Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen: Erzählungen
Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen: Erzählungen
Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen: Erzählungen
eBook263 Seiten3 Stunden

Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen: Erzählungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Britta und Bert haben alles: Ein Haus am Wald, tolle Jobs und viel Geld. Nur keine Kinder. Aber kein Problem: Es gibt ja Samenbanken, und manche haben Nobelpreisträger im Angebot. Da muß es doch einfach klappen mit dem tollen Nachwuchs. Das tut es auch, nur sind die Kinder anders als gedacht. Ganz anders.

Wie ein roter Faden zieht sich eine Erkenntnis durch alle Geschichten: daß vieles im Leben nicht so läuft wie geplant; daß unter dem schönen Schein eine böse, heimtückische und hinterlistige Wirklichkeit lauert, die den Menschen ein ums andere Mal ein Bein stellt.

Da gibt es diesen rührenden Vater, der jahrelang glaubt, er könnte seinen drogenkranken Sohn von seiner Sucht befreien und aus ihm einen normalen Menschen machen mit Studium, Beruf, Frau und Doppelgarage. Das denkt der Vater so lange, bis die Katastrophe passiert.

Dann ist da dieser erfolgreiche Münchener Rechtsanwalt, der in Paris eine viel jüngere Frau trifft und eine gemeinsame Zukunft plant, aber erst einmal muß er ihren Ex-Freund aus dem Feld schlagen und seine Noch-Frau loswerden.

Ein gewalttätiger Mann, der andauernd seine Frau betrügt, findet durch eine letzte Begegnung mit seinem Vater zu sich und seiner Familie zurück.

Ein Opernregisseur mit einer Vorliebe für schwarze Prostituierte und harten Sex wird mit seiner Jugendliebe und einer alten Demütigung konfrontiert.

Irgendwo in Bayern wird ein Behinderter umgebracht, und jedem ist das egal bis auf seinen ältesten Freund.

Ein Literaturwissenschaftler beichtet seiner Frau, daß er Frauen und Männer liebt und von einer Ehe zu Dritt träumt.

Eine Millionärsfamilie, die vor dem Bankrott steht, vertraut sich einem halbseidenen Investor an.

Die Schauplätze dieser Geschichten sind Paris, Salzburg und München ebenso wie Kleinstädte und Provinzdörfer.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Nov. 2014
ISBN9783738004922
Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen: Erzählungen

Ähnlich wie Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Samenspender Nr. 9.713 und andere Erzählungen - Thomas W. Jefferson

    Hinweis

    Samenspender Nr. 9.713

    und andere Erzählungen

    von Thomas Walker Jefferson

    Für Rat und Zuspruch danke ich herzlich R. K. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

    Text Copyright © Thomas Walker Jefferson

    Alle Rechte vorbehalten.

    Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, dann empfehlen Sie es bitte einer Freundin oder einem Freund und schreiben Sie eine Rezension auf.www.amazon.de oder wo immer Sie wollen.

    Über Kommentare und Kritik freue ich mich immer!

    Schreiben Sie mir: Jefferson.thomaswalker@gmail.com

    Die in der Erzählung „I Love Paris zitierten Verse stammen aus dem 1959 veröffentlichten Lied „Milord von Édith Piaf. Der Text stammt von Georges Moustaki, die Musik von Marguerite Monnot. Copyright: Francis Salabert Ed. S.A. Lyrics. Die deutsche Übersetzung ist von mir.

    Die in der Erzählung „Der kleine Gustl zitierten Verse stammen aus dem 1931 veröffentlichten Lied „Quiéreme mucho des kubanischen Zarzuela-Komponisten Gonzalo Roig (1890-1970). Der deutsche Text stammt von Michael Kunze. Das Lied wurde 1982 in Deutschland von Julio Iglesias auf der A-Seite der Single „Julio Iglesias – Du bist mein erster Gedanke" (CBSA 2149) populär gemacht. Copyright: Nicht zu ermitteln, es liegt aber vermutlich bei Michael Kunze, der die Platte auch produziert hat.

