, Bradly und Vincent sich auf den Abstieg konzentrierten, begannen die beiden Indiandermischlinge mit zusammengebundenen finger­dicken Zweigen alle Spuren auf dem kleinen Plateau zu verwischen und hierbei noch einmal darauf zu achten, dass nicht die kleinste Kleinigkeit zurückblieb. Grob verwischten sie die Spuren beim Abstieg. Es war eine schweißtreibende Angelegenheit. Er denkt wie ein Indianer, hatte Amaro am Abend zuvor ehr­furchtsvoll von sich gegeben, als Bodo diesen Vorschlag unterbreitet hatte. Es sollten vor allem keine Abdrücke hinterlassen werden, aus denen die Anzahl der Personen und Gewicht pro Person, selbst für erfahrene Spurenleser, hervor­gehen konnten. Und nur Indianer wussten, worauf es bei der Umsetzung dieses wichtigen Hinweises ankam.

    Marco hatte den Motor des Kutters bereits angeworfen, so dass Bradly sofort das Boot übernehmen konnte. Amaro und Cristostomo waren erstaunlich rasch am Boot angelangt. Noch während die beiden Indianer an Bord gingen, legte Bradly ab. Zunächst steuerte er in Richtung St. Anthony. Marco hatte inzwi­schen drei Netze auf den Bootsplanken ausgelegt, welche mit mehreren kurzen Eisenstangen bestückt waren. Jetzt übernahm er das Ruder, da alle sechs Schüt­zen damit beschäftigt waren, sich zu entkleiden. Zwei Schützen legten jeweils ihre Kleidung in eines der vorbereiteten Netze; Stiefel und Overall mit Fell­mütze. Danach zogen sie ihre persönlichen warmen Kleidungen an. Amaro und Ole suchten mit Ferngläsern das Ufer ab. Erst als sie zufrieden nickten, warfen Cristostomo, Bradly und Vincent die drei Netze über Bord. Bradly übernahm wieder das Kommando über das Schiff und steuerte in Richtung Nordwest zur Seal Bay. In kleinen Abständen ließen Amaro und Ole die sechs Futterale mit den Gewehren ins Wasser gleiten. Sie waren schwer genug, um rasch auf den Grund der Bay zu sinken; auf eine Tiefe von mindestens 300 Metern, wie Amaro versichert hatte.

    Knurrend setzten sich die Schützen nacheinander auf einen Stuhl im Führerhaus. Es war Marcos Aufgabe, mit einem speziellen Lösungsmittel die Augenlider und Wimpern zu reinigen. Danach mussten die Männer ihre Lippen und Nasenlöcher sorgfältig reinigen. Bodo entging keine Bewegung. Alle Utensilien übergaben sie Marco, der diese in einem Beutel mit einer Bleikugel verstaute, und den Beutel rasch über Bord gehen ließ.

    Erst jetzt atmete Bodo erleichtert auf. Selbst wenn sie heute oder in den nächsten Tagen festgenommen würden, gäbe es keine stichhaltigen Beweis­mittel. Alles war bis ins kleinste Detail geplant.

    Kapitel 4

    Die Straße 430 im Norden von Neufundland führte direkt an der Seal Bay vorbei in Richtung St. Anthony. Bei einem kleinen Fischerhafen hatte Cristostomo den großen und alten Geländewagen abgestellt. Bodo hatte Bradly eingeschärft, den Kutter am äußersten Ende des kleinen Hafens anzulegen. Während die Männer von Bord kletterten, war es Oles Aufgabe, mehrere kleine Sprengsätze mit Zeitzünder knapp unterhalb der Wasserlinie anzubringen. Die Detonationen durften nicht laut sein. Gleichzeitig würde an mehreren Stellen des Kutters Feuer ausbrechen und rasch alle DNA-Spuren beseitigen. Erst danach sollte der Kutter auf Grund sinken.

    Beim Verlassen des Kutters blickte Bodo auf die Uhr. Es war inzwischen kurz vor 11:00 Uhr. In wenigen Minuten sollten sie am Flugplatz sein, und spätestens in dreißig Minuten würde das Flugzeug abheben.

    In Yarmoth, im äußersten Westen der Halbinsel Nova Scotia, würden sie voraussichtlich gegen 13:30 landen, hatte Vincent versprochen. Und gegen 14:30 Uhr wären sie mit der Yacht im Golf von Maine und kurze Zeit später im Atlantik in Richtung Süden. Der Kutter durfte deshalb nicht zu früh gesprengt werden. Sehr clevere Ermittler könnten eine Verbindung zum nahegelegenen Flugplatz herstellen – und damit zum Flug nach Nova Scotia. Andererseits war es notwendig, alle Spuren auf dem Kutter zu vernichten. Keine DNA-Spur durfte zurückbleiben; kein Fingerabdruck; nichts Verwertbares.

