Das andere Quimper
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Buchvorschau
Das andere Quimper - Jean-Pierre Kermanchec
Kapitel 1
Jean-Pierre Kermanchec
Das andere Quimper
Das andere Quimper
Jean-Pierre Kermanchec
Impressum
© 2021 Jean-Pierre Kermanchec, Ulrike Muller
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Bibliothéque national du Luxembourg verzeichnet diese Publikation in der luxemburgischen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://bnl.public.lu abrufbar.
Die Türme der Kathedrale liegen im Gold des Sonnenlichtes. König Gradlon auf seinem Ross sieht auf das geschäftige Treiben der Bewohner seiner Residenzstadt herab. Von seinem Standort, zwischen den beiden Türmen der Kathedrale, die einzige Kathedrale der Welt, die einen Knick in ihrem Gang hat, hat er einen guten Blick auf die Gäste und Besucher der Stadt. Nach dem Untergang seiner geliebten Stadt Ys, hatte er Quimper zu seinem Königssitz auserwählt, und die Bürger verehrten ihn seither mit der Statue zwischen den beiden Granittürmen der Kathedrale Saint-Corentin.
Geheimnisse und Mythen gibt es viele in der Bretagne, auch Geheimnisse die Rätsel aufgeben, wie der Knick in dieser Kathedrale. Welcher Teufel hatte den Erbauer beim Bau der Kirche geritten? Sicher ist, dass es kein Irrtum und kein Fehler des Konstrukteurs gewesen ist. Eine Erklärung, die mystische Variante, sagt, dass der Chor so geneigt ist, wie das Haupt Christi am Kreuz. Die rationalere Erklärung geht davon aus, dass der Bischof bei der Konstruktion die Gebäude aussparen wollte, auf die der Bau gestoßen wäre, unter anderem sein Palais.
Auf der Terrasse des Cafés du Finistère saß Ewen Kerber, der inzwischen pensionierte Leiter der Kriminalpolizei von Quimper, und genoss seinen Café, nach einem ausgiebigen Spaziergang durch seine geschätzte Heimatstadt. Sein Blick glitt über den Place Saint-Corentin und blieb an der Kathedrale hängen, während seine Gedanken zurückschweiften. Sie gingen zurück bis zu dem Tag, an dem er an genau dieser Stelle seine Carla kennengelernt hatte. Damals saß er ebenfalls hier im Café du Finistère und trank einen Espresso. Carla saß mit ihrer erwachsenen Tochter Marie, die damals vierundzwanzig Jahre alt war, am Nachbartisch. Die beiden hatten sich über die Chagall-Ausstellung im Museum unterhalten, das gleich neben dem Café liegt. Auch Ewen hatte diese Ausstellung angesehen, schließlich war eine solche Ausstellung ein Ereignis für Quimper.
Er hatte die Frau am Nachbartisch angesehen und konnte die Augen fast nicht mehr von ihr lassen. Er hatte sich auf den ersten Blick verliebt. Als er dann ihre Tochter sagen hörte, dass der Museumsbesuch bestimmt auch ihrem Vater gefallen hätte, so er noch leben würde, ging Ewen davon aus, dass die Frau genauso alleine lebte wie er. Er hatte nicht lange gezögert und sie mit einem Kommentar zur Ausstellung angesprochen. Ganz schnell hatte sich daraus eine Konversation entwickelt, die Ewen mit einer Einladung zum Essen beendet hatte. Völlig entspannt hatte er ihr gesagt, dass sie ihm sehr gut gefällt und er glücklich wäre, ihre nähere Bekanntschaft zu machen.
Aus dieser näheren Bekanntschaft war inzwischen eine zwölfjährige Ehe geworden. Carlas Tochter, mittlerweile selbst schon verheiratet, war damals in einen Fall involviert, den Ewen Kerber unter der Bezeichnung Möwenspur geführt hatte. Er konnte sich noch sehr gut an den Fall erinnern. Es war ein Fall gewesen, den er erst nach drei Jahren wirklich zu einem endgültigen Abschluss gebracht hatte.
