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Das Mädchen vom Bois Avenel
Das Mädchen vom Bois Avenel
Das Mädchen vom Bois Avenel
eBook335 Seiten4 Stunden

Das Mädchen vom Bois Avenel

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Über dieses E-Book

Kommissar Kerber erhält von seinem langjährigen luxemburgischen Freund, Georges Ehinger, eine Einladung in die Normandie. Carla, seine Frau, freut sich mit ihm einige private Tage verbringen zu können. Kurz vor dem Urlaubsantritt bittet ihn sein Chef, Nourilly, an einer Tagung aller Leiter der Kommissariate aus der Region Bretagne und Normandie in Avrange teilzunehmen. Da Avrange nur wenige Kilometer von dem geplanten Urlaubsort entfernt liegt, willigt er nach anfänglichem Zögern ein. Er wird nur an zwei Tagen in Avrange an der Konferenz teilnehmen müssen. Die Abende kann er mit Carla und Georges gemeinsam verbringen. Am Abend des ersten Konferenztages sitzen Ewen und Georges bei einem Glas zusammen. Carla hat sich bereits ins Schlafzimmer zurückgezogen. Plötzlich werden sie vom Knall eines Schusses, unmittelbar hinter dem Anwesen von Georges, aufgeschreckt. Sie informieren umgehend die Gendarmerie und warten auf deren Eintreffen. Gemeinsam versuchen sie herauszufinden was passiert ist. Schon nach wenigen Minuten treffen sie auf die Leiche einer jungen, muslimischen Frau.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Feb. 2017
ISBN9783742797858
Das Mädchen vom Bois Avenel

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    Buchvorschau

    Das Mädchen vom Bois Avenel - Jean-Pierre Kermanchec

    Kapitel 1

    Das Mädchen vom Bois Avenel

    Jean-Pierre Kermanchec

    Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Menschen, sind rein zufällig.

    Impressum

    © 2015 Jean-Pierre Kermanchec und Ulrike Müller

    Covergestaltung: Atelier Meer Kunst, Oetrange

    Luxemburg

    Gewidmet meinem Freund,

    Georges Henri Germain Schmit

    In tiefer Dankbarkeit für seine Unterstützung und seine Freundschaft. Ohne ihn wäre dieser Roman nie entstanden und der Bois Avenel hätte keine Erwähnung gefunden.

    Du hast die verlassen die du liebst, um die zu treffen die du geliebt hast.

    A´ischa Bakhta trat aus dem großen Tor der Haftanstalt des 9. Arrondissements von Marseille, besser bekannt als Prison des Baumettes, und genoss zum ersten Mal seit Langem wieder die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie ließ ihren Blick von links nach rechts schweifen und betrachtete dieses veraltete, dunkle und ungesunde Gemäuer, das in den letzten sechs Monaten ihr Zuhause gewesen war. Ganz schnell wollte sie diese Umgebung vergessen. Ihre vier auf zwei Meter große Zelle, mit der metallenen Kloschüssel und dem kleinen Waschbecken, dem alten Eisenbett, mit der viel zu dünnen Matratze, auf der sie beständig den Gitterrost gespürt hatte und das kleine Wandbord, auf dem sie das Bild von ihrem Freund Walid aufgestellt hatte, konnte sie nun endlich vergessen. Jetzt sah sie die strahlende Sonne, die sie in den letzten Monaten nur durch die Gitter des winzigen Fensters betrachtet hatte. Von ihrer Pritsche aus hatte sie nur auf die Zellentür geblickt. Eine Stahltür, mit einem kleinen Sehschlitz und einer Klappe davor, die von Zeit zu Zeit von einer Aufseherin geöffnet wurde, um einen Blick in ihre Behausung und auf ihre Intimität werfen zu können, so als wollte die Aufseherin sich an dem Anblick ergötzen oder erheitern.