    Nach fünfzehn Minuten erreichte der Geländewagen den kleinen Flugplatz. Vincent, der fließend französisch sprach, hatte ein Flugzeug reserviert, und dem Piloten zweihundert kanadische Dollar zusätzlich versprochen, wenn dieser un­ver­züglich nach ihrer Ankunft vom Flugplatz abheben würde. Er gab die Mannschaft als Geschäftsleute und Ingenieure aus, welche einen sehr wichtigen Ter­min in Yarmouth hatten. Um diese Jahreszeit gab es keine große Auswahl an Flugzeugen. Ein kleines Flugzeug hätte nur vier Passagiere aufnehmen können, weshalb nur noch das Wasserflugzeug übrigblieb; eine Turboprop DHC-3T Turbine Otter.

    Der Abschied von Cristostomo und Amaro war kurz, herzlich und wortlos. Amaro und Cristostomo würden in fünfundvierzig Minuten in St. Barbe auf der Fähre zum Festland nach Quebec sein. Vereinbart war, dass Cristostomo in Blanc-Sablon ein Flugzeug nach Ottawa nehmen sollte. Dort hatte er seinen Jeep abgestellt. Amaro hatte sein geländegängiges Fahrzeug in Blanc-Sablon bei einem Freund geparkt. Zunächst war es seine Aufgabe, den Geländewagen mit eventuellen Fingerabdrücken und DNA-Spuren zu beseitigen. Danach würde er sich mit seinem Wagen auf Schleichwegen durch die Einöde schlagen. Hier war er zuhause. Die Bundesstraße 510 endete zwar dreißig Kilometer westlich in Middle Bay. Entlang der Küste gab es offiziell erst wieder eine Straße in Natasquan; über 400 Kilometer entfernt.

    Der Pilot musterte seine fünf Passagiere. Hier oben war es angebracht, nur Männer ins Flugzeug zu nehmen, denen man auch vertrauen konnte. Vincent unterhielt sich mit ihm in französischer Sprache, worauf sich die Miene des Piloten schlagartig lockerte.

    Es war ein Inlandflug. Nova Scotia, im äußersten Südosten, gehörte noch zu Kanada. Also verzichtete er auf Papiere. Allerdings musste er seinen Flug der Flugsicherheit melden, und den Flugplatz in Nova Scotia informieren, wann mit der Landung zu rechnen sei. Vincent sollte neben dem Piloten Platz nehmen. Marco und Bradly arbeiteten sich nach hinten. Als Bodo Ole bat, mit ihm den Platz hinter dem Piloten einzunehmen, wusste der norwegische Luchs, was er zu tun hatte.

    Vincent gab die Mannschaft als Experten für Bodenschätze aus. Das war in Kanada und Labrador nichts Ungewöhnliches und hätte den Piloten eigentlich beruhigen müssen. Doch warum blickte dieser Bursche auffallend oft in den Rückspiegel? Das war mehr als reine Neugierde.

    Die Männer hinter dem Piloten sprachen kein Wort. Seit über zwölf Jahren waren sie fast täglich zusammen. Ole verstand inzwischen aus der kleinsten Hand-, Mund- oder Augenbewegung Bodos zu lesen. Ole hatte keinen sehr hohen IQ. Dafür war er mit einer raschen Auffas­sungsgabe und einem außergewöhnlichen Instinkt ausgestattet.

    Als der Hüne ganz bewusst einige Sekunden die Lider seiner Augen schloss, war dies für den Norweger ein unmissverständliches Signal: Von diesem Piloten ging eine große Gefahr aus. Deshalb durfte dieser Mann nicht überleben.

    Bodo lehnte sich in den Sitz zurück. Er versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen, und die letzten Stunden zu verarbeiten.

    In den letzten fünfzehn Jahren hatte er sich, zusammen mit vielen Aktivisten, darauf kon­zentriert zu helfen, zu schützen und zu bewahren. Immer wenn er die Augen schloss, waren sie da … diese Bilder … von den angstverzerrten Augen der Tiere in den Laboratorien … von den traurigen und skandalösen Massen­tierhaltungen … von den Zehntausenden toten oder ölverklebten Vögeln … von den Einsätzen gegen den bestialischen Walfang und gegen Robbenschlächter … von der geschundenen Schöpfung. Er hatte diese Bilder mit seinen eigenen Augen gesehen. Sie waren durch ein Meer des Leidens, der Widerstände, der bodenlosen Arro­ganz, der Dummheit, der Ohnmacht, der Wut und der Tränen gegangen. Sie hatten sich treten, schlagen und einsperren lassen. Allein Little Guantanamo war die Hölle gewesen.

    Nein, es war nicht falsch, Ewalds Tod zu rächen. Diese seelenlosen Schlächter hatten den Tod verdient.