    Titelbild: Dreamstime

    1)Samenspender Nr. 9.713

    Sie weiß genau, wie ihr Traummann aussieht: Er ist schlank, hat schwarze Haare, Brombeeraugen und fährt Motorrad. Mit sechzehn oder siebzehn hat sie sein Bild zum ersten Mal vor ihrem geistigen Auge gesehen. Seitdem ist es nie mehr aus ihren Träumen verschwunden. Bei Arztbesuchen, im Flugzeug oder während der langen Autofahrten mit dem Bürgermeister braucht sie nur die Lider zu schließen, damit ein Kurzfilm in ihr abzulaufen beginnt, der nie aufhört, sie zu erregen. Im Lauf der Jahrzehnte hat ihr Traummann sich gewandelt, ist wie sie älter, reifer und erfahrener geworden. Sein Motorrad ist moderner geworden (am Anfang war es eine 50er), der Hintergrund ihrer Fantasie hat sich an die Orte und Landschaften, die sie nach und nach gesehen und bereist hat, angepaßt, aber die Geschichte in ihrem Kopfkino ist immer dieselbe geblieben.

    Alles beginnt in einem Altstadtcafé, irgendwo in Heidelberg, München oder Tübingen, wo sie gelebt und studiert hat: Da sitzt sie mit ihren Freundinnen, alle erfolgreich, studiert und intelligent wie sie, beim Brunch. Drei Tische weiter sitzt diese Männerrunde, aber keine fetten, alten Säcke mit langen Haaren und gelben Zähnen, sondern große, schlanke Männer mit Knackärschen und engen Ledermonturen, die reden, lachen und herumalbern und mit ihren chromblitzenden Maschinen sportlich, erfolgreich und sexy wirken. Seit einiger Zeit schon hört sie ihren Freundinnen nur noch halb zu, weil einer der Typen sie unverwandt anlächelt. Jetzt hebt er sein Glas, prostet ihr zu, deutet auf die Motorräder, zeigt auf sich, zeigt auf sie, zieht die Brauen hoch, lacht sie an. Die Frauen an ihrem Tisch bemerken jetzt, was da passiert, und fragen sie, belustigt und verblüfft zugleich, ob sie den Mann an dem Tisch da drüben kenne. Da stehen ihre Beine wie von alleine auf und vollkommen selbstverständlich folgt sie dem Mann zu den Motorrädern. Um die Pfiffe, Schreie und Rufe hinter ihr kümmert sie sich gar nicht. Ohne zu fragen, klettert sie in Rock und Blazer hinten auf das Motorrad, das mit einem dunklen Dröhnen anspringt.

    Jetzt beginnt eine wilde Fahrt über Kopfsteinpflaster und durch winkelige Altstadtgassen, die irgendwo sein könnten: in Saint-Tropez oder Marburg, in Siena oder Prag. An Marktständen, Caféhaustischen und auseinanderspritzenden Passanten vorbei geht es auf steilen Wegen aus der Stadt hinaus auf eine Landstraße, die unter einem Sommerhimmel Felder und Wiesen durchschneidet. Noch nie in ihrem Leben ist sie so schnell gefahren. Der Fahrtwind reißt an ihrem Haar. Enger und enger schmiegt sie sich an den Rücken des Mannes vor ihr. Minuten nur dauert es, bis sie eine Straße erreichen, die, in engen Serpentinen der Küstenlinie eines azurblauen Meeres folgend, auf der einen Seite jäh zum Wasser hin abfällt, während sie auf der anderen himmelwärts wieder ansteigt. Viele Motorräder sind nun unterwegs, aber ihr Fahrer überholt sie alle. Andauernd hört sie die Kupplung schnalzen, vernimmt sie das Klack-klack-klack, wenn ihr Pilot durch die Gänge schaltet, spürt sie das sirrende Hochdrehen des Motors, wenn sie aus den Kurven herausbeschleunigen und die Maschine einen Satz nach vorne macht. Noch nie in ihrem Leben hat sie sich so frei und glücklich gefühlt. Sie jubelt, juchzt und schreit in den Wind hinein wie ein übermütiges Mädchen.