    Dieses Zuhause war keine freiwillig gewählte Wohnstätte gewesen, sondern eine erzwungene Stätte, eine forcierte, eine fremdbestimmte und in ihren Augen eine Brutstätte von Gewalt und Hass. Ein Haus, in dem sich alle nur erdenklichen Schicksale versammelt hatten, um die Gesellschaft anzuklagen, die sie hierher gebracht hatte. Dieses Zuhause, ausgewählt von Menschen, mit denen sie sich nicht mehr verbunden fühlte, in deren Mitte sie hineingeboren worden war, in der sie über 25 Jahre gelebt hatte und die sie verurteilt hatte sechs Monate ihres Lebens hier verbringen zu müssen. Umgeben von Frauen, die ihren Mann ermordet hatten, ihre Freier ausgeraubt oder mit einer Pistole in der Hand zum Einkaufen gegangen waren. Frauen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, als dieser Gesellschaft den Rücken zu kehren und einen anderen Weg einzuschlagen, einen Weg der sich aber immer wieder als Sackgasse erwies und stets hier endete.

    A´ischa dachte in diesen ersten Minuten der wiedergewonnen Freiheit über ihr Leben nach. Was für ein Leben hatte sie geführt? Schon in der Schule begannen diese Sticheleien der Klassenkameradin­nen, die sich über ihren dunklen Teint lustig machten und vor allem über das Kopftuch, das sie zu tragen genötigt war. Ihre Eltern, Auswanderer aus dem Irak, waren strenggläubige Moslems und erzogen ihre Tochter mit aller Strenge und nach den Vorschriften des Koran. Nicht, dass ihr Vater ohne Fehl und Tadel war, nein, das war er bestimmt nicht, und der Besuch der Moschee gehörte nicht unbedingt zu seinen Ritualen. Aber für A´ischa galten andere Maßstäbe. Sie musste alle Regeln penibel einhalten und durfte keinen Fehler begehen. Jede Zuwiderhandlung wurde von ihrem Vater auf das Strengste geahndet.

    Ihre Wohnung in der 13. Etage eines schmucklosen Ungetüms von Wohnblock, mit annähernd 500 Appartements, mit Aufzügen, die mehr außer als in Betrieb waren, war nicht angetan, Freude am Leben zu vermitteln. Angesiedelt in den Banlieue, den Vororten von Marseille, galten diese Wohnsilos als Orte von Gewalt und Kriminalität.

    Die Bewohner hielten zusammen, so, dass A´ischa keine Probleme mit den Nachbarkindern hatte, zumal die meisten der Kinder ebenfalls aus arabischen oder afrikanischen Ländern stammten. Ausgegrenzt war sie eher in der Schule, die nicht zu ihrem Viertel gehörte und die von zahlreichen Kindern französischstämmiger Eltern besucht wurde. Kinder aus einer Bevölkerungsschicht, die sich selbst zur Mittelschicht zählte, obwohl ihre Einkommen sich nur unwesentlich von denen der Einwanderer unterschieden. Die aber schon ihren Kindern vermittelten, dass sie aus einer besseren, gesellschaftlich angeseheneren und selbstverständlich intelligenteren Bevölkerungsschicht stammten.

    A´ischa war das einzige Mädchen mit einem Kopftuch in ihrer Klasse. Die ersten Erfahrungen von Ausgrenzung fingen bereits im Kindergarten an und setzten sich in der Grundschule fort. Diese begleiteten sie während der ganzen Schulzeit, das änderte sich auch nicht, als sie später einen Beruf erlernte. Sie wollte unbedingt Verkäuferin werden, obgleich ihr die Eltern davon abgeraten hatten, überhaupt einen Beruf zu erlernen. Sie brauche keinen Beruf, meinte ihr Vater, schließlich würde sie bald heiraten und dann Mutter sein. Eine Vorstellung, die A´ischa jetzt im Alter von sechzehn Jahren weit von sich wies.

