Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schnee auf Ouessant
Schnee auf Ouessant
Schnee auf Ouessant
eBook420 Seiten5 Stunden

Schnee auf Ouessant

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In der berüchtigten Strömung des Fromveur, unmittelbar vor der Küste der Insel Ouessant, treibt ein Fischerboot, scheinbar führerlos, in die Richtung der Hauptroute des Ärmelkanals. Vergeblich hat die Seeüberwachung versucht Funkkontakt mit dem Boot zu bekommen. Eine ernste Angelegenheit, denn eine Kollision mit einem Tanker oder Frachter könnte zu einer Havarie, bis hin zu einer erneuten Ölpest an der französischen Küste führen. Die französische Küstenwache, die Gendarmerie maritime, wird umgehend informiert. Ein Fischer der Insel Ouessant wird erschossen auf dem Boot gefunden. Das zuständige Kommissariat in Brest bittet, zur Aufklärung des Mordes, um Unterstützung durch die Kollegen aus Quimper. Die Kollegen in Brest sind mit der Aufklärung einer anderen Mordserie ausgelastet. Kommissar Kerber und sein Kollege Chevrier werden auf die Insel Ouessant geschickt, um diesen Mord zu untersuchen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Mai 2016
ISBN9783738071191
Schnee auf Ouessant

Mehr von Jean Pierre Kermanchec lesen

Ähnlich wie Schnee auf Ouessant

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Schnee auf Ouessant

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schnee auf Ouessant - Jean-Pierre Kermanchec

    Kapitel 1

    Kommissar Kerber war erstaunt, als sein OPJ ihm mitteilte, dass er mit seinem Kollegen, Paul Chevrier und den Kollegen von der Spurensicherung, auf die Île d´Ouessant fliegen sollte, um dort einen Mordfall aufzuklären. Die eigentlich zuständigen Kollegen in Brest, waren mit einer Mordserie beschäftigt und damit voll ausgelastet. Sodass sie keine Zeit und keine Männer für die Untersuchung eines Mordes auf Ouessant zur Verfügung stellen konnten.

    Ewen Kerber hatte gerade erst seinen letzten Fall abgeschlossen, einen Mord im Park von Trévarez. Jetzt sollte er in wenigen Stunden bereits nach Ouessant fliegen, warum er?

    Die Frage war unnötig, wenn nicht er, wer denn sonst. Er war der Leiter der Mordkommission von Quimper und damit der zuständige Ermittler, falls die Kollegen in Brest um Unterstützung baten.

    Er musste zuerst nach Hause fahren und sich wenigstens einige Sachen einpacken. Ein Mord würde nicht in ein paar Stunden aufgeklärt werden. Ewen griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Frau, beim BNP Paribas.

    „Carla, Ewen hier. Gut, dass ich dich erreiche."

    „Aber Ewen, ich bin doch beinahe immer zu erreichen, wenn ich im Büro bin. Was gibt es denn Wichtiges?"

    „Nourilly hat mir soeben mitgeteilt, dass ich einen neuen Fall habe."

    „Oh, schon wieder ein Toter in Quimper?"

    „Nein, diesmal ist der Tote nicht hier in der Cornouaille. Wir müssen, Ewen hielt für einen kurzen Moment inne, „halte dich fest, nach Ouessant fahren.

    „Bitte, du musst nach Ouessant? Ach, mein armer Liebling, hoffentlich übersteht dein Magen diese Reise?"

    „Ich muss nicht auf ein Schiff gehen, wir bekommen den Hubschrauber gestellt. Ich will dir nur sagen, dass ich ein paar Kleider zusammenpacken werde und mich dann auf den Weg mache. Wir fliegen bereits in wenigen Stunden los. Paul und Dustin werden mich begleiten. Nourilly hat uns bereits Zimmer im Hotel Le Fromveur reserviert."

    „Dann kannst du ja unseren letzten Kurzurlaub auf der Insel revue passieren lassen."

    „Nur, wenn ich Zeit dazu habe. Ich melde mich am Abend bei dir."

    Ewen verabschiedete sich und ging nach Hause. Zwei Stunden später war er wieder im Büro. Paul und Dustin warteten bereits auf ihn, gemeinsam fuhren sie zum Flughafen. Nourilly hatte ihnen noch die Kopien der ersten wenigen Ermittlungsunterlagen mitgegeben, damit sie sich in den Fall einlesen konnten.

    „Das sehen wir uns auf der Insel an. Wir gehen sofort nach der Landung ins Hotel, geben unser Gepäck ab und setzen uns mit der ortsansässigen Gendarmerie in Verbindung."