    Sie verlassen die Küste und streben Bergen und Wäldern, Tälern und Matten zu. Die Luft wird kühler und es riecht nach Moos und Tannennadeln. Seen glitzern zwischen Schneeresten. Unten im Tal liegt eine Stadt, die so aussieht wie das Colorado Springs, das sie einmal mit einer Delegation des Deutschen Städtetags besucht hat. Mitten in der Stadt halten sie vor einem Lokal, setzen sich an die lange Bar, hören die Dixie Chicks, bestellen Cocktails. Und obwohl sie hier noch nie gewesen ist, unterhält sie sich mit dem Barmixer, geben ihr ständig neue Leute Küßchen hier, Küßchen da, gehört sie dazu, redet sie mit, steht im Mittelpunkt, fühlt sie sich so irrsinnig wohl wie noch nie. Bevor die Steaks kommen, muß sie noch schnell aufs Klo. Da flüstert ihr der Motoradfahrer was ins Ohr, sie lacht auf, haut ihm auf die Schulter und geht Hand in Hand mit ihm in Richtung Toiletten.

    Im Little Girls‘ Room drückt er sie gegen die Fliesen, küßt sie auf den Mund, hat eine Hand an ihrem Busen und zwei Finger in ihrer Möse, während sie anfängt, an seinem Hosenknopf zu nesteln. Obwohl sie ständig Leute raus- und reingehen hört und der Geruch von Duftsteinen und Reinigungsmitteln ihr widerlich in die Nase steigt, beugt sie sich weit nach vorne, hält sich am Toilettendeckel fest und dreht ihm den Hintern zu.

    ***

    Bert hat keine schwarzen Haare, keinen Knackarsch und fährt auch nicht Motorrad. Er ist nicht groß, nicht schlank und würde nie in einem Café eine Frau ansprechen. Dafür ist er Ingenieur, beherrscht ein exzellentes Bœuf Bourguignon, kann einen Rasenmäher reparieren und bringt sie, wenn sie aus der Haut fährt, was öfter passiert, wieder runter. Bert ist ein Mann für Bausparverträge, Wanderurlaube und Musical-Reisen.

    Als sie ihn im Internet trifft, ist sie vierzig Jahre alt, von denen sie fünfunddreißig zugibt. Fünfzehn einsame Jahre in der Gesellschaft vieler Katzen liegen hinter ihr: Jahre des Studiums, der Promotion in einem Männerfach, Anfangsjahre in der Stadtverwaltung, in der altgediente Beamte sich von einer Frau doch nichts sagen lassen. Im Jahr der Hochzeit mit Bert, dem Jahr, in dem ihr alles glückt, wird sie zur Leiterin der Stadtverwaltung ernannt, avanciert zur rechten Hand des jungen, lieben und sehr grünen Bürgermeisters, der sich im realen Verwaltungsleben jedoch als ein ziemlicher Trottel erweist, weshalb bald sie als das wahre Stadtoberhaupt gilt. In diesem Jahr, in dem einfach alles wie geschmiert läuft, in dem Bert und sie günstig an ein wunderschönes Häuschen am Waldrand kommen, in dem ihr Gehalt nach oben schnellt und Bert zum Leiter der Kläranlage aufsteigt, da fühlt sie sich reif und bereit für die nächste Stufe in ihrem Leben: Kinder.

    Es ist keineswegs zu spät, sagt ihr Frauenarzt. Sie sind gesund und in den besten Jahren.