    Es war eines der seltenen Male, in denen sie sich über die Meinung ihres Vaters hinwegsetzte und mit seinem Zorn leben musste. Sie lernte in einem Supermarkt, legte nach drei Jahren ihre Prüfung ab und verdiente ihr erstes eigenes Geld. Das Kopftuch setzte sie in der Öffentlichkeit nie ab, was dazu führte, dass die jungen Männer, die zum Einkauf in den Laden kamen, sie hänselten und dumme Bemerkungen fallen ließen.

    „Wahrscheinlich ist sie kahl", war noch die harmloseste Aussage. Je mehr man sie aufzog, umso sturer wurde ihre Haltung. Das Kopftuch wurde für sie zu einem Symbol ihres Widerstandes gegen die etablierte Gesellschaft, ein Symbol ihrer Andersartigkeit und zunehmend ein Bekenntnis ihrer wachsenden Radikalisierung. Eines Tages würde sie es denen da draußen heimzahlen, würde sie allen, die sie verhöhnten, sie erniedrigten und ihr zu zeigen versuchten, wie wertlos sie doch war, beweisen was sie konnte. Eines Tages würde auch sie Anerkennung finden.

    Sie war gerade einmal neunzehn, als sie Walid kennenlernte. Walid ibn Tabari wohnte nicht weit von der Wohnung ihrer Eltern entfernt, in der sie immer noch lebte. Sie hatte sich erfolgreich gegen ihren Vater behaupten können, der sie mit einem Mann aus dem Irak verheiraten wollte, den sie aber abgelehnt hatte.

    „Wenn ich den heiraten muss, dann stürze ich mich aus dem Fenster", hatte sie ihrem Vater prophezeit. Schließlich gab ihr Vater sein Ansinnen auf und meinte nur, dass sie aber nicht mit seiner Unterstützung rechnen könne, falls sie einen dahergelaufenen Mann heiraten möchte. A´ischa wollte noch gar nicht heiraten, sie wollte zuerst das Leben kennenlernen und sich nicht von der Abhängigkeit des Elternhauses in die Abhängigkeit eines Ehemannes begeben.

    Walid war sechs Jahre älter und lebte bereits sein eigenes Leben. Er hatte eine 30 m² große Wohnung angemietet und finanzierte seinen Lebensunterhalt aux frais de la princesse, wie er zu sagen pflegte, was nichts anderes bedeutete, als dass er von der Sozialhilfe lebte.

    „Eine vernünftige Arbeit gibt es gerade nicht für mich", meinte er nur, als A´ischa ihn danach fragte. Was er als vernünftige Arbeit einstufte blieb A´ischa verborgen. Auf ihre konkreten Fragen antwortete er nur, dass es sich um eine angenehme, gut dotierte und saubere Tätigkeit handeln müsste. Einen Schulabschluss konnte er nicht vorweisen und Schuld daran hatten nur seine Lehrer, die ihn schlecht beurteilten, so dass er die Lust am Lernen verloren hatte.

    „Ich habe einige tolle Typen kennengelernt, A´ischa, die würden dir auch gefallen. Komm doch einfach mal mit zu einer Versammlung heute Abend."

    Tolle Typen könnte sie sich ja einmal ansehen, obwohl sie Zweifel hegte, dass diese Typen wirklich so toll waren. A´ischa sagte dennoch zu und versprach mitzugehen. Sie trafen sich am späteren Abend, nachdem der Supermarkt geschlossen hatte und gingen zu Fuß vom Supermarkt durch die Siedlung zur anderen Seite ihres Viertels. Vorbei an all den riesigen Wohnblöcken, mit den gleichförmigen Fassaden, den winzigen Grünflächen vor den Eingängen, die mehr graubraun als grün waren und an den, in Gruppen herumstehenden Jugendlichen, die mit Zigaretten zwischen den Lippen mit dem Handy spielten oder den Hörer am Ohr hatten, um mit dem Freund oder der Freundin zu telefonieren. Vereinzelt grüßten sie A´ischa, die mit ihnen aufgewachsen war.