    „Du kennst dich doch gut auf der Insel aus Ewen, oder etwa nicht?"

    „Paul, du wirst es selbst erleben, sobald wir auf der Insel sind. Es gibt nicht viel, um sich dort auszukennen. Die Insel ist gerade einmal sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit. Wir haben damals alle Wege zu Fuß erkundet. Ich gehe davon aus, dass man uns einen Polizeiwagen, oder wenigstens ein paar Fahrräder zur Verfügung stellen wird."

    Dustin hatte das Geplänkel zwischen Paul und Ewen mit angehört.

    „Kann mir einer sagen, warum ich dann auf die Insel soll? Bei so einem kleinen Flecken, da kann es doch schon fast keine neuen Spuren geben. Bestimmt ist alles bereits vollständig zertrampelt."

    „Dustin, ohne dich sind wir aufgeschmissen, das weißt du ganz genau. Und im Übrigen, das Auffinden von Fingerabdrücken, DNA und was es sonst noch alles an Spuren gibt, kann keiner besser als du, unser Spezialist."

    „War auch nur ein Spaß." Dustin wusste zwar, dass Ewen ihn eher auf den Arm nehmen wollte, als seine besonderen Fähigkeiten herauszustellen, er hörte diese Lobeshymne dennoch gerne.

    Der Hubschrauber stand bereit, als sie am Flughafen ankamen und ihren Wagen auf dem Platz der Flughafenbehörde abstellten. Die Strecke nach Ouessant legte der Hubschrauber in knappen 40 Minuten zurück. Kein Vergleich zu den zweieinhalb Stunden, die das Schiff von Brest aus benötigt hätte.

    Sie landeten auf dem eigens für Hubschrauber angelegten Landeplatz vor dem Radarturm, der die Rail d´Ouessant überwachte. Mit über 60.000 Schiffen war die Route durch den Kanal die am stärksten befahrene Passage in Europa. Gleichzeitig mussten die Schiffe auch die Fromveurströmung, die gefährlichste Europas, passieren.

    Als Ewen Kerber mit seinen Kollegen aus dem Hubschrauber kletterte, kam ihnen bereits ein junger Gendarm entgegen. Der Beamte war beauftragt worden, die Messieurs les Commissaires, abzuholen und sie ins Hotel Le Fromveur zu bringen.

    „Bonjour les Commissaires", begrüßte er die ankommenden Männer.

    „Jean-Paul Berthelé, mein Name. Ich soll Sie sofort ins Hotel Le Fromveur bringen. Anschließend erwartet Sie mein Vorgesetzter im Gendarmerieposten, nur wenige Meter vom Hotel entfernt. Ich werde Ihnen den Weg zeigen."

    „Bonjour Monsieur Berthelé, Ewen Kerber von der police judiciaire Quimper. Meine Kollegen, Paul Chevrier und Dustin Goarant", begrüßte Ewen den Mann. Auch Paul und Dustin reichten ihm die Hand. Danach stiegen sie in den Polizeiwagen, der gut und gerne seine 15 Jahre auf dem Buckel hatte. Ein Blick auf den Tachometer zeigte Ewen, dass das Fahrzeug gerade einmal 50.000 Kilometer zurückgelegt hatte. Kein Wunder, dass das Fahrzeug noch nicht ersetzt worden war.

    Der junge Gendarm musste wohl die erstaunten Blicke gesehen haben, die Ewen beim Anblick des Wagens und bei der Betrachtung des Tachometers gezeigt hatte.

    „Wir fahren hier auf der Insel keine großen Strecken. Wenn es hoch kommt, sind es vielleicht zwölf Kilometer am Tag. Die Insel ist klein, und viele Wege sind sowieso nur mit Fahrrädern zu befahren. Da kommt nicht viel auf den Tacho."

    „Das kann ich gut verstehen", meinte Ewen, als der Wagen sich in Bewegung setzte und die knapp 500 Meter bis zur Hauptstraße, die den Port du Stiff, der Anlegestelle der Schiffsverbindung von Brest, und Le Conquet, mit dem Hauptort Lampaul verband. An der Kreuzung hielt der Wagen kurz an, um eine Reihe von Fahrradfahrern vorbeifahren zu lassen. Dann bogen sie nach rechts ab und folgten der Straße noch ungefähr vier Kilometer.

    Das Hotel Le Fromveur lag im Zentrum des kleinen Ortes, nur wenige Meter von der Kirche, dem kleinen Spar Supermarkt und einigen Andenkengeschäften entfernt.

