Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Schwarze Biene
Die Schwarze Biene
Die Schwarze Biene
eBook377 Seiten4 Stunden

Die Schwarze Biene

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Kommissar Ewen Kerber kann endlich seinen wohlverdienten Urlaub antreten. Gemeinsam mit seiner Frau Carla fährt er auf die Insel Ouessant. Carla hat den Urlaubsort ausgewählt, damit kein Anruf aus dem Büro Ewen Kerber veranlassen kann, mal schnell im Büro vorbeizusehen. Auf der Überfahrt lernen sie das jungverheiratete Ehepaar, Marie und Jean Le Goff kennen, das auch einige Tage auf der Insel verbringen will. Gleich nach der Ankunft machen Carla und Ewen sich auf, zu einem ersten Spaziergang über die Insel. Ihr Weg führt sie zum, weithin sichtbaren Leuchtturm, Phare du Créac´h. Plötzlich kommt ihnen der junge Mann, den sie auf der Fähre kennengelernt haben, entgegengerannt und ruft um Hilfe. Seine Frau Marie sei abgestürzt und er könne sie nicht alleine retten. Ewen und Carla folgen ihm zur Unglücksstelle. Auf dem Weg informiert Ewen die Notrufzentrale und bittet um Unterstützung. Angekommen an der Unglücksstelle, fehlt von Marie jede Spur. Nur das tosende Meer und die spitzen Felsen sind zu sehen. Aber auch an der Stelle, an der Marie abgestürzt sein soll, sind keinerlei Spuren zu entdecken. Ist Marie überhaupt abgestürzt? Hat Le Goff seine Frau vielleicht ermordet?
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. Feb. 2016
ISBN9783738058345
Die Schwarze Biene

Mehr von Jean Pierre Kermanchec lesen

Ähnlich wie Die Schwarze Biene

Ähnliche E-Books

Polizeiverfahren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Schwarze Biene

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Schwarze Biene - Jean-Pierre Kermanchec

    Kapitel 1

    Ewen Kerber war zufrieden. Er hatte sich zu ein paar freien Tagen durchgerungen. Eine Woche würde er auf der Île d´Ouessant verweilen. In den vergangenen Wochen hatte seine Frau abends oft lange auf ihn warten müssen. Der Mord des Abgeordneten Decroaz, in der Ville Close von Concarneau, hatte ihn sehr beansprucht. Nachdem die Mörderin dingfest gemacht werden konnte, waren einige freie Tage möglich geworden.

    Es war Carlas Idee, diese freien Tage auf der 20 Km vor dem Festland liegenden Insel zu verbringen. Ihre Überlegung bestand schlicht und einfach darin, dass ein Urlaub auf einer entlegenen Insel die Möglichkeit bot, Ewen von seinem Büro zu trennen und ihn davon abzuhalten, zwischendurch am Arbeitsort anzurufen oder kurz vorbeizuschauen.

    Sein Diensthandy sollte er ebenfalls zuhause lassen, damit er erst gar nicht in Versuchung kommen würde, sich kurzfristig mit seinem Kollegen Paul auszutauschen.

    Paul Chevrier war nicht nur ein Kollege. Seit langer Zeit war er einer seiner besten Freunde. Ewen versuchte stets, seinem Freund nicht unnötig viel Arbeit aufzuhalsen und war der Meinung, dass er ihm einen Gefallen tat, wenn er regelmäßig nachfragte, ob er alleine klar kam.

    Jetzt war es Freitagabend. Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub war vorbei. Ewen saß auf seiner Terrasse und genoss seinen Aperitif.

    Carla war in seinen Augen eine besondere Frau. Stets war sie bemüht, ihm seinen Feierabend zu verschönern, sie verwöhnte ihn zum Aperitif mit feinsten Köstlichkeiten. Mit ihren amuses gueules könnte sie ein Vermögen verdienen, wenn sie diese kleinen Häppchen im großen Stil herstellen würde, dachte sich Ewen jedes Mal, wenn er wieder eine neue Sorte vorgesetzt bekam. Ewen war ein Liebhaber der Pâté au pommes, eine in der Bretagne verbreitete Fleischpastete. Carla schaffte es immer wieder, diese Pastete auf eine neue Art und Weise zu variieren.