    Die Versammlung, von der Walid gesprochen hatte, fand in einem Hinterhof eines ziemlich heruntergekommenen Gebäudes aus der Nachkriegszeit statt. Die schmucklosen Wände, von denen der Gips teilweise schon abgeblättert war, die alten Fabrikleuchten an der Decke, die Nässe an verschiedenen Ecken des Raumes, zeigten deutlich, dass hier niemand mehr wohnte oder arbeitete. Zwanzig Jugendliche, deren Alter zwischen achtzehn und knapp über zwanzig Jahren liegen durfte, hielten sich bereits in dem Raum auf, als A´ischa mit Walid eintraf. Alle schienen arabischen Ursprungs zu sein, nur zwei oder drei ähnelten mehr den Franzosen der Provence, deren Haut von der Sonne braun gebrannt war.

    Ein Mann, eindeutig arabischer Abstammung mit einem dichten, rabenschwarzen Bart und dunkler Kleidung, kam auf Walid zu und begrüßte ihn wie einen alten Freund. Walid schien hier bestens bekannt zu sein.

    „Abdul, sei mir gegrüßt, das ist A´ischa, eine gute Freundin von mir."

    „Deine Freundin soll mir willkommen sein, Walid."

    Der Mann, den Walid Abdul nannte, drehte sich zu A´ischa um und reichte ihr die Hand.

    „Abdul Bassari, ich freue mich, dich kennenzulernen."

    „A´ischa Bakhta", sagte sie und sah ihm fest in die Augen.

    „Hast du A´ischa gesagt, wer wir sind und was wir machen?"

    Abdul Bassari sprach zu Walid und sein Gesicht hatte einen sehr ernsten Ausdruck, der durch den schwarzen Bart noch düsterer wirkte.

    „Nein, ich habe A´ischa nur gesagt, dass sie hier unter Freunden sein wird, die ihr bestimmt gefallen und die sie nicht, wie die anderen Menschen auf den Straßen der Stadt, nur als eine unerwünschte Person betrachten."

    Jetzt wand Abdul sich an A´ischa und sagte mit ernster Stimme:

    „Wir alle haben den Eindruck, dass wir in diesem Land nicht respektiert und nicht angenommen werden so wie wir sind. Wir haben uns zusammengefunden, um unseren Respekt einzuklagen und uns Achtung zu verschaffen. Wir wollen in dieser Gesellschaft den Platz erhalten, der uns zusteht. Bist du bereit für deine Achtung und Ehre zu kämpfen? Freiwillig wird man uns diesen Platz nicht einräumen!"

    A´ischa, die auf jedes Wort von Abdul geachtet hatte, brauchte nicht lange nachzudenken. Die Begriffe Achtung, Ehre, Respekt gehörten zu dem Vokabular, dass sie sich zurechtgelegt hatte, als sie den Anfeindungen und den Pöbeleien ausgesetzt war. Es waren Begriffe, die aus ihrem Mund stammen konnten. Sie war absolut einverstanden mit Abduls Aussage. Natürlich würde sie sich dafür einsetzen und auch dafür kämpfen, was auch immer Abdul unter Kampf verstand.

    „Ja, das bin ich. Ich bin aber nicht die Stärkste, meine körperlichen Kräfte sind bescheiden."

    „Kraft kann auch der entwickeln, der nicht mit besonderen körperlichen Attributen ausgestattet ist. Wir werden dir diese Kraft verleihen, so wie wir immer für dich da sein werden. Wir brauchen nur deine absolute Loyalität, die Zusicherung, dass du uns nicht verrätst und deinen Willen, für unsere Ziele einzustehen."

    Das gefiel A´ischa, sie wollte die Kraft haben, sich zu wehren, sich vor den herablassenden Bemerkungen zu schützen und in Zukunft respektiert zu werden.