    Der Polizeiwagen hielt vor der Eingangstür und die drei Männer stiegen aus, holten ihre Gepäckstücke, die sie vor dem Einsteigen in den Kofferraum gelegt hatten, und betraten das Hotel.

    „Bonjour Monsieur le commissaire", begrüßte sie der Wirt, Tanguy Kerlann. Ein Mann um die 50, dicklich, mit einem sympathischen Lächeln.

    „Bonjour Monsieur Kerlann, so schnell kann man sich wiedersehen", meinte Ewen und reichte dem Wirt die Hand.

    „Ich habe Ihnen doch beim letzten Besuch gesagt, wer einmal auf der Insel gewesen ist, der will nicht mehr weg von hier."

    Ewen musste lachen, er erinnerte sich zu gut an seine Gedanken, beim damaligen Ausspruch dieser Worte des Wirts. Damals war er davon überzeugt, dass alleine schon der Gedanke an eine erneute Durchquerung des Fromveur, einen dazu bringen konnte auf der Insel bleiben zu wollen.

    „Wie geht es Ihrer Frau, Gaëlle?", fragte Ewen den Wirt.

    „Der geht es bestens, sie ist in der Küche und bereitet alles für den Abend vor. Was bringt Sie wieder auf die Insel?"

    Kerlann sah Ewens Kollegen an und reichte jedem die Hand.

    „Eine Straftat, Monsieur Kerlann."

    „Ach, der Tod von dem Alten, Marc Noret?"

    „Ich habe mir die Akte noch nicht genau angesehen, aber es kann schon sein, dass das sein Name gewesen ist."

    „Ja, der arme Noret, er ist zwar ein ziemlicher Eigenbrötler gewesen, aber eine liebenswerte Person. Wir haben es nicht fassen können, als wir gestern von seinem Tod gehört haben. Als die Küstenwache sein Boot im Schlepptau in den Hafen gebracht hat, da haben wir gedacht, es hätte einen Zusammenstoß mit einem anderen Schiff gegeben, oder er sei einem Herzinfarkt erlegen. Er ist ein erfahrener Fischer gewesen und hat die Gewässer um Ouessant wie kein Zweiter gekannt. Genauso gut hat er von den Gefahren gewusst, die das Meer rund um die Insel birgt. Deshalb glauben wir nicht an einen Unfall. Dann gibt es das Gerücht, dass er ermordet worden ist. Nachdem Sie jetzt hier eingetroffen sind, muss wohl etwas dran sein."

    „Ja Monsieur Kerlann, da ist wohl etwas dran. Wir würden gerne unsere Zimmer beziehen, wenn es möglich ist?"

    Ewen wollte sich jetzt nicht ausführlicher zu dem Fall äußern, zumal er selbst noch nicht so richtig wusste, was genau vorgefallen war.

    „Natürlich ist es möglich, die Saison ist fast vorbei, da sind nicht mehr alle Zimmer besetzt. Ihre Zimmer sind schon bereit."

    Tanguy Kerlann zog eine Schublade unter seinem Empfangstisch auf und entnahm ihr drei Schlüssel. Er reichte Ewen den Schlüssel mit der Nummer 10, Paul Chevrier reichte er die 11 und Dustin die Nummer 15.

    „Sie kennen sich ja schon aus, Monsieur le commissaire", sagte Tanguy und zeigte auf die rechte Seite seiner Theke.

    „Die Treppe hoch und durch den Wintergarten."

    „Danke, Monsieur Kerlann, ich kenne mich noch aus."

    Ewen ging voran. Auf der ersten Etage lagen die Zimmer 10 und 11 auf der rechten Seite. Dustin musste, um sein Zimmer zu erreichen, den kleinen Wintergarten durchqueren und eine weitere Treppe nach oben steigen. Die Herren verabredeten sich in einer viertel Stunde im Gastraum des Hotels, um sich die Akte genauer anzusehen.

    Ewen legte seine Reisetasche im Zimmer ab, nahm die Akte aus der Mappe und machte sich sofort auf den Weg nach unten.

    Dann sprach er den Wirt an.

    „Monsieur Kerlann, Sie haben vorhin die Gerüchte erwähnt, die zurzeit im Umlauf sind. Was genau erzählen sich die Insulaner denn?"