    Wie oft stand er mit hunderten Aktivisten im kalten Ölschlamm. Sie froren, zitterten und weinten, wenn sie in die flehenden Augen der vielen tausend Wasservögel sahen. Und auch später, wenn er mit seinen eigenen Augen die unvorstellbaren Umwelt­zerstörungen miterleben musste - hatte er sich oft gewünscht, eine Pistole in den Händen zu haben … weil ihm in diesen Augenblicken bewusst wurde, dass hier alle Worte endeten. In seinen Träumen hatte er schon oft eine Pistole oder ein Gewehr in den Händen – und aus Wut und Verzweiflung geschossen; mit Tränen in den Augen.

    Doch heute - das war kein Traum. Heute hatte er seine Träume Realität werden lassen. Ewald hätte versucht, diese Aktion zu verhindern. »Gott wird sie eines Tages richten«, wären seine Worte gewesen. Aber in der Zwischenzeit würden diese Wesen weiterhin Unheil anrichten an dieser schönen Natur mit ihren herrlichen Geschöpfen. In Bodos Seele rumorte es seit vielen Jahren. In ihr fanden Kämpfe statt. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Sie weinte. Sie schrie. Sie ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er war die ganzen vielen Jahre ruhelos. Oft hatte er sogar mit dem Gedanken gespielt, diesen entsetzlichen Bildern in seiner Seele zu entrinnen, indem er sich und seine Seele auslöschte - um endlich zur Ruhe zu gelangen; zu einer göttlichen und endgültigen Ruhe. Jetzt fühlte er sich auf eine ihm unerklärliche Weise frei von diesen Ängsten und Schmerzen. Jetzt schämte er sich sogar ob seiner Sehnsüchte, in der Vergangenheit sei­nem Leben ein Ende setzen zu wollen. Das wäre falsch gewesen. Grundfalsch. Vor dem Tod hatte er wahrlich keine Angst. Ein sinnloser Tod wäre jedoch eine Schande gewesen – nein nein, eine Sünde.

    Irgendetwas ließ Bodo leicht zusammenzucken. Er spürte Oles Hand auf seinem Arm.

    »Alles, was du tust, ist richtig«, hörte er Oles leise Stimme.

    »Verdammt! Kann dieser Kerl bereits meine Gedanken lesen«, fluchte Bodo in sich hinein. Er blickte auf seine Uhr. In zwanzig Minuten würde das Flugzeug landen. Er legte seine Hand auf Vincents Schulter.

    »Fliegt er heute noch zurück?«

    Vincent unterhielt sich kurz mit dem Piloten und beugte sich anschließend leicht zu Bodo nach hinten.

    »Er hat heute noch einen Flug. Er wird hier am Flugplatz noch einen Kaffee trinken, und muss in spätestens einer halben Stunde wieder starten.«

    Der Pilot blickte leicht fragend in den Spiegel. Bodo klopfte ihm leicht auf die Schulter.

    »Hauptsache das Wetter hält«, sagte er mit einem freundlichen Grinsen.

    Der Pilot deutete mit seiner linken Hand nach draußen.

    »Viel lieber würde ich jetzt auf die Jagd gehen«.

    Vincent lachte. »Oder einen solchen Lachs oder Dorsch fangen«. Mit beiden Händen deutete er das Maß der angestrebten Beute an.

    Der Pilot nickte einige Male zustimmend.

    Ole blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. Seine Augen richteten sich danach fragend an Bodo.

    »Vierzehn Uhr dreißig«, sagte Bodo leise und langte dabei mit der linken Hand leicht unter den Sitz des Piloten. »Bist du ausgestattet?«

    Ole nickte kurz.

    Danach lehnten sich beide Männer zurück, und versuchten, trotz des Dröh­nens in der Maschine etwas zu dösen.

    Bradly berichtete unterdessen Marco weiter hinten von seinen amourösen Abenteuern in Biloxi.

    Kurze Zeit später tauschte sich der Pilot mit dem Tower aus. In wenigen Minuten würden sie zur Landung ansetzen.

    Ole griff nach seinem Rucksack, den er griffbereit zwischen seinen Beinen hatte. Seitdem er mit einem Flugzeug in der Einöde von Norwegen einen Ab­sturz miterleben musste, hatte er sich vorgenommen, diesen mittelgroßen Ruck­sack immer in seiner unmittelbaren Nähe zu haben. Darin waren alle über­lebenswichtigen Utensilien verstaut. Mit einem geübten Griff öffnete er nun den Reißverschluss einer Seitentasche. Das kleine, schwarze Päckchen sah aus wie ein normaler Reisewecker. Der Rucksack war am unteren Ende mit vier Plastik­noppen ausgestattet, um diesen beim Abstellen vor Nässe zu schützen. Ole drehte an einer der beiden hinteren Noppen. Es stellte sich heraus, dass diese die Plastikstangen verschlossen, welche normalerweise die Aufgabe hat­ten, den Rucksack entlang des Rückens zu stabilisieren. In diesen beiden Stan­gen verbargen sich insgesamt zehn kleine Plastikpäckchen mit hochexplosivem Sprengstoff. Unzählige Tests hatten ergeben, dass diese Päckchen bei Routine­röntgenaufnahmen nicht sichtbar waren. Er entnahm nun eines dieser knapp fünf Zentimeter langen Päckchen. Danach klappte er den Deckel des Weckers auf, drückte kurz auf das Ziffernblatt, um es zur Seite zu schieben. Eine kleine längliche Vertiefung war zu sehen. Dort hinein legte der Sprengstoffexperte nun das weiße Päckchen. Erst jetzt war die kleine Steckverbindung zu sehen, die er aktivierte. Jetzt schob er das Ziffernblatt wieder in die Ursprungslage zurück. Aus einer der vorderen Noppen entnahm Ole zwei dünne Plättchen. Diese arretierten sich wie von Geisterhand auf der Rückseite des Weckers. Später erzählte er Bodo, dass es sich um Spezialmagnete gehandelte hatte. Ein Wecker, mit solchen Magneten ausgestattet, hätte bei eventuellen Kontrollen alle Alarmglocken schrillen lassen. Abschließend verglich er seine Armbanduhr mit der Uhr des kleinen Weckers. Es war 13:20 Uhr. Er stellte einen Zeiger auf 14:30 Uhr ein, schob einen winzigen Sicherungshebel zur Seite und klappte schließlich den Deckel zu.