    „Das will ich alles tun, das verspreche ich hier", antwortete A´ischa und Abdul hieß sie nun erneut willkommen in ihrer Mitte. Das erste Zusammentreffen mit Abdul Bassari war für A´ischa eine angenehme Erfahrung. Sie wurde den anderen der Gruppe vorgestellt und mit Beifall willkommen geheißen. Plötzlich gehörte sie dazu, war nicht mehr ausgegrenzt, sondern angenommen und ein Teil dieser Gesellschaft. Von jetzt an nahm sie regelmäßig an den Treffen teil. Es waren Zusammenkünfte, die ein oder auch zwei Mal die Woche stattfanden. Die Teilnehmer erzählten von ihren Erlebnissen in den vergangenen Tagen, berichteten von Pöbeleien und vergaßen regelmäßig von ihrem eigenen Verhalten zu berichten, das durchaus an manchen Tagen Auslöser von entsprechenden Reaktion der Umwelt war. Einzig A´ischa versuchte ihre Fehler einzugestehen und nach Erklärungen für das Verhalten der Menschen ihr gegenüber zu suchen. Aber auch bei ihr waren diese Ereignisse eher die Ausnahme. Viel häufiger war ihr Kopftuch, ihr Aussehen oder auch die Kleidung, Auslöser von Rüpeleien und von herablassenden Bemerkungen.

    Nach der Austauschrunde, wie Abdul die Gespräche nannte, wurde über aktuelle Nachrichten gesprochen. Abdul berichtete von den Brüdern und Schwestern, die in den verschiedenen arabischen Ländern für ihre Sache kämpften und zeigte Videoaufnahmen. Die Aufnahmen hatten zumeist die schlechten Lebensbedingungen zum Inhalt oder zeigten Demonstrationen in verschiedenen Ländern der Welt. Ein Schwerpunkt war immer wieder das Leben der Mohammedaner in Frankreich. Von Mal zu Mal wuchs bei den Teilnehmern der Hass gegen die Regierung, gegen die Gesellschaft und gegen alles was diese Gesellschaft repräsentierte. Nach einigen Monaten, war auch A´ischa soweit, dass sie nur noch das Schlechte in ihrem Umfeld sah. Jetzt war sie dort, wo Abdul alle seine Schützlinge hinbringen wollte.

    Ihre erste Aufgabe, bei der sie ihre Loyalität beweisen sollte, bestand darin, einen Brandanschlag auf einen Gendarmerieposten zu verüben. Sie hatte sich gut darauf vorbereitet und mit Walid alles genau durchgesprochen. Jetzt, so sagte Walid ihr, sei sie soweit, dass sie ihre Stärke zeigen könne. Ab jetzt würde sie Macht ausüben und sich zur Wehr setzten können. Bei der Durchführung passierte dann aber genau das, was sie nicht vorhergesehen hatten. Genau zu dem Zeitpunkt, als sie vor dem Gebäude der Gendarmerie stand und die Flasche mit dem Molotowcocktail warf, kam ein Wagen der Gendarmerie an, und die zwei Gendarmen stürzten sich sofort auf sie und nahmen sie fest. Das Ergebnis dieser Loyalitätsprobe waren sechs Monate Gefängnis. Es wurden nur sechs Monate, weil das Gericht ihr anrechnete, dass es sich um ihre erste Straftat handelte.

    Jetzt also stand sie wieder vor dem Tor und war in Freiheit, blickte in die Sonne, die sie solange nur durch das vergitterte Fenster gesehen hatte, folgte dem Flug eines Schmetterlings, der sich von einer Blüte zur nächsten bewegte, sah den unaufhörlich vorbeifahrenden Fahrzeugen, auf der vor ihr liegenden Straße zu und hoffte, dass die Welt in der Zwischenzeit nicht unmenschlicher geworden war.