    „Nun, Monsieur le commissaire, ich kann Ihnen nicht viel sagen, mir ist nur bekannt, dass ein Schiff der surveillance maritime das Boot von Marc Noret aus der Fahrrinne gezogen hat. Es soll sich mitten in der Strömung des Fromveur befunden haben. Als die surveillance maritime das Boot per Funk kontaktiert hat, hat niemand auf dem Boot geantwortet. Die Strömung ist bereits dabei gewesen, das Fischerboot in Richtung des Kanals zu ziehen. Es wäre ganz bestimmt zu einer Kollision mit einem der großen Schiffe gekommen, wenn das Boot nicht rechtzeitig abgefangen worden wäre. Es hätte Fürchterliches passieren können. Unsere größte Angst auf Ouessant ist eine erneute Ölkatastrophe, wie die der Amoco Cadiz vor 36 Jahren. Ich bin damals noch ein kleiner Pimpf gewesen. Mein Vater hat mich mit zum Strand genommen. Ich habe beim Säubern geholfen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Öl in ein Schiff von 334 Meter Länge passt."

    Ewen wollte wieder zum eigentlichen Thema zurückkehren.

    „Die surveillance maritime hat das Boot von Noret herrenlos in der Strömung gefunden?"

    „Ja, so erzählt man im Dorf."

    Inzwischen waren auch Ewens Kollegen heruntergekommen.

    „Wir setzten uns an einen Tisch in der Bar, Monsieur Kerlann, um die Akten zu studieren. Bringen Sie uns etwas zu trinken?"

    „Einen Rosé für Sie?" Tanguy Kerlann konnte sich noch erinnern, dass Kerber immer nach einem Rosé gefragt hatte.

    „Nicht in der Dienstzeit, später sehr gerne. Sie können schon eine Flasche kaltstellen. Jetzt wäre eine Tasse Kaffee genau das Richtige."

    „Für mich ebenfalls", sagte Paul, und Dustin bestellte eine Flasche eau plate.

    Ewen legte die Akte auf den Tisch, und sie sahen sich die wenigen Informationen an.

    Das Protokoll der Küstenwache, die Aussage des Matrosen, der als erster auf das Boot von Noret gekommen war, schließlich noch die Bilder, die die Küstenwache auf dem Boot aufgenommen hatte.

    Kapitel 2

    Marc Noret war früh am Morgen, gegen halb sechs aufgestanden. Die größeren Fischerboote fuhren zum Sardinenfang bereites am Abend aufs Meer und legten ihre Netzte aus. Sie kamen dann gegen halb sechs am Morgen wieder zurück. Marc Noret machte sich selten vor sieben Uhr auf den Weg. Er fischte stets mit der Angel, oder wie die Bretonen sagten, la pêche en ligne. Da kam es nicht so darauf an, schon in der Nacht unterwegs zu sein.

    Ein Blick aus dem Fenster seines Häuschens, dass in Pen Ar Lan, gleich hinter dem kleinen Flughafen der Insel lag, sagte ihm, dass das Wetter gut werden würde. Er musste keine größeren Vorsichtsmaßnahmen treffen. Er legte sich seine drei Angeln bereit, kümmerte sich um die Köder und packte alles auf den Anhänger, den er an seine Vélosolex befestigen konnte. Jetzt machte er sich auf den Weg zum Hafen. Er hatte seine Anlegestelle im Port du Stiff, nahe am Embarquement, wie die Anlegestelle genannt wurde, von wo aus die Fähren zum Festland ausliefen bzw. wo sie einliefen. Er war einer der letzten Fischer der Insel. Früher lebten die Insulaner fast ausschließlich vom Fischfang, wenn man von den etwas dunkleren Zeiten absah, in denen die Strandräuberei eine wesentliche Einnahmequelle war.

    Anfang des 17. Jahrhunderts, zu Vaubans Zeiten, hatten die Bewohner von Ouessant nicht wie heute, den Ruf unerschrockener Retter, für die in Seenot geratenen Schiffe und deren Besatzungen. Vielmehr galten sie als rücksichtslose, ja mörderische Strandräuber. In jener Zeit, galt die Beschäftigung mit dem Raub von Strandgut nicht als unehrenhaft, sondern war für die Bewohner vielmehr eine Tätigkeit, der man sich professionell und ideenreich nähern musste. Wenn die regelmäßigen Havarien, an den Riffen rund um die Insel Ouessant nicht ausreichten, um den Insulanern ein erträgliches Einkommen durch den Raub von Strandgut zu sichern, band man in der Nacht Rindern Fackeln an die Hörner und trieb sie über den Strand. Dadurch wurden Schiffe in die Irre geleitet und zerschellten an den Riffen. Erst Colbert bereitete 1681 der hinterhältigen Piraterie ein Ende, indem er die Todesstrafe für Strandräuber einführte.