    Bodos Freund aus den Fjorden Norwegens hatte eine gründliche Ausbildung zum Sprengstoffexperten genossen. Später, in Deutschland, als Bodo ihm nicht nur finanziell freie Hand ließ, sondern ihn sensibilisierte, sich weiterzubilden, hatte Ole Kontakte mit vielen Waffen- und Sprengstoff-Experten geknüpft. Da es äußerst gefährlich gewesen wäre, mit einer entsprechenden Ausrüstung nach Kanada zu fliegen, hatte Bradly nach Oles Anweisungen einige wichtige Utensilien überbracht. Beide Aktivisten hätten es sich niemals träu­men lassen, wie schnell und wie oft diese Ausstattung zum Einsatz gelangen sollte.

    Das Flugzeug nahm Kurs über den zerklüfteten Südteil Nova Scotias. Der Highway 103 führte kurz vor Yarmouth an der Küste des Golfs von Maine entlang. Einige Kilometer vor Yarmouth machte das Flugzeug eine Schleife, um den Flughafen von Süden anzufliegen.

    Ole sah eine kleine Landstraße nur knapp einhundert Meter unter sich. Er wartete, bis das Flugzeug aufsetzte.

    Ohne sich nach unten zu beugen, tastete er mit der linken Hand unter den Sitz des Piloten. Im Moment des Aufsetzens führte er das kleine Kästchen mit der Rechten nach unten. Das Klacken des Mag­neten wurde vom Dröhnen des Motors und durch das Geräusch des Aufsetzens übertönt. Sicherheitshalber kontrollierte er noch einmal, ob das Käst­chen festsaß. Zufrieden verzog er leicht den Mundwinkel.

    Der Flugzeugmotor heulte leicht auf, als der Pilot das Flugzeug drehte, und auf die kleine Halle mit dem angebauten Tower zurollte.

    Die fünf Männer stiegen aus. Vincent war mit einem Leihwagen durch Kanada bis zu seinem Freund in Tusket, einige Kilometer von Yarmouth ent­fernt, angereist. Dieser Freund und Verwandte würde später notfalls versichern, dass Vincent bei ihm einige Tage verbracht hatte. Bei seinem Freund Henry würde er übernachten, um am anderen Tag ein Flugzeug nach Montreal zu nehmen. Da Bodo nicht mit einem Taxi zum Yachthafen fahren wollte, bat Vincent seinen Freund, die kleine Crew abzuholen. Als sie das Flugha­fengebäude betraten, zischte Marco:

    „Blickt möglichst oft nach unten. Hier sind vier Kameras angebracht. Nicht interessiert oder gar prüfend nach oben schauen. Versichert euch am besten, ob eure Schuhe gut geputzt sind. Pelzmütze aufsetzen, und möglichst tief ins Gesicht ziehen. Alle Männer zogen ihre Pelzmützen ins Gesicht und steuerten mit dem Blick nach unten den Ausgang der Halle zu. Im Freien angelangt schlenderten sie gemeinsam an den kleinen Hallen entlang, als hätten sie alle Zeit der Welt. Einige hundert Meter außerhalb des Flughafengeländes, wo keine weiteren Überwachungskameras vermutet werden konnten, wartete Henry mit einem großen Geländewagen. Er brachte Bodo, Bradly, Ole und Marco zum Yachthafen. Bodo hatte Bradly eine Woche zuvor eingeschärft, seine Yacht mög­lichst am Rand des Hafengeländes vor Anker zu bringen.

    »Danke für deine Unterstützung mein Freund. Ich werde dir das nie verges­sen.« Bodo umarmte Vincent.