    Sie sah den dunkelblauen Seat auf sich zukommen und erkannte den Wagen sofort. Wenigstens der war geblieben, so dass es einen Anknüpfungspunkt gab, um ihr Leben dort fortzusetzen, wo es vor sechs Monaten aufgehört hatte. Walid öffnete ihr die Beifahrertür und winkte sie zu sich heran, ohne auszusteigen und sie gebührend zu begrüßen. Das hatte sich A´ischa anders vorgestellt, ja erhofft gehabt, davon hatte sie geträumt in den letzten Monaten. Walid kam in ihren Träumen auf sie zugerannt und nahm sie in den Arm und zeigte seine Freude, sie wieder in Händen halten zu können. Aber an die Stelle einer solchen Begrüßung trat jetzt ein einfaches Zurufen und eine lieblos geöffnete Beifahrertür.

    „Komm A´ischa, wir haben ein Willkommensfest für dich organisiert."

    Kapitel 2

    Es war Sommer! Endlich war es Sommer und die Tage wurden wieder länger und wärmer. Ewen Kerber fühlte sich wie neu geboren. Er genoss die Ruhe in seinem Liegestuhl. Auch wenn er kein wirklicher Sonnenanbeter war, so ließ er sich gerne für eine halbe Stunde von der Sonne erwärmen. Es war Samstagnachmittag und er genoss seinen freien Tag.

    Seine Frau Carla lag neben ihm. Sie liebte es, in der Sonne zu liegen und einen dunklen Teint zu bekommen. Sie vertrug die Sonne sehr gut und schätzte die wohlige Wärme, die durch ihren Körper ging. Einen Sonnenbrand hatte sie noch nicht gehabt.

    „Vielleicht liegt es meinen dunklen Haaren", pflegte sie Ewen zu sagen, wenn der sich wieder einmal wunderte.

    Ewen musste spätestens nach einer halben Stunde die Sonne verlassen und sich einen schattigen Platz suchen. Über der Terrasse ihres Hauses war eine Markise angebracht, die er bei starker Sonneneinstrahlung ausfahren konnte.

    Ewen las ein Buch über die Bretagne und ihre Geschichte. Es war sein Steckenpferd über die Geschichte, die Geologie aber auch über die Sagenwelt der Bretagne zu lesen. Wäre er nicht bei der police judiciaire, als Leiter der Mordkommission tätig, dann könnte er sich ganz bestimmt als Erzähler von bretonischen Sagen einen Namen machen oder Vorträge für Touristen aus dem Ausland halten, die so zahlreich die Bretagne besuchten.

    Die vergangenen Wochen waren anstrengend gewesen. Der letzte Fall hatte sich hingezogen und seinen ganzen Einsatz erfordert. Wie immer, wenn er einen schwierigen Fall zu lösen hatte, hatte Carla häufig auf ihn verzichten müssen. Doch jetzt war der Mörder gefunden und Ewen konnte wieder etwas kürzer treten.

    Die Geschichte, die er gerade las, kannte er noch nicht. Menhire, so las er, können durchaus als Entwicklungshelfer dienen.

    In Plouër-sur-Rance gibt es einen Menhir mit einer gewissen Zauberkraft. Schafft ein Mädchen es, siebenmal hintereinander über diesen Menhir zu rutschen, ohne sich dabei eine Verletzung zuzuziehen, dann wird sie einen würdigen Bräutigam finden. Für die Eheleute, deren Kinderwunsch noch nicht in Erfüllung gegangen ist, so die Aussage der Sage weiter, gibt es Hilfe in Carnac. Das Ehepaar, das dort um den Kerderff-Felsen läuft, steigert seine Chancen auf Erfüllung des Kinderwunsches.

    Für diejenigen, die nicht an die Kraft der Menhire glauben, hat die Erzählung auch eine Weissagung parat. Sie bräuchten nur die Unmengen an Menhiren zu betrachten, die nichts anderes als versteinerte Ungläubige sind.