    Marc Noret pflegte, wenn er gut gelaunt war, in seinem Stammlokal, der Bar de l´Arrivée, die Geschichte zu erzählen, dass sein Ururururgroßvater ein recht erfolgreicher Strandräuber gewesen war. Mit dem Strandgut hatte er damals sein ganzes Haus ausgestattet. Angefangen von den Möbeln, über das Geschirr, bis hin zu den Bettlaken, stammte alles vom Strand. Seine Ururururgroßmutter war auf diese Weise die am besten ausgestattetste Hausfrau der Insel gewesen.

    Es gab berechtigte Zweifel an dieser Geschichte, die aber nur von demjenigen geäußert wurde, der nicht von der Insel stammte.

    Marc Noret fuhr mit seiner Vélosolex durch die schmale Straße, vorbei am Flughafen zum Hafen. Sein Fischerboot, die l´Ormica, lag gut vertäut am Anleger. Die Flut hatte das Boot soweit angehoben, dass er, ohne die Leiter benutzen zu müssen, an Bord gehen konnte. Seine Vélosolex stellte er in die hintere Ecke des Kais. Angst vor einem Diebstahl hatten die Bewohner nicht, so dass die Autos oder Motorräder nie abgeschlossen wurden. Wie sollte ein Dieb auch von der Insel wegkommen. Es blieb nur die Fähre, die aber keinerlei Fahrzeuge an Bord nahm. So lange die Bewohner sich erinnern konnten, war auch noch nie ein Auto entwendet worden, wenigstens nicht auf Nimmerwiedersehen. Es kam schon vor, dass Jugendliche sich ein Auto schnappten, um eine Spritztour zum Hafen zu unternehmen. Aber das war eher die Ausnahme.

    Marc Noret öffnete das kleine Führerhaus und legte sein mitgebrachtes Essen in die Vorratskiste, die er links unterhalb der Scheibe angebracht hatte. Dann holte er seine Angeln und die Köder, legte sie im Heck des Bootes ab und ging zurück ins Führerhaus. Er schloss den Motor an die Batterie an und drehte seinen Schlüssel im Zündschloss. Das alte Dieselaggregat brauchte einige Umdrehungen, dann begann es zu tuckern. Die Taue, die das Boot an Bug und Heck festhielten, waren schnell gelöst, und langsam ging die Fahrt durch die Hafeneinfahrt aufs offene Meer hinaus. Inzwischen war es bereits neun Uhr geworden, die Sonne schien von einem dunkelblauen Himmel, der nur wenige Schleierwolken aufwies.

    Sein Blick schweifte über die kleinen Felseninseln, die die Einfahrt links und rechts säumten, und ging weiter bis zur Île Molène, die vielleicht drei Kilometer entfernt in östlicher Richtung lag. Das Meer war ruhig, die Wellen hatten kaum einen Meter Höhe, und seine l´Ormica wiegte sich ganz sachte auf ihnen. Marc war anderes gewohnt. Wie oft war er bei Windstärke acht durch diese berüchtigte und gefürchtete Strömung gefahren. Er dankte seinem Schöpfer nach jeder Rückkehr, wenn er gesund und heile den Hafen wieder erreicht hatte. Er wäre nicht der Erste gewesen, der sein Leben auf dem Meer gelassen hätte und bei dem die proëlla abgehalten worden wäre.

    Die proëlla, wie die Insulaner den Brauch nennen, wird schon seit Jahrhunderten auf der Insel zelebriert. Die Leichen, der auf See verunglückten Männer, werden häufig nicht gefunden. So wird der Verstorbene durch eine kleine Wachsfigur symbolisiert. Der Name proëlla kommt aus dem Bretonischen und bedeutet so viel wie zurückgeben. Durch die Wachsfigur wird der Tote dem Land zurückgegeben. Die Figur wird während einer kirchlichen Trauerfeier in eine Urne gelegt und vom Priester, in das extra dafür errichtete Monument, in die Mitte des Friedhofs gebracht.

    Gemütlich lenkte er sein Boot durch den Fromveur. Sein Ziel lag unweit der Hauptfahrrinne, der Rail d´Ouessant, wie das gut überwachte Seegebiet genannt wurde.

    Nach der Strandung des Öltankers, der Amoco Cadiz, waren die Politiker übereingekommen, dass eine solche Katastrophe nicht noch einmal passieren durfte. Auf Ouessant wurde damals ein großer Radarturm errichtet, der die Passage durch den gefährlichen Fromveur überwachte. Mit Hubschraubern und Schiffen patrouillierte die surveillance maritime seit dem Tag und Nacht, um auf das Einhalten der Route zu achten.