Ewen wurde ein wenig trübsinnig als er an seine aktive Zeit zurückdachte. Er war mit Herz und Seele Kriminalkommissar gewesen. Erst vor zwei Jahren war seine Karriere durch einen Unfall beendet worden. Bei der Rückreise von einem Kurzurlaub, den er mit seiner Frau Carla auf der Insel Groix verbracht hatte, war die Fähre gekapert worden, die sie zum Festland bringen sollte. Der Einsatz der Marine hatte dazu geführt, dass einer der Verbrecher einen Schuss abgegeben hatte, und ein Querschläger Ewen in den Rücken getroffen hatte. Diese Verletzung hatte den Ausschlag gegeben, seine Pensionierung zu beantragen.
Ewen Kerber winkte dem Kellner und bestellte eine zweite Tasse Café. Carla arbeitete in der Bank und würde erst am späteren Nachmittag nach Hause kommen, sodass er sich Zeit lassen konnte. Er schlug den Ouest-France auf und las die Neuigkeiten aus der Region. Die internationalen Nachrichten übersprang er stets, die bekam er in den Nachrichtensendungen von TF2 und F3 regelmäßig frei Haus. Ein Bericht über die Renovierungen der Kapelle von Quilinen erweckte sein Interesse. Ewen kannte die Kapelle, die nördlich von Quimper, umgeben von herrlichen alten Bäumen, im Jahr 1550 erbaut worden war. Er konnte sich noch gut an den Besuch der Kapelle erinnern, die er an einem warmen Sommertag, noch vor der Renovierung, mit seiner Frau aufgesucht hatte. Sie saßen auf der hölzernen Bank an der Mauer gegenüber des Haupteinganges.
Bereits vor einem Jahr hatte die Zeitung von der Restaurierung des Calvaires berichtet, dessen Instandsetzung über 50.000€ verschlungen hatte. Jetzt waren auch die Arbeiten im Innern der Kapelle beendet worden. Das Innere der Kapelle hatte Ewen durch den, hoch über dem Boden auf einem Balken montierten, Gekreuzigten beeindruckt. Er nahm sich vor, die renovierte Kapelle in den nächsten Wochen zu besuchen.
Am Nachbartisch saß ein junger Mann, der aufmerksam Ewens Lektüre verfolgte.
„Verzeihung Monsieur, dass ich Sie anspreche. Interessieren Sie sich für die Berichterstattung über die Kapellen?"
Ewen sah von seiner Zeitung auf und betrachtete den jungen Mann, der Jeans, ein blaues T-Shirt und einen Seidenschal trug.
„Ja, das tue ich. Mich interessiert alles, was sich mit der Geschichte der Bretagne und im Besonderen dem Finistère beschäftigt. Sind Sie auch an den Kapellen interessiert?", fragte Ewen den jungen Mann seinerseits.
„Ja, ich bin ein großer Freund der Kapellen unseres Landes. Die Kirchen sind Orte, die mich magisch anziehen."
„Was machen Sie beruflich?", fragte Ewen nach.
„Ich bin Journalist beim Ouest-France und bin hauptsächlich mit der Berichterstattung über unsere Kulturdenkmäler beschäftigt. Der Artikel, den Sie gerade gelesen haben, stammt von mir."
„Sehr interessant, dann werde ich in den nächsten Monaten bestimmt noch mehr von Ihnen lesen können, denn es sollen ja noch einige Kapellen einer Frischzellenkur unterzogen werden, wenn ich es einmal so nennen darf. Dann sind Sie also Erwan Desmar?"
„Sehr richtig, Erwan Desmar ist mein Name. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?"
„Ewen Kerber, ich bin ein pensionierter Kommissar der police judiciaire."