    Ewen konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Seine Heimat war wirklich reich an Sagen, Geschichten und Erzählungen. Vielleicht war das auch ein Teil des Zaubers, den die Bretagne auf ihre Besucher ausübte.

    Sein Handy lag neben ihm auf dem kleinen Beistelltisch, auf dem normalerweise am späteren Nachmittag sein Aperitif, ein Glas Rosé, zu stehen pflegte. Er hatte wieder einmal Rufbereitschaft und das Telefon konnte ihn jederzeit zum Dienst rufen. Es klingelte und störte die Ruhe, die bis jetzt in ihrem Garten geherrscht hatte, wenn er von dem Gezwitscher der Vögel einmal absah, die ihre Nester bauten und alles für eine Familienerweiterung vorbereiteten. Ewen sah von seinem Buch auf und nahm das Telefon in die Hand. Carla öffnete die Augen und wandte ihren Kopf zu Ewen. Sie hegte sofort die größte Befürchtung, dass ein neuer Mord Ewen aus seinem wohlverdienten Wochenende reißen würde.

    Ewen sah auf das Display und las den Namen, Georges.

    Georges war ein alter Freund von ihm und seinem luxemburgischen Kollegen Medernach, den er während seiner Zeit an der École Nationale Supérieure de la Police in Saint-Cyr au Mont d´Or, kennengelernt hatte. Georges war nicht auf der Polizeischule gewesen, er studierte damals Betriebswirtschaft in Lausanne. Als Schulfreund von Henri Medernach war er öfter zu ihnen nach Saint-Cyr gekommen. Ewen und Georges waren sich sehr sympathisch und so hatte er Georges bald zu seinem engsten Freundeskreis gezählt. Seit einigen Jahren besaß Georges ein schönes Anwesen in der Normandie, nur wenige Kilometer hinter der bretonischen Grenze, knappe 25 Kilometer südöstlich vom Mont-Saint-Michel.

    „Hallo Georges, schön von dir zu hören. Bist du in der Normandie?", hörte Carla ihn sagen und atmete auf.

    „Hallo Ewen, ich musste dich einfach anrufen. Wir haben schon sehr lange nichts mehr voneinander gehört. Ja, ich halte mich für einige Wochen hier auf. Es gibt noch einiges zu tun an meinem Haus. Ich bin dabei, die Einfahrt zu erneuern und ein Tor einzubauen. An einem alten Haus gibt es immer etwas zu arbeiten. Sag, hättest du nicht Lust, mich mit deiner Frau zu besuchen? Ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, sie kennenzulernen. Fast könnte man meinen, dass du sie mir vorenthalten möchtest. Ihr könntet doch einige Tage zu mir kommen und wir könnten uns über die alten Zeiten unterhalten. Was hältst du davon?"

    „Vielen Dank für deine Einladung, Georges. Ich habe nicht vor, Carla zu verstecken. Aber du weißt ja selbst wie es ist, wenn man noch berufstätig ist. Das Privatleben kommt dann häufig zu kurz. Ich werde deine Einladung gerne mit Carla besprechen. Vielleicht können wir uns in der nächsten Woche ein paar Tage frei machen. Aber sag, wie geht es dir?"

    „Ich bin immer noch beschäftigt mit diversen Aufträgen, die noch zu erledigen sind, bevor ich mich etwas zurücknehme. Meine Pensionierung ist bereits genehmigt aber ich möchte mich noch nicht völlig aus dem Berufsleben zurückziehen. Daher helfe ich einem Kollegen aus und erledige kleinere Arbeiten für ihn. Gesundheitlich geht es mir gut, allerdings habe ich den Tod meiner langjährigen Lebensgefährtin noch nicht überwunden. Aber auch hier denke ich, heilt die Zeit die Wunden."

    „Ja, ich kann es sehr gut verstehen. Nach dem Tod meiner Frau habe ich Ähnliches durchgemacht."