    Marc Noret war es gewohnt, sich bei der Überwachungsstelle anzumelden, wenn er den Fromveur durchquerte. Er besaß eine AIS Anlage (Automatic Identification System). Mit dem AIS-System wurde sein Boot identifiziert und schickte wichtige Daten an das System. Damit war er für andere Teilnehmer der Schifffahrt sichtbar und sein Aufenthaltsort bekannt. Die Informationen dienten nicht nur den anderen Schiffen, sondern auch den Landstationen und der Hafenbehörde. Auch die Rettungseinrichtung überblickte die Position der Schiffe und konnte im Bedarfsfall sehen, wer sich in der Nähe eines in Not geratenen Schiffes aufhielt.

    Die übermittelten Daten gaben Auskunft über den Schiffsnamen, das internationale Funkrufzeichen, den Schiffstyp und die Abmessungen des jeweiligen Schiffes, sowie die Angaben über seinen Tiefgang und den Zielhafen. Marc Noret fühlte sich sicherer, seitdem er die Anlage installiert hatte. Jetzt konnte die Überwachung sofort sehen, wenn sich sein Boot in Schwierigkeiten befand. Natürlich musste er das System dazu einschalten, ansonsten funktionierte es nicht.

    Jetzt hatte er beinahe die Stelle erreicht, an der er seinen Anker für den heutigen Fischfang werfen wollte. Er hielt sich mit seinem Boot außerhalb der Rail d´Ouessant auf, so dass er kein Hindernis für die Schifffahrt darstellte.

    Marc Noret holte seine Angeln und präparierte sie. Dann warf er sie aus und steckte sie in die Halterung am Heck seines Bootes. Jetzt brauchte er nur Geduld. Schon nach wenigen Minuten hatte der erste Fisch angebissen. Der Tag begann erfolgreich.

    Nach drei Stunden reichte ihm der Fang, und Marc Noret begann mit den Vorbereitungen für die Rückfahrt. Am Horizont tauchte ein großes Containerschiff auf und näherte sich seinem Standort. Marc war zwar etwas irritiert, normalerweise fuhren die Schiffe gut zwei Seemeilen weiter östlich, aber er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Er wollte abwarten, bis das Schiff an ihm vorbeigefahren war. Erst anschließend würde er die Fromveur-Strömung wieder queren.

    Das Schiff kam schnell näher und Marc Noret erkannte, dass es in einem Abstand von vielleicht 500 bis 600 Metern an seinem Boot vorbeifahren würde. Plötzlich hatte er den Eindruck, es würden Pakete ins Meer geworfen. Marc ging ins Führerhaus und holte sein Fernglas. Es gab keinen Zweifel, vom Deck des Containerschiffes wurden Pakete ins Meer geworfen. Zuerst dachte Marc an Abfall, den das Schiff hier entsorgte. Dann aber tauchte eine Yacht auf, die sich dem Schiff mit hoher Geschwindigkeit näherte und mit einem Netz, das an einer langen Stange befestigt war, die einzelnen Pakete aus dem Wasser zog.

    „Was zum Teufel geht hier vor?", fragte sich Marc. Er holte den Anker ein und startete den Motor. Das Boot setzte sich langsam in Bewegung. Er riss das Ruder herum, das Boot drehte zur Yacht. Als er nur noch gute 100 Meter von der Yacht entfernt war, versuchte er sie per Funk zu kontaktieren. Aber die Männer auf der Yacht reagierten nicht. Marc Noret drehte bei und stoppte den Motor. Es schien, als hätten die Männer alle Pakete an Bord geholt. Marc konnte nicht sehen, um welchen Inhalt es sich bei den Paketen handelte. Er erkannte nur, dass sie alle gut verschnürt und mit Ölpapier umwickelt waren, so wie das Paket, das er vor einigen Monaten im Wasser gefunden hatte, und das noch immer ungeöffnet in einem Schrank in seinem Haus lag. Ein kurzer Blick zum Containerschiff zeigte ihm, dass es wieder Fahrt auf die Fahrrinne genommen hatte. Marc notierte sich den Namen des Schiffes in seinem kleinen Logbuch, das er aus alter Tradition immer noch führte.

    Als er wieder aus dem Führerhaus herauskam und zur Yacht hinübersah, erkannte er zuerst nur, dass die Yacht seinem Boot deutlich näher gekommen war, danach sah er ein kurzes Aufblitzen, bevor eine Kugel die Bordwand genau unter seinem Standort traf.