„Ein echter Kommissar? Wow, schade, dass Sie bereits in Pension sind. Sie hätten ansonsten eine Quelle für meine weitere Berichterstattung sein können. Ich schreibe auch über Kriminalfälle und Gerichtsverfahren, die vor dem Tribunal de Grande Instance im Palais de Justice, entschieden werden."
„Da hätte ich Sie enttäuschen müssen. Ich habe nie Informationen an die Presse gegeben, höchstens in Ausnahmefällen. Ich gehörte zu den Kommissaren, die gerne ohne Presserummel arbeiten. Unser OPJ ist da anders gewesen", meinte Ewen und nahm den letzten Schluck aus der Tasse.
„Sie meinen bestimmt Monsieur Nourilly? Der ist sehr nett zu den Journalisten. Es war angenehm mit Ihnen zu sprechen, Monsieur Kerber, aber ich muss jetzt weiter, ich habe noch einige Besorgungen zu machen. Ein Urlaubstag ist schnell vorbei, und als Junggeselle muss ich mich auch um meinen Haushalt kümmern", meinte der junge Mann und stand auf, nickte Ewen freundlich zu, ging über den Place Saint-Corentin und verschwand in die Rue Kéréon.
Ewen bezahlte und verließ ebenfalls das Café. Er steuerte die gleiche Straße wie der junge Mann an. Die Rue Kéréon, eine der schönsten Straßen in Quimper, so fand Ewen, war früher die Straße der Schumacher, die im bretonischen kereon heißen. Heute hatte sie sich zu einer Hauptgeschäftsstraße entwickelt. Sein Ziel war die Markthalle in der Rue Astor. Er hatte Carla versprochen, die benötigten Lebensmittel für den Abend zu besorgen. Carla war eine exzellente Köchin, die am liebsten frische Produkte verarbeitete.
Kapitel 2
Die diffuse Straßenbeleuchtung in der Rue Théodore le Hars, einer schmalen Verbindungsstraße zwischen der Rue Jean Jaurès und dem Boulevard Dupleix, hatte schon vor einigen Stunden eingeschaltet. Die Polizeidienststelle, gleich am Anfang der Straße, lag beinahe so im Dunkeln wie die abgedunkelten Häuser während des Krieges. Es war früher Abend und die Dienstelle der Polizei war fast menschenleer. Vor dem Parkhaus Théodore le Hars, das gleich neben dem Hotel Escale Oceania lag, stand ein Van. Auf der engen Straße war das Parken nicht vorgesehen, weil ein stehendes Fahrzeug sofort eine Spur versperrte. Aber um diese Zeit war der Verkehr in der Straße eher gering und die Fahrzeuge konnten den Van gut passieren. Das fahle Licht der Laterne, die an der Hauswand des Nebengebäudes angebracht war, reichte nicht aus, um die Straße gut zu beleuchten. Der Fahrer des Vans saß hinter der verdunkelten Windschutzscheibe und schien auf jemanden zu warten. Der Van stand jetzt bereits seit einer guten halben Stunde an der Stelle. Tagsüber wäre längst eine Aufforderung zum Weiterfahren erfolgt oder ihm wäre ein Strafmandat ausgehändigt worden. Nach einigen weiteren Minuten stieg der Fahrer aus, ging mit gesenktem Kopf um das Fahrzeug herum, öffnete die Schiebetür und stieg ein. Er hatte das Fahrzeug kaum betreten als ein höchstens zwanzigjähriger Mann auf dem Bürgersteig der gegenüberliegenden Seite die Straße hochkam. Die Kapuze seines Sweatshirts war tief ins Gesicht gezogen, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Als er auf Höhe des geöffneten Vans war wurde er angesprochen.
„Hey", rief der Mann aus dem Van ihm zu.
„Hast du eine Pille für mich?"
Der so Angesprochene sah sich um. Er wusste, dass die Straße von der Kamera am Gebäude der Polizei überwacht wurde. Niemand war auf der Straße.