    »Ich habe es auch für Ewald getan«, brummte dieser. »Er war auch mein Freund. Verdammt, ich bin stolz auf unsere Truppe.« Er blicke Bodo in die Augen. »Der Pilot …?«

    »Gönn ihm seinen letzten Kaffee. Er wird nichts spüren«, sagte Bodo emotionslos. »Dieser dumme Mensch hatte sich alle unsere Gesichter sorgfältig ein­geprägt. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«

    Vincent nickte kurz, klopfte Bodo noch einmal auf die Schulter und stieg in das Fahrzeug zu seinem Freund Henry.

    Kapitel 5

    Bereits fünf Minuten später legte die Yacht mit den vier Männern ab. Im Golf von Maine war es deutlich wärmer, als an der Nordspitze von Neufundland. Vor allem Marco und Ole begutachteten das noble Gefährt. Ursprünglich war es eine deutsche Yacht; Baujahr 1993, weiß, und trotz einer Länge von knapp über 20 Meter sehr schnittig. Sie hatte eine Breite von 5,60 Metern, zwei Diesel­motoren mit 1150 PS und vier Kabinen. Genau genommen war die Yacht ein Geschenk Bodos an seinen Freund Bradly gewesen; gedacht als Startkapital für sein neues Leben. Der Mann aus Biloxi hing damals, wie so oft in seinem Leben, wieder einmal in den Seilen.

    Bradly war als Sohn eines Ingenieurs in Biloxi am Golf von Mexiko aufgewachsen. In seiner frühen Jugend entpuppte er sich als abenteuerlustiger und zäher Draufgänger, der den Großteil seiner Freizeit nicht hinter den Büchern, sondern in den Wäldern des De Soto National Forest und am Black Creek verbrachte. Mit zweiundzwanzig sah er keinen Sinn mehr darin, das Studium zum Ingenieur zu beenden. Bei den Eco Warriors lernte er Bodo und Marco kennen. Während die meisten Eco Warriors-Krieger vom FBI gefangen genommen wurden, war Bradly zunächst fest davon überzeugt gewesen, durch das Netz des FBI geschlüpft zu sein. Das stellte sich rasch als ein tragischer Irrtum heraus. Ein Mitarbeiter des FBI, er hieß Matt Craig, eröffnete ihm zwei Alternativen: »Entweder du folgst deinen »Kriegern« und schmorst einige Jahre im Knast. Und das wird alles andere als ein Spaß. Oder du verpflichtest dich für fünf Jahre, deinem Land in der Army zu dienen«, sagte er damals. Bradly war 195 cm groß, muskulös, breitschultrig, mit einem Stiernacken und langen Haaren. Die Ausbildung bei einer Spezialeinheit war die Hölle. Er wurde in vielen Waffenbereichen sowie zum Sprengstoff-Experten ausgebildet, nahm an vielen Einsätzen teil, erhielt viele Auszeichnungen und verlor eine Niere. Am Schluss dieser Karriere wurde er wegen Rauschgift­konsum und Rauschgifthandel unehrenhaft entlassen. In einem großen Yachtclub fand er Unterschlupf. Diese schöne Zeit ging rasch zu Ende, als er zu viele Frauen von einflussreichen Clubmitgliedern beglückt hatte. Alisha Caldwell, ebenfalls ein Eco-Warriors-Mitglied, war damals mehr Glück beschieden. Ihr gelang es tatsächlich, sich heimlich abzusetzen. Sie, die IT-Expertin, stand mit Marco in Verbindung, nachdem dieser wieder in Deutschland angekommen war. Auf diesem Umweg gelangte das Schicksal Bradlys an Bodos Ohr. Er schenkte Bradly die Yacht und das Startkapital. Das Unternehmen von Bradly konzentrierte sich in Biloxi auf Angeltouren, Tauch- und Naturexkursionen im Golf von Mexiko sowie im Hinterland vom Mississippi.

    Jetzt, im Frühlingswind und im Golf von Maine, freute sich Bradly auf die vielen Frauen, die auf ihn warteten. Dank der starken Motoren kamen sie gut voran. Auf hoher

    See zu ankern war zu dieser Jahreszeit nicht ratsam.

    Deshalb ging Bradly in einer geschützten Bucht nahe Cape Elisabeth gegen Abend vor Anker. Sie waren noch zu weit nördlich und Bodo hielt es nicht für angebracht, an Land zu gehen. Der Yachteigner hatte sich gut eingedeckt, so dass sie im Extremfall für gut eine Woche autark gewesen wären. Jetzt, nach so vielen Aufregungen, brauchte Bradly seinen Whiskey, möglichst viel Whiskey. Er hatte zwar dem Rauschgift abgeschworen, dafür fand er umso mehr Gefallen an Frauen und dem Alkohol.

    Die Männer waren hungrig. Heute Morgen hatte es nur eine Tasse Kaffee gegeben. Ole war der Koch, der Smutje. Seine Mutter war eine begnadete Köchin, und Ole hatte ihr oft über die Schulter geschaut.