    „Sind die verrückt geworden?" Marc kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Ein zweiter Schuss traf ihn genau ins Herz. Er sackte zusammen und fiel auf die Wanne, in der der Fang vom Tag lag. Das Wasser schwappte heraus, und die Fische verteilten sich über die Planken des Bootes.

    Die Yacht näherte sich dem Boot von Noret und ein Mann sprang auf das Fischerboot. Er ging zur Leiche von Noret und fühlte nach seinem Puls. Als er sich vergewissert hatte, dass Noret tot war, verließ er das Fischerboot sofort wieder.

    Die Yacht drehte ab, und nach wenigen Minuten war sie auch schon aus der Umgebung des Fischerbootes verschwunden, das jetzt in Richtung des Kanals trieb, angezogen von den Ausläufern der Fromveur-Strömung.

    Es dauerte nur eine halbe Stunde und die surveillance maritime meldete sich.

    „L´Ormica, bitte melden, L´Ormica, Ihr Boot bewegt sich im Kreis. Hören Sie, bitte melden."

    Marc Noret konnte sich nicht mehr melden, jetzt half ihm nicht einmal mehr das AIS-System. Die Überwachungsstelle versuchte es noch einige Male, dann wurde ein Schiff der surveillance maritime aufs Meer hinaus geschickt, um die drohende Gefahr durch das führerlos gewordene Boot von Noret für die Schiffspassage durch den Kanal abzuwenden.

    Eine Vedettes côtières von der surveillance maritime, die Aber-Wrach, wurde losgeschickt, um nachzusehen, was mit der l´Ormica passiert war. Es waren schnelle Schiffe, die alle der Gendarmerie maritime unterstanden. Es dauerte nicht lange, und das Schiff erreichte die l´Ormica. Schnell war klar, dass hier ein Gewaltverbrechen vorlag. Die Gendarmerie maritime nahm Fotos des toten Marc Noret auf, um möglichst alles zu sichern. Sie versuchte, möglichst keine Spuren zu zerstören und blieb nur so lange wie unbedingt nötig an Bord. Dann nahm sie die l´Ormica ins Schlepptau und brachte sie in die Bucht von Lampaul, informierte die police judiciaire in Brest und übergab den Fall.

    Kapitel 3

    Ewen Kerber, Paul Chevrier und Dustin Goarant gingen die Protokolle gemeinsam durch. Sie hatten nun einen ersten Eindruck von den Geschehnissen an Bord des kleinen Fischerbootes. Jetzt wollten sie zur Gendarmerie von Ouessant gehen und das weitere Vorgehen dort besprechen.

    Von ihrem Hotel, Le Fromveur, bis zur Gendarmerie waren es nur wenige Schritte. In dem kleinen Gendarmerieposten erwartete man die Kommissare bereits. Ewen begrüßte den jungen Jean-Paul Berthelé und stellte sich André Leriche, der die Leitung des Postens innehatte, vor.

    „Monsieur Leriche, wir würden gerne mit dem Boot von Monsieur Marc Noret beginnen. Monsieur Goarant soll alle Spuren sichern und soweit wie möglich auch direkt auswerten."

    „Monsieur le commissaire, das dürfte kein Problem sein. Wir haben das Boot nicht betreten, nachdem die surveillance maritime es in den Hafen von Lampaul geschleppt hat. Ich kümmere mich darum, dass Sie mit einem Boot aufs Schiff gebracht werden."

    Ewen war nicht begeistert, mit einem Boot die Strecke zurückzulegen, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Wegen der relativ hohen Gezeitenunterschiede, musste das Fischerboot ein gutes Stück von der Mole entfernt liegen bleiben. Ansonsten wäre es auf dem Trockenen gelandet und vielleicht gekentert.

    Es war kein großes Unterfangen, mit dem Ruderboot auf das Fischerboot von Noret zu gelangen. Etwas schwieriger, gestaltete sich das Umsteigen auf das deutlich größere Boot des Fischers.

    Ewen war wieder einmal nicht passend ausgerüstet. Seine Gummistiefel, die er am Strand gut hätte gebrauchen können, lagen im Kofferraum seines Dienstfahrzeugs. Er trug die üblichen Lederschuhe. Genau das Richtige für die Küste!

    Paul war etwas besser ausgerüstet. Er hatte sich nicht nur Gummistiefel eingepackt, sondern auch Turnschuhe und Wanderstiefel.