    Während er noch seinen Gedanken nachhing, war Carla dabei, die letzten Kleidungsstücke in den gemeinsamen Koffer zu verstauen. Am nächsten Morgen müssten sie schon sehr früh das Haus verlassen und nach Brest fahren. Die Fähre zur Insel verließ Brest bereits kurz vor 8 Uhr 30 und die Reederei sprach in ihren Broschüren davon, dass die Passagiere 40 Minuten vor der Abfahrt an Bord sein sollten. Die Fahrt nach Brest dauerte eine Stunde. Wenn er dann noch die Suche nach einem Parkplatz und den Fußweg zur Fähre berücksichtigte, mussten sie gegen halb sieben Uhr Quimper verlassen.

    Ewen blätterte in den diversen Broschüren, die Carla aus der Stadt mitgebracht hatte. Er informierte sich über die Besonderheit der Insel, ihre Lage und Ausmaße und fand auch skurrile Textpassagen. So stand in einer der Broschüren, dass bereits seit ewigen Zeiten unter den Seefahrern der Spruch kursierte, qui voit Ouessant, voit son sang, was übersetzt so viel bedeutete wie, wer Ouessant sieht, sieht sein Blut. Damit war gemeint, dass derjenige, der sich der Insel näherte, seinem Ende entgegenging. Der Sinn, dieses doch sehr drastischen Seefahrerspruchs, lag in der besonderen Lage der Insel. Die Île d'Ouessant war von tückischen und gefährlichen Meeresgräben und Meeresströmungen umgeben. Es waren die Strömungen, die eine Annäherung so gefährlich machten. Man musste schon ein erfahrener Kapitän sein, um sein Schiff sicher in den Hafen zu bringen. Die Schiffe, die sich vom französischen Festland der Insel näherten, mussten die berüchtigte Fahrrinne, le Passage du Fromveur, durchqueren, in der die gewaltigste Gezeitenströmung Europas das Wasser aufpeitschte.

    Ewen erinnerte sich an die Ölkatastrophe von 1978, dem Untergang der Amoco Cadiz. Dem Schiff war diese berüchtigte Fahrrinne zur Falle geworden. Ewen war jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es vernünftig war, ausgerechnet auf die Île d´Ouessant zu fahren. Er las weiter in seinen Broschüren und fand dann doch auch Aussagen, die ihn wieder etwas beruhigten.

    Um diese Passage, eine der gefährlichsten der Welt, sicherer zu gestalten und Schiffsunglücken vorzubeugen, war nach dem Unfall der Amoco Cadiz, die Rail d'Ouessant, die Schiene von Ouessant geschaffen worden. Diese maritime Einrichtung regelte und überwachte per Radartechnologie und dem Einsatz von Hubschraubern die stark frequentierte Durchfahrt. Mehr als 50.000 Schiffe passierten hier jährlich.

    Ewen dachte darüber nach. War es von Vorteil, dass diese Schiffsstraße so viele Schiffe verkraften musste, oder barg das eher Potential für Unfälle?

    Carla riss ihn aus seinen Überlegungen.

    „Ewen, kommst du bitte zum Essen?"

    „Ich bin schon auf dem Weg!", erwiderte er und machte sich auf den Weg zum Speisezimmer.

    „Hast du gewusst, dass die Strömungen rings um Ouessant zu den gefährlichsten auf der ganzen Welt gehören?" Ewen sah Carla erwartungsvoll an.

    „Jetzt übertreib mal nicht so schamlos, Ewen. Du willst dich doch nicht plötzlich vor dem Urlaub drücken?"

    „Nein, natürlich nicht vor dem Urlaub, vielleicht doch ein wenig vor der Überfahrt. Ich habe gerade gelesen, wie gefährlich die Umgebung der Insel ist. Es steht alles in den Broschüren, die du mitgebracht hast."

    „Die Überfahrt? Warum soll die so gefährlich sein? Für einen Kommissar der police judiciaire gibt es bestimmt gefährlichere Momente als so eine knapp dreistündige Schiffsfahrt."

    „Wenn ich ehrlich bin, dann ist mir nur Angst vor einer eventuellen Seekrankheit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine so raue See verkrafte."

    „Du wirst es überleben, mein Liebling. Darf ich dir etwas von dem Gemüse geben?"