„Zwanzig Euro das Stück", sagte der Kapuzenmann, ohne dem Mann im Van einen Blick zu gönnen.
„Okay, aber nicht auf der Straße, komm rüber in den Wagen, hier sieht man uns nicht."
Der Dealer zögerte, dann dachte er an die Überwachungskamera. Er überquerte die Straße und stieg in den Wagen. Er spürte noch den Elektroschocker an seinem Hals und sackte zusammen. Der Fahrer des Vans fesselte den jungen Mann und verklebte seinen Mund. Dann stieg er aus, schob die Tür zu, setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr los.
Der Van verließ Quimper über die Route de Brest. Er folgte der Straße bis zur Einmündung in die N 165. Am Park Poullic bog er ab und folgte der D 770. An der Ortseinfahrt von Quilinen bog er von der Hauptstraße ab, passierte die Auberge de Quilinen und hielt vor dem Eingang zur Kapelle. Der Fahrer sah sich vor dem Aussteigen um. Die wenigen Häuser der kleinen Ortschaft lagen alle im Dunkeln, niemand war zu sehen. Er stieg aus, ging ums Fahrzeug, öffnete die Schiebetür und zog den gefesselten Dealer raus. Er löste die Fußfesseln und half ihm, sich aufzurichten.
„Los, geh schon und nicht stehen bleiben", heischte er ihn an und untermauerte seine Worte durch einen Schubs. Der Dealer ging auf dem Kiesweg zum Eingang der Kapelle. Sein Begleiter holte den Schlüssel aus der Tasche, schloss die rote Kirchentür auf, stieß den Mann hinein und verschloss die Tür sofort.
Er schob den gefesselten Dealer zum Altarraum.
„Jetzt hast du die letzte Chance, deine Sünden zu bereuen und den Allmächtigen um Verzeihung zu bitten. Ich weiß genau, dass du vom Teufel besessen bist. Hier hat der Teufel aber keine Macht über dich, hier kannst du dich von ihm befreien. Knie nieder und sag dich vom Satan los." Mit einem schnellen Ruck zog er ihm das Klebeband vom Mund.
„Aua! Bist du besoffen! Was willst du von mir? Was soll das Gefasel von Teufel und Sünden? Mach mich los, ich habe keine Lust, mit dir hier zu bleiben. Wo sind wir überhaupt?"
„Knie nieder und sei demütig."
Der Dealer kniete nieder und sah zu dem Mann auf.
„Du solltest vorsichtiger sein in deiner Wortwahl. Wir befinden uns im Haus des Herrn. Sieh nur diesen herrlichen Altar", sagte er und beleuchtete ihn mit der mitgeführten Taschenlampe.
„Jedes deiner Worte erreicht den Allmächtigen. Also, sage dich vom Teufel los und befreie dich von deiner Besessenheit. Wer andere Menschen mit Drogen versorgt, die nur zu deren Untergang führen, kann nur vom Teufel besessen sein. Es ist ganz einfach, du musst nur beten und um Gnade bitten."
„Du hast sie ja nicht mehr alle! Binde mich endlich los, dann vergessen wir die ganze Angelegenheit und ich schenke dir auch noch ein paar Pillen", sagte der Kapuzenmann.
„Wie heißt du überhaupt? Ich würde dich gerne mit deinem Namen ansprechen", fragte er jetzt den Gefesselten.
„Wenn es dich glücklich macht, ich heiße Peran, Peran Bagot. Und jetzt mach mich endlich los."
„Peran, du solltest langsam gemerkt haben, dass ich es ernst meine. Ich frage dich ein letztes mal, Peran, willst du dich vom Teufel lossagen und dein Leben in die Hand Gottes legen?"
„Ich will, dass du mich losbindest und mit dem Gefasel, dem sinnlosen Geschwätz und dem Geplapper aufhörst."
„Der Satan scheint dich fest in Händen zu halten", entgegnete er, kniete selbst