    „Man kann ja nicht wissen, wohin man auf einer Insel gehen muss", waren seine Worte gewesen, als er mit Dustin vor ihrem Flug gesprochen hatte. Dustin Goarant war Pauls Rat gefolgt und hatte sich ähnliches Schuhwerk mitgenommen. So war Ewen der einzige, der sich jetzt mit Lederschuhen herumquälen musste.

    Auf dem Boot, begann Dustin sofort mit seinen Untersuchungen. Schon auf der Fahrt zum Fischerboot war ihm der Einschuss in der Bordwand aufgefallen. Er nahm sich diesen zuerst vor. Es war ein glatter Durchschuss. Die Kugel hatte das Holz durchschlagen, und war auf der Innenseite wieder ausgetreten.

    „Seht euch das an! Ein Schuss hat die Planke durchschlagen, und ist wieder ausgetreten. Das kann keine normale Munition gewesen sein. Die Planken sind ganz schön dick."

    Dustin zeigte auf die oberste Planke und deutete mit seinen Fingern die Holzstärke an.

    „Ich schätze, dass es sich um eine 7,62 mm Patrone handelt, was mich allerdings erstaunt."

    „Warum erstaunt dich das?", fragte Ewen seinen Freund.

    „Weil es sich dabei um ehemalige NATO-Munition handelt. Das könnte bedeuten, dass der Schütze ein Gewehr aus den Beständen der Armee benutzt hat."

    „Wie kommst du auf diesen Verdacht?"

    „Sieh dir doch nur dieses Loch an. Das Projektil hat die Planke durchschlagen, als wäre sie aus Papier. Die früher eingesetzte 7,62 mm Patrone der NATO kann das sicher. Ihr größter Nachteil ist der enorme Rückstoß gewesen. Jedoch durchschlägt sie spielend einen mittelgroßen Stamm und penetriert dann noch den Körperschutz eines dahinterliegenden Soldaten. Körperdurchschüsse sind mit der Patrone keine Seltenheit. Soviel ich weiß, wird sie jetzt nur noch bei Maschinengewehren und von Scharfschützen verwendet. Bestimmt hast du den Film Sniper gesehen? Der Scharfschütze in dem Film hat solche Patronen benutzt."

    „Den Film kenne ich nicht, aber ich glaube dir alles, du kennst dich mit Waffen aus. Dann müsste das Projektil noch irgendwo auf dem Boot zu finden sein. Ich sehe kein weiteres Loch in den Planken auf der anderen Bootsseite."

    „Stimmt, das Projektil muss hier irgendwo liegen."

    „Hat man das Projektil gefunden, das Marc Noret getötet hat?", Die Frage war an den Gendarmen, der sie begleitet hatte und auf Dustins Wunsch im Ruderboot geblieben war, gerichtet. Dustin wollte vermeiden, dass sich zu viele Personen am Tatort aufhielten, die eventuell die Spuren zerstören konnten.

    „Nein Monsieur le commissaire, jetzt, da Sie danach fragen, fällt es mir auch auf, dass wir von keinem Projektil gelesen oder gehört haben. Der Pathologe in Brest hat in seinem Bericht nichts erwähnt."

    „Dann müssen wir nach zwei Projektilen Ausschau halten."

    Ewen richtete die Worte an Dustin und sah sich dabei schon um.

    Bevor Dustin nicht alle Spuren gesichert hatte, wollte Ewen nicht mit der Suche beginnen. Dustin begann mit der Arbeit und suchte nach Fingerabdrücken, DNA oder kleinsten Faserspuren. Der übliche Vorgang. Erst danach, wenn Ewen der Meinung war, dass Dustin alles gesichert hatte, kümmerte er sich um die eigentliche Durchsuchung.

    „Hast du schon etwas gefunden?", fragte Ewen seinen Freund.

    „Fingerabdrücke gibt es genügend, die sehen beinahe alle identisch aus, es kann sich um die Spuren des Toten handeln."

    Dustin arbeitete sich langsam voran. Als er in dem kleinen Führerhaus des Bootes angekommen war, war sein Vorrat an mitgebrachten Filmstreifen, die er zum Abnehmen der Fingerabdrücke brauchte, schon deutlich reduziert.

    „Können wir uns auf Deck bereits umsehen, oder bist du noch nicht soweit?", fragte Paul den Kollegen.

    „Das Deck ist okay, ich sehe mich jetzt hier drinnen um", antwortete Dustin. Dabei unterbrach er die Arbeit mit seinem Superpinsel nicht.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1