    Damit lenkte Carla das Gespräch wieder auf das Abendessen. Sie hatte nicht vor, die Koffer wieder auszupacken und die Reise nach Ouessant zu stornieren. Abgesehen davon, dass es auch reichlich spät dafür war.

    Aber Ewen ließ nicht so schnell von dem Thema ab. Er war noch nie ein großer Freund der Seefahrt gewesen.

    „Hast du gewusst, Carla, dass jedes Schiff, das die Insel vom Festland ansteuert, die sogenannte Passage de Fromveur überqueren muss?"

    „Nein, das ist mir eigentlich auch egal. Warum fragst du mich danach?"

    „Weil der Name Fromveur aus den bretonischen Worten froud und meur zusammengesetzt ist. Froud bedeutet Strömung und meur so viel wie groß. Es ist die größte Gezeitenströmung in ganz Europa. Das Meer wird hier regelrecht aufgepeitscht. Die Passage ist schon seit Jahrhunderten gefürchtet. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort, Wer die Insel sieht, sieht sein Blut."

    „Ewen, mir scheint, du hast zu viel Seemannsgarn gelesen."

    „Ganz bestimmt nicht, das steht alles in deinen Broschüren."

    „Das mag ja sein, Ewen. Vieles gehört der Vergangenheit an. Heute ist alles sicherer."

    Damit war das Gespräch über das Für und Wider einer Fahrt nach Ouessant vorerst beendet. Ewen hoffte inständig, dass ihnen das Wetter am nächsten Morgen einigermaßen gut gesonnen war. Einen halben Orkan würde sein Magen sicherlich nicht überstehen.

    Nach dem Essen rief Carla noch ihre Tochter Marie an. Marie hatte versprochen, ihren Briefkasten regelmäßig zu leeren und den Pflanzen in der Wohnung Wasser zu geben. Danach setzte sie sich zu Ewen in den Salon. Ewen saß mit seinem Weinglas auf dem Sofa und genoss den Rest des Rotweins, den sie zum Essen geöffnet hatten. Als Carla ihr Glas dazustellte, nahm er die Flasche und goss auch ihr noch einen Schluck ein. Die Unterhaltung drehte sich noch eine Zeit lang um die gefährlichen Strömungen rund um Ouessant und über die, nicht von der Hand zu weisende, Gefahr einer Seekrankheit.

    Ewen erzählte Carla von einer früheren Überfahrt, von Marseille nach Korsika, die er mit seiner ersten Frau einst unternommen hatte. In allen Einzelheiten berichtete er jetzt von der damaligen Fahrt. Schon bei der Schilderung seiner Erlebnisse hatte er das Gefühl, sofort wieder krank zu werden. Carla bremste den Redefluss dadurch, dass sie ihr Weinglas in die Hand nahm und ihm zuprostete.

    „Du musst die Vergangenheit auch ruhen lassen können!"

    Ewen hielt ein und wechselte das Thema. Wenig später gingen sie zu Bett.

    Am nächsten Morgen brachen sie kurz nach halb sieben Uhr auf. Die Voie Express zwischen Quimper und Brest war beinahe menschenleer. Vereinzelt begegneten ihnen LKWs, die unterwegs zu den zahlreichen Intermarchés, Leclercs und SuperUs waren.

    Ewen konnte sich noch gut an frühere Zeiten erinnern, als schon recht früh am Morgen die LKWs mit den Schweinen die Voie Express befuhren, unterwegs zu den Schlachthöfen des Finistère. Seither hatten zahlreiche Firmen ihre Filialen geschlossen, und dadurch waren hunderte von Arbeitsplätzen verloren gegangen. Auch die Zahl dieser Transporte hatte sich deutlich verringert. Aus Sicht der bretonischen Agrarindustrie und deren Beschäftigten war die geplante Einführung der sogenannten Öko-Maut, die jeder LKW über 3,5 Tonnen auf den Schnellstraßen Frankreichs zahlen sollte, der Tod der bretonischen Landwirtschaft und des verarbeitenden Gewerbes.