    Das kommt ihr auch so vor. Noch nie im ihrem Leben hat sie sich dermaßen gut gefühlt. Jetzt können die Kinder kommen. Und sie gibt sich wirklich alle Mühe: Da besorgt sie sich schwarze Strümpfe und passende Strapsgürtel dazu, da hat sie kaum noch etwas an, wenn er zur Tür hereinkommt, und an den Wochenenden lutscht sie ihm den Schwanz mit einer Hingabe, wie er das noch nicht erlebt hat.

    Aber nichts hilft. Kein Kind will kommen.

    ***

    Nun beginnen hektische Jahre. Beide nehmen den Kampf auf. Sie wollen Nachwuchs. Jetzt erst recht. Andere haben auch Kinder und bekommen jedes Jahr noch eins dazu. Bert und sie haben ein Recht auf Kinder, auf ein Familienleben, sie wollen das, was sie haben, einmal jemandem hinterlassen.

    Sie rennen von Pontius zu Pilatus, probieren es mit Joga, Schüssler-Salzen, Akupunktur, Ayurveda und Meditation. Sie schlucken Zink- und Selenkapseln wie die Weltmeister. Bert läßt sich drei schmerzhafte Monate lang die Krampfadern am Hodensack wegoperieren. Sie fahren zu einem Wunderdoktor in die Slowakei, wo ihr Auto gestohlen wird. In Valencia sieht schon die Ambulanz der Fruchtbarkeitsklinik so dreckig aus, daß sie umdrehen und schnurstracks wieder nach Hause fliegen. Sie schaffen, tun und machen wie die Verrückten, aber nichts passiert. In Brittas Gebärmutter herrscht Totenstille. Irgendwann stellen sie sich die Frage, der sie bislang aus dem Weg gegangen sind: Könnte es an Bert liegen? Sie konsultieren einen Spezialisten in Freiburg, der in den schwierigsten Fällen bereits geholfen hat, weltweit und diskret. Binnen Tagen erfahren sie die niederschmetternde Wahrheit: zeugungsunfähig. Berts Spermien sind zu schlecht, um damit Eizellen zu befruchten, und ziemlich alt ist er auch schon: Mit dem Alter nehmen Anzahl und Qualität der Spermien bekanntlich ab.

    Das haut erstmal rein. Auf der Rückfahrt sagt Bert gar nichts. Zu Hause vergräbt er sich in seine Arbeit, geht auch am Samstag in die Kläranlage, kommt abends spät heim, redet beim Essen kein Wort.

    Als sie sich wieder einigermaßen gefangen haben, sagt ausgerechnet er: Da muß man doch was tun können.

    Es vergeht noch ein Jahr mit Hormonspritzen, Temperaturmessungen, künstlichen Befruchtungen und dem pausenlosen Nachdenken über Adoption und Pflegekinder, bis Britta an einem Dezembertag die Idee hat: Samen aus dem Internet. Lieferung in der Kühlpackung, bis an die Haustür, direkt aus den USA, getestet, bewährt und sicher, Erfolg garantiert. Bert hat Bedenken, kann sich nicht entscheiden, bringt Gott ins Spiel, Tradition, Moral, Natur und Biologie, sogar Aristoteles und Kant. Britta redet ihm gut zu, zeigt ihm hundert Internetseiten, erklärt, übersetzt und überzeugt: Tausende Paare haben so ihr Glück gefunden. Alles ist völlig problemlos, einfach und absolut sicher, da wieder und wieder getestet und geprüft, auch vom TÜV. Sie zeigt ihm Bilder über Bilder: Hazel and Walter, Tallah and DeShawn, José and Debbie, alle umgeben von vielen lachenden Kindern.

    ***

    Die Idee mit der Samenbank hat eine befreiende Wirkung auf Britta. Sie kommt sich vor wie eine zu unrecht Eingesperrte, die nach Jahren im Gefängnis plötzlich freigesprochen und entlassen wird. Die Durchfälle, ihre Panikattacken, wenn sie schwangere Frauen sieht, die Migräneanfälle: alles ist auf einen Schlag weg.