    „Du kennst mich ja schon sehr lange, ich kann so schlecht alleine sein. Irgendwann werde ich sicherlich versuchen, einen Menschen zu finden, der an meiner Seite leben möchte."

    „Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück! Georges, ich melde mich in den nächsten Tagen bei dir und sage Bescheid, ob es mit einem Besuch klappt."

    Ewen und Georges beendeten das Gespräch und Ewen wandte sich Carla zu, die ihn bereits gespannt ansah, nachdem ihr Name mehrfach gefallen war.

    „Wer war am Telefon?"

    „Georges aus Luxemburg, ich habe dir schon viel von ihm erzählt."

    „Ach, der Freund von Henri Medernach, den du in Saint-Cyr kennengelernt hast?"

    „Genau der, er hat uns für einige Tage in die Normandie eingeladen. Er besitzt dort ein schönes Anwesen und wir könnten bei ihm wohnen. Der Ort ist nicht sehr weit vom Mont-Saint-Michel entfernt."

    „Das hört sich gut an, ich war noch nie am Mont-Saint-Michel. Vielleicht könnten wir das mit einem Besuch dieses weltberühmten Klosters verbinden."

    „Das lässt sich bestimmt machen, wir müssen nur sehen, ob wir ein paar Tage Urlaub bekommen können. Bei mir ist zurzeit alles ruhig, wir haben gerade wenig Arbeit. Wie sieht es bei dir aus?"

    „Ich habe noch so viele Überstunden und schon lange keinen Urlaub mehr genommen. Ich denke, dass es kein Problem werden dürfte."

    „Gut, dann klären wir das und ich sage Georges am Montag Bescheid. Ich würde mich wirklich freuen, ihn einmal wiederzusehen."

    Ewen nahm sein Buch wieder in die Hand und las weiter. Allerdings waren seine Gedanken nicht mehr ausschließlich bei seiner Lektüre. Sie kreisten um das gerade Gehörte von seinem Freund Georges, der sein Alleinsein noch nicht verarbeitet hatte. Zu gerne hätte er ihm Hilfe angeboten aber er war nicht sehr gut als Therapeut. Er konnte sich noch sehr gut an seine eigene Einsamkeit erinnern. An die langen Abende nach der Arbeit im Büro, in seinem Sessel, neben dem Kamin und an das Glas Rotwein, an dem er sich so oft festgehalten hatte, als Rettungsanker sozusagen. In seiner Erinnerung sah er sich immer noch, wie er das Glas hin und hergedreht und nachdenklich hineingestarrt hatte, so als stünden dort die Antworten auf seine Lebensfragen.

    Langsam müsste er sich aber nach einem Sonnenschutz umsehen, die Sonne hatte doch schon mehr Kraft, als er erwartet hatte. Er sah, dass seine Haut einen rötlichen Schimmer bekam.

    Carla drehte sich von Zeit zu Zeit um.

    Am späten Nachmittag stand Carla auf und ging in die Küche, um den Aperitif vorzubereiten und die amuses gueules zu richten. Dieses Ritual schätzte Ewen sehr, gab es seinem Tagesablauf doch einen gewissen zuverlässigen Ruhepunkt in dieser hektischen Welt.

    Wenig später kam Carla mit einem Tablett auf die Terrasse zurück. Ewen stand auf und nahm die Weinflasche vom Tablett, und schenkte ihnen den gut gekühlten Rosé ein. Auf dem Teller lagen kleine, ungefähr ein Zentimeter dicke Gurkenscheiben, mit einem kleinen Häubchen Frischkäse garniert und mit Piment d´Espelette bestreut. Ewen war überrascht, seine Paté au pommes nicht vorzufinden.

    „Gibt es heute keine Paté?"

    „Ewen, ich muss hin und wieder etwas Neues machen, ansonsten wird dir meine Küche zu langweilig. Versuch mal diese kleinen gesunden Häppchen, die schmecken ganz gut."

    Ewen

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