    Seine Kollegen hatten eine Menge Arbeit damit, die Leute ausfindig zu machen, die die Mautbrücken ansägten, um sie den Stürmen des Finistère zu überlassen. Die Mautbrücken, mit den darauf montierten Kameras, Sensoren und was man sonst noch so für die Erfassung und Differenzierung der Fahrzeuge benötigte, waren das bevorzugte Ziel der Bonnets Rouges, so genannt wegen der roten Mützen, die sie als Symbol ihres Widerstandes trugen. Inzwischen waren schon drei oder vier der Brücken wieder abgebaut worden. Man konnte von Glück sprechen, dass es noch zu keinem tödlichen Unfall gekommen war. Das Durchtrennen der dicken Bolzen, die die Brücken mit der Verankerung verbanden, war mehr als gefährlich. Bei Sturm hätten die Brücken auf ein Auto stürzen können und die Insassen unter sich begraben. Daher wurde Strafanzeige von der Straßenbauverwaltung gestellt, und seine Kollegen mussten versuchen, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Bis jetzt konnte noch niemand ermittelt werden.

    All das ging Ewen auf dem Weg nach Brest durch den Kopf. Carla und Ewen trafen überaus pünktlich an der Anlegestelle des Schiffes ein. Das Schiff stand schon bereit, und die Fahrgäste konnten an Bord gehen. Es dauerte dann noch etwas mehr als 40 Minuten, bis der Kapitän die Motoren des Schiffes startete, und die Fähre sich langsam vom Pier entfernte.

    Hier in der herrlichen, riesigen Bucht von Brest lag das Schiff ruhig im Wasser. Ewen kannte die Bucht. Er hatte schon früher mit seiner ersten Frau viele Ausflüge auf die Halbinsel von Crozon unternommen. Ihm gefiel der Blick von der Pointe des Espagnols, oder Beg ar Spagnoled, wie die Bretonen den Aussichtspunkt nannten. Von diesem Punkt aus schweifte der Blick vom Leuchtturm, Phare du Petit Minou, bis zu der alten Brücke über die Rade, die Pont Albert Louppe, und der dahinter liegenden neuen Brücke, der Pont de l´Iroise. Die neue Brücke, mit einer Länge von 800 Metern, am Ende der Rade de Brest, verband die Halbinsel Crozon mit Brest. Eine recht majestätisch wirkende Hängebrücke, die ihm absolut gelungen schien. Bei jeder neuen Überquerung war seine Begeisterung aufgeflammt. Erst vorhin, auf der Fahrt zum Hafen von Brest, hatte er ihre Konstruktion wieder bewundert.

    „Siehst du, Ewen, wie ruhig die Überfahrt verläuft!" Carla war ganz begeistert von ihrem Kurzurlaub, den sie gerade begonnen hatten.

    „Wir sind auch noch nicht auf dem Meer!", antwortete Ewen und war noch nicht bereit ihr zuzustimmen.

    Er sollte recht behalten, denn noch bevor sie das offene Meer erreicht hatten, konnten sie bereits feststellen, dass der Wind auffrischte und die See rauer wurde. Dabei fuhren sie immer noch in der geschützten Bucht der Rade de Brest. Ewen und Carla setzten sich an einen der wenigen Tische im Unterdeck und bestellten einen Kaffee. Ein junges Ehepaar nahm ihnen gegenüber Platz, und nach wenigen Minuten kamen sie ins Gespräch.

    „Wir verbringen unseren ersten Urlaub. Wir haben vor vier Wochen geheiratet und können uns keine richtige Hochzeitsreise leisten. Da haben wir uns eben für die Île d´Ouessant entschieden", begann die Frau das Gespräch mit Carla.

    „Ich heiße Marie, und das ist mein Mann Jean."

    „Angenehm Sie kennenzulernen, ich heiße Carla, und das ist Ewen. Mein Mann hat sich einen Urlaub wahrlich verdient. Er ist in seinem Beruf so eingespannt."

    „Das kenne ich gut", meinte Marie.

    „Jean kommt manchmal erst nach Mitternacht nach Hause. Er arbeitet bei einer der großen Konservenfabriken als Chefbuchhalter. Immer wenn es Ungereimtheiten in den Büchern gibt, muss er ran. Seit einigen Wochen ist es besonders schlimm. Sie haben einen neuen Mitarbeiter eingestellt, der ständig Fehler begeht, die Jean dann wieder finden und korrigieren muss. Was macht denn ihr Mann?"

    Ewen war dieses Aushorchen eher lästig und er hatte den Eindruck, als ob auch sein Gegenüber dem Gespräch seiner jungen Frau wenig abgewinnen konnte.