    Allein das Stöbern im Internet macht unglaublichen Spaß. Die Auswahl ist riesengroß: Es gibt Dutzende Samenbanken mit hunderttausenden von Spendern, aber die Boston Cryobank hat es ihr ganz besonders angetan. Die braunen Farben, das goldene Wappen mit der lateinischen Inschrift, diese typischen Neuengland-Gebäude mit den roten Backsteinen und dem spitzen weißen Glockenturm, die alten Bäume, der Efeu, der an den Hauswänden hinaufklettert – all das strahlt Geschichte und Seriosität aus. Und da ist noch etwas: Die Boston Cryobank ist die Samenbank mit mehr Nobelpreisträgern, Hochschulprofessoren, Mathematikern und weltbekannten Künstlern und Top-Managern unter ihren Premium-Spendern als jede andere auf der Welt.

    Sie klickt sich durch zahllose Profile, bis sie an der Nr. 9.713 hängenbleibt. Sie hat sofort den Eindruck: das ist er. Wieder und wieder liest sie den Fragebogen, den der Unbekannte ausgefüllt hat:

    Südländischer Typ, dunkle Augen, schwarze Haare, sehr groß, schlank. Blutgruppe: A Positiv.

    Quantenphysiker, promoviert, Schachspieler.

    Katholisch erzogen, heute: Agnostiker, naturwissenschaftliches Weltbild.

    Sport: Langlauf, Schwimmen, Volleyball, Fahrradfahren; Triathlet.

    Englisch als Muttersprache, fließend in Deutsch. Hat mal da gelebt. Mag Rucksacktouren in den Bergen, ist gerne am Strand.

    Freundlich, abenteuerlustig. Gern mal nach Neuseeland oder Australien. Oder wieder nach Österreich, wegen der Alpen. Guter Zuhörer.

    Hobbys: Computer, Eisklettern und Motorräder.

    Lieblingsbücher: „Der Fänger im Roggen, „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten.

    Mögen Sie Tiere: Ja, Delphine.

    Essen: Pfirsicheis, Schokolade, italienisches Essen und das vom Chinesen. Lieblingsfarbe: Blaugrün.

    Fast noch besser als dieser Fragebogen gefällt Britta ein Bild des Spenders als Kind. Dieses Bild ist ein großes Farbfoto, auf dem ein Weihnachtsbaum zu sehen ist und ein Junge, der vor einem Berg von Geschenken steht und in den Blitz der Kamera strahlt. Das durchgesessene Sofa, ein Nierentisch auf Spinnenbeinen und eine abgewetzte Couch machen zwar einen ärmlichen Eindruck, aber das Gesicht des hübschen Jungen, sein von Herzen kommendes Lachen, seine schwarzen Haare und seine feinen Gesichtszüge wiegen all das mehr als auf. An den Rand des Fotos hat irgend jemand mit krakeliger Druckschrift geschrieben: Remember, you never had it so good. Hinter dem Samenspender, halbverdeckt vom Christbaum und ziemlich unscharf, ist eine zweite Person zu erkennen, ein dicker, großer Jugendlicher mit roten Haaren, Sommersprossen und einem schiefen Gesicht, auf das ein blauer Pfeil zeigt: Ron, best of friends.

    Bert mag weder das Bild noch den Fragebogen.

    „Warum denn ein Quantenphysiker?"

    „Weil die doch so intelligent sind."

    „Du hast doch in deinem Leben noch nie was mit Quantenphysik zu tun gehabt. Du weißt doch gar nicht, was das ist."

    „Er könnte ein Nobelpreisträger sein oder ein Harvard-Professor, das ist da ganz in der Nähe."

    „Mit der Wohnzimmereinrichtung?"

    „Da war er doch noch ein Kind."