    Gestern Abend hatten sie noch in der Kajüte des Kutters gesessen; sieben Mann auf engstem Raum, und draußen pfiff der Wind. Und heute Abend machten sie es sich auf dem großen Achterdeck einer Zwanzigmeter-Yacht zu viert gemütlich. In der geschützten Bucht wehte ein Lüftchen, welches den Frühling ahnen ließ.

    Hinter der Crescent Beach dehnte sich ein großer, dicht bewaldeter Natur­park aus; mit einem Felsenmeer davor. Im Osten erstreckte sich der Atlantische Ozean. Ein großer, rotgelber Sonnenball berührte gerade den Horizont und tauchte die Wasserfläche in viele Rot-, Gelb- und Brauntöne; dazwischen das Dunkelblau des Wassers und das helle Glitzern der leichten Schaumkronen.

    Bradly und Ole verschwendeten keinen Gedanken mehr über die Vorgänge von heute Vormittag. Sie hatten oft Szenen dieser Art erlebt, und waren ebenso oft dem Tode knapp entronnen. Für beide war es lediglich ein wahnsinnig guter und reibungsloser Einsatz gewesen. Mehr nicht.

    Entgegen Bodos Gepflogenheiten gönnte er sich am Abend einen Whiskey. Sogar Marco, der dem Alkohol noch nie hatte etwas abgewinnen können, ließ sich ausnahmsweise ein großes Glas einschenken. Lediglich Ole blieb bei seiner Cola. Alkohol war für ihn tabu. Sein Vater hatte sich totgesoffen. Das reichte. Unabhängig davon hatte er geschworen, über Bodo zu wachen. Wie ein Wolf witterte er, dass sein Freund litt und zweifelte. Deshalb litt auch er. Ole grübelte, wie er Bodo in dieser Situation helfen konnte. Warum um alles in der Welt litt er. Schließlich war es seine Entscheidung gewesen, diese Brut in die Hölle zu schicken.

    Bradly war im Unterdeck verschwunden, und tauchte mit einer neuen Flasche Whiskey wieder auf. Im Schein der spärlichen Beleuchtung glänzten seine Augen bereits glasig. Trotzdem hatte er immer noch einen erstaunlich aufrechten Gang.

    »Deine Schüsse waren toll«, lallte der Mann aus Biloxi und klopfte Bodo unsanft auf die Schulter.

    »He, das glaubt dir kein Schwein, dass du nicht in der Army warst.«

    Bodo verzog keine Miene.

    Obwohl der Whiskey Marco bereits leicht zugesetzt hatte, musterte er Bradly abschätzig und angeekelt.

    Ole begann schlagartig die Haltung einer Katze einzunehmen; kurz bevor sie sich auf eine Maus stürzt.

    Bradly, der mehr als eine halbe Flasche Whiskey in sich hineingeschüttet hatte, goss sich nun ein neues Glas nach; randvoll. Schwungvoll hob er das Glas, wobei sich ein Teil des Inhalts auf den Boden der Yacht ergoss.

    »Auf dich Bodo«. Er machte eine kurze Pause.

    »Aber mussten gleich alle sechs Kerle dran glauben? Von irgendetwas müssen die ja schließlich leben, wenn der Kabeljau dort oben alle ist.«

    Er nahm einen weiteren kräftigen Schluck, und fügte leise, als spräche er jetzt nur noch mit sich, hinzu: »Aber was solls. Futsch ist futsch.«

    Bodo blickte den Betrunkenen mit dem Ausdruck großen Erstaunens an. Leise erhob er sich, um wortlos unter Deck zu gehen.

    »Du dekadentes, dummes Schwein«, fauchte Marco und goss Bradly sein halbvolles Glas

    ins Gesicht. Er wartete nicht auf eine Reaktion und folgte Bodo in das Unterdeck. Bradly wischte sich die Flüssigkeit aus dem Gesicht und lispelte:

    »Was für eine Verschwendung.«

    Ole erhob sich langsam aus seinem luxuriösen Stuhl und ging an die Reling. Er blickte lange in die Dunkelheit und dachte an Nuncio.

    Vor einem Jahr hatte Bodo Ole vorgeschlagen, zu Nuncio in die Toskana zu fahren. Ihn hatten sie bereits bei einigen Einsätzen kennen gelernt. Dieser würde dann mit ihm zu Umberto in die Abruzzen fahren, um dort einige Wochen zu verbringen. Widerwillig war Ole damals Bodos Ratschlag gefolgt. Doch bereits am ersten Tag wurde er von dessen Weitsicht überrascht.

    Hoch oben in den Abruzzen, unweit eines riesigen Nationalparks, hatte Umberto gehaust. Zumindest dachte Ole dies anfangs. Doch bereits am zweiten Tag fühlte er sich wie zuhause; ein bisschen wie in den Fjorden und Wäldern Norwegens.