    „Oh, Ewen ist Leiter der Mordkommission in Quimper."

    Carla war schon seit Langem nicht mehr so gesprächig gewesen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er so selten Gelegenheit hatte, ihren Unterhaltungen zu lauschen, wenn sie sich mit ihren Freundinnen unterhielt.

    In den letzten Jahren, seit der Vergewaltigung ihrer Tochter, hat sie sich fast ausschließlich um das Mädchen gekümmert. Ihre Tochter, die ebenfalls Marie hieß, ist für Carla für lange Zeit Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens gewesen. Das hat sich erst geändert, als Ewen in ihr Leben getreten ist und die Vergewaltigung polizeilich und juristisch beendet werden konnte.

    „Sind Sie auch auf einer besonderen Reise, so wie wir?"

    „Nein, wir wollen einfach nur einige ruhige Tage auf der Insel verbringen."

    „Woher kommen Sie?" Marie erkundigte sich nach allen Einzelheiten, ohne sich aus Höflichkeit Beschränkungen aufzuerlegen.

    „Wir kommen aus Quimper? Sie auch?"

    „Nein, wir kommen aus Melgven."

    „Das liegt ja nicht weit von Quimper entfernt."

    „Überhaupt nicht. Ich bin sehr oft in Quimper zum Einkaufen. Die Auswahl ist dort erheblich größer als in Concarneau."

    Das Schiff steuerte jetzt auf den offenen Ozean hinaus, und die Wellen waren inzwischen bestimmt schon einen Meter hoch. Ewen wäre froh gewesen, wenn das Schiff direkt Kurs auf die Insel genommen hätte, um die Fahrt möglichst schnell zu einem Ende zu bringen. Aber die Fahrt ging nicht in direkter Linie zur Île d´Ouessant, das Schiff steuerte zuerst noch den Hafen von Le Conquet und danach die Île Molène an. Dadurch dauerte die Fahrt über zweieinhalb Stunden. Langsam aber sicher meldete sich das Gleichgewichtsorgan von Ewen und signalisierte ihm, dass ihm das Schaukeln nicht gefiel.

    „Entschuldige Carla, aber ich muss unbedingt an die frische Luft, ich bin gleich wieder zurück."

    Ewen stand auf und verließ die Runde. Er ging aufs Deck und versuchte mit Hilfe der frischen Luft sein Unwohlsein in den Griff zu bekommen. Einige Minuten später kam auch Jean, der jung verheiratete Ehemann nach oben.

    „Ich bin nicht für die Seefahrt geschaffen", meinte er zu Ewen gewandt.

    „Das gilt für mich ebenso", erwiderte Ewen. Die frische Luft half tatsächlich, und Ewen empfand das auf und ab nicht mehr so intensiv wie zuvor unter Deck.

    „Ist bestimmt ein toller Beruf, Kriminalkommissar?"

    „Geht so, nicht viel anders als andere Berufe auch."

    Ewen mochte es nicht, sich über seinen Beruf zu äußern. Er empfand es nicht spannend, Mörder zu jagen und zur Strecke zu bringen. Es war eine Aufgabe, eine Aufgabe im Dienste der Menschen. Es war eher entmutigend festzustellen, dass die Arbeit der Polizei nicht zu mehr Sicherheit führte. Der junge Mann gab sich mit der kurzen und knappen Antwort aber nicht zufrieden.

    „Aber Sie erleben doch bestimmt Situationen, wo es um Leben und Tod geht?"

    „Monsieur Jean, Sie stellen sich die Arbeit eines Kommissars vor, so wie sie in Büchern oder Filmen beschrieben wird. Das hat wenig mit der Realität zu tun. Der größte Teil unserer Arbeit liegt in der Auswertung von Spuren, im Zusammentragen von Beweisen und in der Kombinatorik. Es ist ein wenig wie in der Buchhaltung, da müssen die Rechnungen zu den Konten passen."

    Das Schiff ließ ein kräftiges Signal ertönen. Sie näherten sich dem Hafen von Le Conquet. Damit hatten sie ein Drittel der Strecke zurückgelegt. Das Meer war in den letzten Minuten nicht ruhiger geworden. Ewen hatte eher den Eindruck, dass der Wind noch kräftiger aufgefrischt war.