    ***

    Die Samen des Spenders 9.713 kosten soviel wie ein Auto. Sie bezahlt per Kreditkarte. Zwei Wochen später bringt der UPS-Mann einen gelben Plastikcontainer, nicht größer als eine Kühltasche. Da stecken neun Glasröhrchen mit einer milchigen Flüssigkeit drin. Das sind die starken Spermien des Spenders. Über verschneite Straßen geht es nach Freiburg. Das Wunder der Zeugung neuen Lebens vollzieht sich hier gänzlich unspektakulär. Die Kapazität auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin winkt ihnen auf dem Gang nur kurz zu. Den Rest macht eine Krankenschwester. Die nimmt eines der Glasröhrchen aus dem Container, zieht den Inhalt auf eine Spritze, steckt die Spritze in einen dünnen Gummischlauch und den zwischen Brittas weit gespreizte Beine. Zehn Minuten später sind sie wieder auf der Straße drunten.

    „Dafür hätten wir nicht nach Freiburg fahren müssen", sagt Bert.

    „Ich brauch jetzt was zum Essen", sagt sie.

    Sie essen Fisch mit Kartoffelsalat. Draußen vor dem Lokal wird Britta schlecht. Im Auto kotzt sie Berts helle Ledersitze voll. Als sie wieder daheim ist, weiß sie, daß sie schwanger ist.

    ***

    Noch nie ist sie so glücklich gewesen. Ein Hauch von Seligkeit liegt über diesen Frühlingsmonaten. Alles gefällt ihr, alles macht ihr Spaß, sie versteht die ganze Welt. Bereits am ersten Tag nach ihrem Kurzurlaub ist sie wieder im Rathaus, wo sie Leuten, die sie kaum kennt, um den Hals fällt, Mitarbeiter, die ihr früher egal waren, in Gespräche verwickelt und sich beim Bürgermeister danach erkundigt, wie die Begrünung der Flachdächer im Gewerbegebiet voranschreitet.

    Sie fährt zu ihren Eltern, präsentiert ihren Bauch, nickt, als ihr Vater sagt, daß eine Laufbahn in der Verwaltung eben immer noch das Beste sei, wenn die Kinder kommen, ißt die verbrannten Schnitzel und den fetten Kartoffelsalat ihrer Mutter und schaut dann mit den beiden fünf Stunden lang in den Fernseher hinein. Vor dem Einschlafen hört sie die langgezogenen Flötentöne und die perlenden Triller einer Nachtigall, die ihr Nest in die Hecke am Waldrand gebaut hat. Sie tritt auf den Balkon hinaus, atmet die kühle Luft, die aus dem Wald herausströmt, und blickt zum Himmel hinauf, der über den Wipfeln der Fichten violett glänzt. Als sie, umhüllt von der Frische der Nacht, ihr altes Zimmer wieder betritt, bleibt ihr Blick an den Büchern ihrer Schulzeit hängen, die hier, ordentlich aufgereiht, immer noch auf dem Kiefernregal stehen, das ihr Vater vor dreißig Jahren zusammengebaut hat. Sie blättert in der Unendlichen Geschichte, in Jim Knopf, lacht, als sie die Illustrationen, die sie seit Jahren nicht mehr angeschaut hat, wieder sieht. Und dabei geht eine Welle von Freude, Zuversicht und wildem Entzücken durch ihren Körper: Irgendwann werden ihre Kinder in diesen Büchern lesen, werden Bert und sie Regale aufbauen und an Weihnachten heimlich Geschenke verpacken.

    ***

    Im Oktober kommt Max auf die Welt: drei Wochen zu spät, riesengroß und fünf Kilo schwer. Bert ist gegen den Namen, so wie er jetzt gegen alles ist. Das Kind heißt trotzdem Max. Die Geburt verläuft nicht so, wie Britta sich das vorgestellt hat. Während ihre Nachbarin im Kreissaal, genauso dick wie sie, aber zwanzig Jahre jünger, nach zwei Stunden mit etwas Rotem am Busen daliegt, geht es bei Britta da erst richtig los. Die Wehen dauern einen Tag und eine Nacht, ihr Muttermund öffnet sich nicht weit genug, sie bekommt Fieber, schreit, gurgelt, japst, bis die Geburt zum Stillstand kommt und die Herztöne des Kindes abfallen. Sie verliert das Bewußtsein, kommt wieder zu sich, hört etwas wie Notkaiserschnitt, sagt etwas, das keiner versteht, und taucht dann wieder tief in die Wogen der Lethe ein. Sie erwacht allein, vor Schwäche zitternd und mit rasendem Kopfschmerz, reißt sich den Katheder heraus und steht mit ihren Elefantenbeinen, an denen das Blut herunterrinnt, schreiend im Zimmer, bis die Schwester kommt.