    Umberto war mindestens genau so wild wie die Natur, in der er wohnte. Man sah ihn erst, wenn er neben einem stand. Nuncio, der bei Umberto in die Lehre gegangen war, um sich zu einem Meister der Garrotte ausbilden zu lassen, erzählte Ole später die Geschichte von Umberto:

    Weltweit kannte man das Musikstück Il Silencio; das ursprüngliche »Signal zur Nachtruhe« durch den Stabstrompeter Oliver Willxoc Norton, wel­ches von Nino Rosso, zu einer erfolgreichen Lied-Parodie leicht abgewandelt, zum Welterfolg wurde. Doch in den Bergen Italiens war mit diesem Namen eine völlig andere Bedeutung verbunden.

    Sie alle kannten Umberto de Cosmo nicht persönlich. Er kam aus Longobucco, nordöstlich von Consenza in Süditalien. Als Strafe, dass er vor der Mafia nach Deutschland geflohen war, hatte die Mafia seine gesamte Familie ausgelöscht.

    Umberto verdingte sich viele Jahre im Nationalpark del Polino als Holzfäller. Immer in der Nacht schlich er sich nach Consenza. Im Laufe von fünfzehn Jahren brachte er die gesamt Mafia-Clique um; dreißig Männer - einen nach dem anderen; immer in der Nacht - und immer mit einem Messer oder der Garotte. Weil ihn, bis auf eine einzige Ausnahme, niemand gesehen hatte, und er immer geräuschlos zu Werke gegangen war, erhielt er den Namen »Il Silencio«; der Mann, der seine Gegner leise zur Nachtruhe brachte. Nur ein einziges Mal wurde er schwer angeschossen. Es war Nuncio, der ihn gefunden und gesund gepflegt hatte. Seitdem waren sie enge Freunde.

    Nach einer Woche hatte Ole das Gefühl, mit Zwillingsbrüdern durch die Schön­heiten dieser Landschaft zu streifen. Die drei Wochen vergingen wie im Flug. Während dieser Zeit hatte er viel von Umberto und vor allem von Nuncio gelernt. Begeistert war er, wie diese beiden Männer mit der »Garrotte« umzu­gehen wussten; ein beliebtes Mordinstrument der Mafia.

    Nur Bradlys Yacht ankerte in dieser Bucht. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen. Die Luft war klar, und hier draußen waren weitaus mehr Sterne zu sehen als in den Städten. Aus dem nahen Naturpark drangen viele Geräusche herüber. Lediglich auf dem Achterdeck hatte Bradly eine kleine Notbeleuchtung angelassen.

    Unter normalen Umständen hätte Ole eine Zeitlang dem Konzert aus den nahen Wäldern gelauscht, welches ihn an die Fjorde in Norwegen erinnerte. Er konzentrierte sich auf eine Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, und tastete nach seinem Gürtel. Rechts und links der Gürtelschnalle waren seltsame, halbrunde Verzierungen angebracht. Diese löste er nun vorsichtig. Im Halb­dunkel blitzte eine Drahtschlinge auf.

    Die Verzierungen links und rechts der Schlinge klemmte er nun zwischen Mittelfinger und Zeigefinger seiner beiden Hände.

    Und dann ging alles rasch. Blitzschnell warf Ole die Garrotte von hinten über Bradlys Kopf.

    Mit den Verzierungen zwischen den beiden Händen zog er rasch zu; das dünne Drahtseil schnitt in Bradlys Hals. Das halbvolle Whiskyglas entglitt dessen Hand und krachte auf den teuren Holzboden der Yacht. Trotz seines Alkoholspiegels war der Südstaatler plötzlich hellwach. Er versuchte unwillkürlich, nach unten wegzurutschen.

    »Lass‘ das«, zischte Ole.

    Bradly hatte seine Situation blitzartig erkannt, und rutschte wieder leicht nach oben. Er versuchte nun, seine beiden Daumen unter die Drahtschlinge zu schieben.

    Ole zog die Schlinge ruckartig fester. Nun führte er seinen Mund an Bradlys rechtes Ohr.

    »Ich lasse dich leben. Aber nur, weil du mit Bodo befreundet bist. Du bist dumm. Du bist dekadent. Und du hast vor allem keinen Respekt. Morgen wirst du dich bei Bodo entschuldigen. Haben wir uns verstanden?«

    Bradly nickte einige Male hastig.

    Die Schlinge lockerte sich leicht.

    »Du wirst Bodo künftig respektieren.« Oles Ton war hart, kalt und befehlend.

    »Hhjaa«, röchelte Bradly fast unhörbar und nickte wieder hastig.

    Die Schlinge öffnete sich, und Ole zog die Garrotte über Bradlys Kopf zurück.

    Der Trinkfreudige aus Biloxi griff blitzartig an seinen Hals und tastete diesen ab. Er wagte fast nicht zu atmen oder gar sich umzudrehen. Er lauschte ange­strengt in die Nacht – einige Minuten; viele weitere Minuten. Er wusste nicht wie lange. Schließlich versuchte er, sich aufzurichten.