    „Sind Sie eigentlich immer im Dienst?", fragte Jean.

    „Ich meine, müssen Sie auch bei Straftaten ermitteln, die nicht in Quimper und Umgebung verübt werden?"

    „Normalerweise nicht. Es ist immer die regionale police judiciaire für die Strafverfolgung zuständig. Es gibt natürlich Ausnahmen. Nehmen wir an, auf der Île d´Ouessant passiert ein Mord und die Kommissare aus Brest können nicht auf die Insel kommen, weil zum Beispiel ein heftiger Sturm die Überfahrt verhindert, dann würde ich natürlich die Untersuchungen vor Ort beginnen. Aber das sind theoretische Überlegungen."

    Das Schiff hatte in Le Conquet angelegt und zahlreiche neue Passagiere kamen an Bord. Es dauerte nur wenige Minuten und das Schiff setzte seine Fahrt fort. Jetzt war die Île Molène das nächste Ziel. Ewen blieb eisern an Deck des Schiffes. Er stellte fest, dass er sich hier deutlich wohler fühlte als unter Deck, obwohl ihn der Wind ordentlich durchblies. Auch Jean machte keine Anstalten wieder hinunterzugehen. Seine Frau verweilte sicher noch im Gespräch mit Carla.

    Die Fahrt zur Île Molène gestaltete sich deutlich ungemütlicher als das erste Drittel der Strecke. Die Wellen hatten an Höhe zugenommen. Beim Eintauchen in die Wellentäler brachen sich die Wellen am Bug des Schiffes und ließen die Gischt über das Vorderdeck hereinbrechen. Langsam begann die Fahrt unheimlich zu werden. Ewen hoffte, dass der Kapitän entsprechende Erfahrung besaß. Nach weiteren 40 Minuten gelangte das Schiff, vorbei an den mächtigen Felsformationen und den gefährlichen Riffen, die die Einfahrt zum Hafen der Insel säumten, sicher an den ins Meer hinaus gebauten Kai. Die Fahrt auf die Île Molène hätten sie sich sparen können, weder verließ ein Fahrgast das Schiff, noch stieg ein neuer ein, so dass der Kapitän nach wenigen Minuten das letzte Teilstück in Angriff nehmen konnte.

    Ewen befürchtete, dass diese Strecke jetzt die schwierigste werden würde, so hatte er es zumindest den Broschüren von Carla entnommen. Auch sein Magen signalisierte ihm das. Bis gestern war ihm der Name Passage de Fromveur unbekannt gewesen. Seitdem er diese Broschüre gelesen und deren Inhalt durchdacht hatte, war der Name gleichbedeutend mit allen Übeln geworden, die einen nach dem Genuss von verdorbenen Lebensmitteln befallen können. Sein Unwohlsein steigerte sich. Je näher sie der berüchtigten Fahrrinne kamen, umso heftiger prallte die Gischt gegen die Bordwand, gegen die Fenster, und erste Fontänen erreichten bereits das Oberdeck. Bei Sturm, so war ihm in Erinnerung geblieben, war es keine Seltenheit, wenn die Wellen Höhen von 10 und mehr Metern erreichten. Allerdings würden die Fähren die Überfahrt dann einstellen. Es sei denn, dass sie bereits unterwegs waren. Er sah, dass die Matrosen ein Grinsen nicht unterdrücken konnten, als sich die ersten Passagiere den Weg zu den Toiletten bahnten. An den Wänden hingen Spender, aus denen die Passagiere kleine Plastiktüten entnehmen konnten, um bei einer Rebellion des Magens das Erbrochene aufnehmen zu können. Ein Matrose sah einer älteren Frau auf dem Weg zu einem Spender nach und rief ihr zu:

    „Für drei volle Tüten gibt es eine kostenlose Überfahrt!"

    Die Frau schien den Ausspruch nicht witzig zu finden und reagierte nicht darauf.