    Jahre später, als sie sich eingestanden hat, daß sie Max nicht nur nicht liebt, sondern haßt, wird sie den Kaiserschnitt und ihr einsames Aufwachen nach der Geburt dafür verantwortlich machen. Wenn nur einer dagewesen wäre, als ich zu mir gekommen bin, wird sie sagen, wenn man mir das Baby sofort angelegt hätte, wenn Bert nur fünf Minuten neben mir gesessen hätte, dann hätte ich das Kind wirklich als meines akzeptieren können, dann hätte ich eine Bindung zu ihm aufbauen können, dann wäre das der glücklichste Tag meines Lebens gewesen.

    ***

    Zwei Wochen nach der Geburt ist sie mit dem Baby endlich zu Hause. Sie wickelt, füttert, putzt und organisiert den ganzen Tag, obwohl sie sich dauernd kraftlos und müde fühlt. In der Nacht muß immer sie aufstehen. Wenn Sie zu Bert sagt: schaust du mal nach ihm, führt das jedesmal zu einer Diskussion, so daß am Ende doch wieder sie aufsteht. Bert ist jetzt für zwei Kläranlagen zuständig und Mitglied im Recyclingausschuß des Landkreises, weshalb er oft auswärts übernachtet. Schlimmer noch als Einsamkeit und Übermüdung aber ist ihr schlechtes Gewissen. Zehnmal am Tag sagt sie sich, daß sie nun extrem glücklich sein müsse, und ebensooft fragt sie sich, warum sie es nicht ist. Das große, dicke Kind mit den roten Haaren und der fleckigen Haut gefällt ihr nicht. Andere haben viel schönere Kinder. Max‘ Schreien und Zappeln, die ständig vollgeschissenen Windeln, der säuerliche Geruch im Haus, das andauernde Fläschchen-Machen gehen ihr auf die Nerven. Noch nie hat sie sich monatelang so schlecht gefühlt.

    Sie sehnt sich nach dem Rathaus zurück. Die endlosen Sitzungen, der Schacher um Posten und Titel, die sinnlosen Ausschüsse, die unproduktiven Arbeitskreise – das alles kommt ihr nun wie die schönste Sache auf der Welt vor. Als sie eine Tagesmutter gefunden, ihr Büro wieder in Beschlag genommen und die erste Besprechung mit dem Bürgermeister hinter sich hat, da schießen ihr auf der Heimfahrt die Tränen in die Augen.

    Und trotzdem freut sie sich, daß sie Mutter ist. Die Menschen im Rathaus sehen sie nun anders an. Sie ist jetzt beides in einer Person: taffe Verwaltungschefin und Mutter eines Wonneproppens. Die Leute bewundern so was. Das Regionalfernsehen berichtet, Journalisten reden mit ihr, wildfremde Menschen rufen an und fragen, wie sie das alles nur schafft. Allmählich entspannt sich die Lage. Britta hat Glück mit der Tagesmutter, einer patenten Polin, die nicht nur Max komplett versorgt, sondern auch noch einkauft, kocht, wäscht und putzt.

    ***

    Im Urlaub fragt sie Bert: „Wann machen wir das zweite?"

    „Überhaupt nicht."

    „Die Spendersamen haben zwanzigtausend Euro gekostet."

    „Das ist doch kein Grund für ein zweites Kind."

    „Aber sicher."

    „Ohne mich."

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1