    Als er endlich mit wackeligen Beinen stand, und die kühle Nachtluft tief ein­saugte, bemerkte er, dass er allein an Deck war. Er war hellwach und stellte erschüttert fest, dass die Innenseiten seiner Hose nass waren. Die Nachtluft ver­mischte sich zudem mit einem penetranten Gestank.

    Es war bereits gegen acht Uhr früh.

    Bodo, Ole und Marco saßen auf dem Achterdeck, welches knapp zwanzig Quadratmeter einnahm.

    Die Sonne hatte über dem Atlantik bereits den Horizont verlassen, und begann den leichten Nebelschleier, der über einem Sumpfgebiet im Westen der Insel waberte, aufzulösen. Die Möwen lärmten, und etwa zweihundert Meter vom Ufer entfernt jagte eine Schule Delphine.

    Die drei Männer unterhielten sich über die heutige Route sowie über die weiteren Etappen bis in den Golf von Mexiko.

    Marco hatte die Nachrichten gehört, und im Internet gesurft. Es gab noch keine Verlautbarungen aus Neufundland. Das war irritierend. Er wollte gerade weitere Ausführungen machen, als Bradlys Kopf aus dem Unterdeck auftauchte.

    Instinktiv hielt Marco inne. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas war anders als sonst. Norma­lerweise stolperte dieser Bursche mitten in ein Gespräch und begann wie ein Wasserfall drauflos zu plappern. Stattdessen steckte er nun den Kopf vorsichtig an Deck; wie ein geprügeltes Kind, welches vorsichtig schaute, ob die Luft rein ist.

    »Na, hast du deinen Rausch ausgeschlafen«, sagte Marco forsch und leicht vorwurfsvoll. Für Bradly war es wohl ein Zeichen, dass er sich trauen konnte, das Deck zu betreten. Langsam schlurfte er auf den Frühstückstisch zu. Er senkte dabei fast demutsvoll seinen Kopf.

    Vor Bodo ließ er sich plötzlich auf die Knie fallen. Er nahm Bodos rechte Hand, um diese auf seinen Kopf zu legen.

    »Verzeih‘ mir Bodo. Ich bin ein seltendummer Idiot«, sagte er leise und fast flehend.

    Bodo erhob sich, und half Bradly aufzustehen. Dabei streifte sein Blick dessen Hals. Nur für den Bruchteil einer Sekunde zuckte er zusammen. Und im Bruchteil dieser Sekunde erkannte er Oles Handschrift. Er legte seine beiden Hände auf Bradlys Schulter, sah ihm in die Augen und sagte laut:

    »Hör auf zu saufen. Du hast doch nur noch eine Niere. Da, schau hinaus. Ist sie nicht schön, diese Schöpfung? Ewald kann sie nicht mehr sehen. Er kann diese Schönheiten nicht mehr fotografieren. Für dich hätte ich vielleicht das Gleiche getan, wie für Ewald. Das verstehe ich unter Freundschaft.«

    Bradly blickte schuldbewusst auf die Planken der Yacht.

    »Ich weiß. Entschuldige noch einmal Bodo. Bitte«, sagte er leise.

    Bodo schob Bradly nun unsanft von sich. »Du musst jetzt frühstücken. Schließlich brauchst du Kraft für deine vielen Weiber.«

    Bradly wischte sich eine Träne mit dem Handrücken fort.

    »Hier unten gibt es aber auch rassige Weiber«, sagte er lachend.

    »Da muss sich Gott doch etwas dabei gedacht haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Was soll ich künftig machen? Wenn ich jetzt nicht mehr so viel trinken darf, brauche ich doppelt so viele Frauen.«

    Alle Männer lachten. Auch Ole. Er ging auf Bradly zu, um ihm die Hand zu reichen.

    »Bodo wünscht sicher, dass wir Freunde bleiben.« Erst jetzt sah Marco die dünne Wunde an Bradlys Hals. Der Saufbold hätte mit Sicherheit kein so breites Grinsen aufgesetzt, hätte er gewusst, dass ihm fünf Tage später mit Sicherheit nicht der Sinn nach Frauen stehen würde.

    Am 15. April 2010 ging um 14:38 Uhr ein Telefonat bei der Royal Canadian Mounted Police in Ottawa ein Telefonat ein. In der Außenstelle in St. Anthony hatte die besorgte Familie eines Robbenjägers gemeldet, dass man seit einigen Stunden keinen Kontakt zum Kutter in der Hare Bay herstellen konnte. Das war äußerst ungewöhnlich.

    Vorsorglich hatte der Staff Sergeant die Meldung an ein Suchflugzeug weitergeleitet. Das Flugzeug hatte den Kutter rasch gefunden, und bei einem Tiefflug die Leichen der sechs Robbenjäger ausfindig gemacht. Die Antwort des Commissioners war knapp und unmissverständlich:

    »Niemand betritt den Tatort. Die Angehörigen noch nicht benachrichtigen. Wir kommen unverzüglich. Umgebung weiträumig im

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