    Je höher sich die Wellen aufschaukelten, und je lauter das Knirschen der Schiffskonstruktion zu vernehmen war, desto stiller wurde es auf dem Schiff. Ewen und Jean mussten das Deck verlassen, wenn sie nicht riskieren wollten, bis auf die Haut nass zu werden. Sie kämpften sich langsam die Treppe hinunter, zurück zu ihren Frauen, die, aus welchen Gründen auch immer, nichts von dem Unwetter mitzubekommen schienen. Carla und Marie unterhielten sich immer noch entspannt. Ewen sah zu seiner Frau. Sie saß lächelnd Marie gegenüber und gestikulierte heftig während ihrer Unterhaltung.

    „Ach Ewen, habt ihr schon genug von der frisch Luft? Oh, du siehst aber bleich aus, mein Liebster. Schau, was ich uns gekauft habe, das gibt es nur hier an Bord."

    Carla holte aus ihrer Handtasche eine Seekarte hervor, die sie fein säuberlich eingerollt und in die Tasche gesteckt hatte.

    „Schau, Ewen, auf dieser Karte sind alle Stellen markiert, an denen Schiffe untergegangen sind."

    „Toll, Carla, die Karte baut mich wieder richtig auf."

    Das seitliche Fenster neben ihrem Sitzplatz wurde immer wieder von dem Wasser der aufprallenden Wellen überspült, so dass Ewen den Eindruck hatte, auch ihr Schiff sei auf dem Weg zum Untergang. Ein Blick aus dem Fenster in Richtung des Bugs zeigte Ewen, dass die Matrosen in ihrem Ölzeug bereits damit beschäftigt waren, die Taue zum Anlegen des Schiffes vorzubereiten. Dieser Horrortrip wäre also gleich beendet. Viel länger hätte er dem Kampf mit den Elementen auch nicht mehr standhalten können. Carla machte sich zum Aussteigen bereit. Jetzt entdeckte Ewen den Namen des Schiffes. Fromveur II las er. Hätte er den Namen schon beim Einsteigen gesehen, wäre er vielleicht sofort wieder von Bord gegangen. Der Name konnte nur ein schlechtes Omen sein. Darunter stand jedoch, dass das Schiff von der Werft Piriou in Concarneau gebaut worden war. Die Werft war bekannt für solide Arbeit, was ihn wieder etwas beruhigte. Erst vor einem Jahr hatte die Reederei Penn Ar Bed das Schiff übernommen, las er weiter auf dem Plakat. Mit ihren 45 Metern Länge und beinahe 10 Metern Breite bot sie Platz für 365 Passagiere. Inzwischen hatte das Schaukeln fast völlig aufgehört, und die Fromveur II legte die letzten Meter zum Kai zurück. Dann vernahm er, wie die Motoren ausgeschaltet und die Gangway an Bord gezogen wurde. Er hatte die Fahrt überstanden. Die Passagiere, es waren vielleicht 100 oder 130, strebten dem Ausgang zu. Nur wenige zogen einen Trolley hinter sich her. Die überwiegende Zahl hatte lediglich einen größeren Rucksack dabei. Ewen schloss daraus, dass die Mehrzahl der Fahrgäste Tagesgäste oder Einwohner der Insel waren.

    „Ich habe dich noch gar nicht nach unserem Hotel gefragt, Carla, wie heißt das Hotel und wo liegt es?"

    „Das Hotel heißt Le Fromveur und liegt an der Rue du Fromveur."

    „Gibt es hier auf der Insel irgendetwas, das einen anderen Namen als Fromveur trägt?"

    „Aber natürlich, Ewen, was hast du denn gegen diesen Namen? Wir haben diese gefährlichste Strömung Europas problemlos passiert. Es war doch ganz harmlos."

    Ewen sah das anders, wollte sich aber auf keine längere Diskussion einlassen.

    Die Ankunft der Fähre schien das Hauptereignis auf der Insel zu sein. Es standen zahlreiche Menschen auf dem Kai und sahen zu, wie die Ankömmlinge von Bord kamen. Ewen hatte den Eindruck, als wäre das die tägliche Erheiterung für die Inselbewohner, mangels anderer Möglichkeiten der Belustigung. Auch Ewen verließ das Schiff und es kam ihm vor, als ob auch die Insel hin- und herschaukelte. Es dauerte einige Minuten, bis sich sein Gleichgewichtsorgan wieder auf den ruhigen festen Untergrund eingestellt hatte. Carla strebte zielsicher zu einer der bereitstehenden Navettes, die hier auf der Insel die Aufgaben eines Taxis übernahmen. Sie nannte dem Fahrer den Namen des Hotels. Der Mann, der ein großes Schild in Händen hielt, auf dem der Preis für eine Fahrt vom Hafen zum Hauptort Lampaul mit 2 Euro angegeben war, ging an die Rückseite seines Ford-Transit, öffnete die Hecktür und nahm Ewens Koffer entgegen. Carla sah, dass das frisch vermählte Ehepaar eine andere Navette ansteuerte. Gerade als Ewen in das Auto einsteigen wollte, erblickte er ein kleines Flugzeug, das sich der Insel näherte und bereits im Sinkflug war. Der Flughafen musste in unmittelbarer Nähe liegen. Der Navettefahrer schien zu ahnen, was Ewen gleichen fragen würde und beantwortete die unausgesprochene Frage.

    „Die Landebahn liegt etwa 600 Meter entfernt von hier. Wir haben nur einen kleinen Flughafen auf unserer kleinen Insel."

    „Kommen viele Besucher mit dem Flugzeug?", wollte Ewen wissen.

    „Es hält sich in Grenzen, die überwiegende Zahl der Touristen kommt mit dem Schiff an. Das ist billiger. Ein einfacher Flug kostet immerhin um die 60 Euro pro Person. Die Finist’Air fliegt auch nicht das ganze Jahr über. Die Privatflugzeuge sind noch teurer. Zudem bleiben die Besucher meistens nur einige Stunden und fahren am späteren Nachmittag wieder mit dem Schiff zurück. Aber immerhin muss der Flughafen über 3000 Fluggäste im Jahr verkraften."

    Carla und Ewen bestiegen ihre Navette und fuhren die vier Kilometer zu ihrem Hotel, im Ortsteil Lampaul, dem Hauptort der Insel.

    Alle Hotels, die Schule und die Geschäfte konzentrierten sich hier. Lampaul lag, vom Hafen aus gesehen, ziemlich exakt auf der gegenüberliegenden Seite der Insel.

    „Früher hatten wir 1000 Einwohner, 1000 Schafe und ungefähr 500 Autos. Jetzt haben die Schafe die Mehrheit."

    „Hoffentlich nicht im Rathaus!", meinte Ewen und grinste.

    „Ha, ha, ha, dort hatten sie schon immer die Mehrheit!", feixte der Mann und lachte.

    „Im Sommer kommen bis zu 2500 Einwohner dazu. Leute, die hier auf der Insel ein Ferienhaus besitzen. Jetzt sind wir beinahe wieder unter uns."

    „Die Preise für Kraftstoff und für die nötigen Nahrungsmittel sind bestimmt hoch auf der Insel?"

    „Ja, der Kraftstoff ist bis zu 35 Cent pro Liter teurer. Aber wir brauchen nicht so viel davon. Manchmal füllen wir den Tank nur alle zwei Monate auf. Die Entfernungen, die wir hier zurücklegen, sind nicht groß. Übrigens, wenn Sie eine Rundfahrt über die Insel wünschen, dann können Sie mich anrufen. Auf der Rundfahrt besuchen wir die Leuchttürme, die verschiedenen Aussichtspunkte und die religiösen Sehenswürdigkeiten der Insel. Kostet 14 Euro für zweieinhalb Stunden, natürlich mit allen Erklärungen!"

    Er händigte Ewen sein Visitenkärtchen aus und fuhr davon.

    Der Schriftzug Le Fromveur prangte in weißer Farbe auf schwarzem Grund über den beiden Eingangstüren des Hotels. Darüber standen links daneben restaurant und rechts brasserie. Vor den Fenstern der ersten Etage waren schwarze, halbhohe schmiedeeiserne Fenstergitter angebracht, die wohl verhindern sollten, dass jemand aus den Fenstern fallen konnte. Links neben der rechten Eingangstür hing ein Schaukasten mit der Speise- und Getränkekarte des Restaurants.

    Sie betraten das kleine Hotel durch die linke Tür, die zum Empfang zu führen schien. Ein Durchgang führte in die Bar des Hotels. Ein großer Billardtisch stand quer im Raum, gleich unterhalb der Stufe, die die Theke von dem restlichen Raum trennte. Mehrere Tische standen hinter dem Billardtisch. An der Stirnseite des Raumes hing ein riesiger Bildschirm, dort

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1