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Wundergirl: Roman (für Leser/innen ab 14 Jahren)
Wundergirl: Roman (für Leser/innen ab 14 Jahren)
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eBook320 Seiten4 Stunden

Wundergirl: Roman (für Leser/innen ab 14 Jahren)

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Über dieses E-Book

Minna ist zwölf Jahre alt, als sie dem Mann begegnet, der ihr kindliches Vertrauen auf eine schreckliche und brutale Weise ausnutzt. Dieser vermeintliche Freund verletzt sie nicht nur körperlich, sondern fügt dem heranwachsenden Mädchen auch eine seelische Verwundung zu, die sein Leben nachhaltig beeinflussen wird.
Viele Jahre später geschieht plötzlich ein Mord, der die ganze Stadt in Atem hält, und auch Minna ist alarmiert, denn sie kennt das Opfer aus früheren Zeiten.
Die Vergangenheit holt sie ein, zieht sie hinunter und scheint sie fest im Griff zu haben, doch Minna ist stärker, als sie denkt. Wird sie es schaffen, sich zu befreien?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum30. März 2020
ISBN9783750299320
Wundergirl: Roman (für Leser/innen ab 14 Jahren)
Autor

Meike Cuddeford

Meike Cuddeford stammt aus Leer, Ostfriesland. Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr und einer Ausbildung zur Tierarzthelferin studierte sie Tiermedizin in München und Hannover. Nach ihrer Promotion ging sie zunächst nach Edinburgh, heiratete den englischen Agrarwissenschaftler Derek Cuddeford und begann mit ihrem ersten Roman, Tweed, der in Schottland spielt. Als weitere Stationen ihres Lebens folgten Lauris in Südfrankreich und das norddeutsche Ammerland. Das Schreiben war immer ihre größte Leidenschaft.

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    Buchvorschau

    Wundergirl - Meike Cuddeford

    Kapitel 1

    Teil I

    Kapitel 1

    Samstag, 13. April 2013

    Der Regen war nicht echt. Minna Kahlert beobachtete die Wassermassen, die in unregelmäßigen Mengen auf ihren Balkon niedergingen, als sie den Fremdkörper spürte, der sie auseinander zu reißen drohte. Der Mann hinter ihr hatte es wieder getan. Er wusste, dass sie es hasste, wenn er sein Geschlechtsteil in diese Öffnung steckte. Er wusste auch, dass es ihn einen Hunderter mehr kosten würde.

    Sie konzentrierte sich auf den äußeren Schließmuskel und die Entspannungstechnik, die sie bereits als junges Mädchen eingeübt hatte, als sehr junges Mädchen.

    Das Wasser musste aus der Gießkanne ihrer Nachbarin stammen, denn es regnete nicht. Der Himmel war wolkenlos, ein lupenreines Blau, Aprilfrische.

    Der Frühling war in diesem Jahr sehr kalt gewesen. Die Zeit der Primeln und Stiefmütterchen war vorbei, ohne dass sie eine Chance zum Blühen gehabt hätten, und auch die Rückkehr der Bachstelzen und Kiebitze in die Herrenhäuser Gärten, in denen Minna jeden Winter lange Spaziergänge unternahm, hatte lange auf sich warten lassen.

    Die Gießkanne war jedoch ein sicheres Zeichen, dass die Nachtfröste besiegt waren und die warme Jahreszeit nahe bevorstand.

    Sie ertränkt ihre Geranien noch, dachte Minna, während es dem Geschäftsmann Wolf Gescharek in ihrem Enddarmausgang kam, und wie immer fühlte sie nichts als pure Verachtung.

    „Oh, Minna …"

    „Du weißt doch, dass ich das nicht ohne Ankündigung mag!" keifte sie ihn an und wand sich aus ihrer Stellung zwischen ihrem Freier und der Sessellehne.

    „Warum nicht?"

    „Weil es mir weh tut."

    Wolf zuckte mit den Achseln, während er seine erschlaffte Männlichkeit in der Unterhose verschwinden ließ, sein hellblaues Dolce & Gabbana - Hemd mit der flachen Hand glatt strich und nach seinen Schuhen und Hosen Ausschau hielt.

    „Meine Frau sagt, das sei die erogenste Zone überhaupt."

    „Warum fickst du sie dann nicht in den Arsch?"

    „Weil sie befürchtet, dass es zu Fissuren und somit zu Blutungen führen könnte, die der Ansiedlung von Bakterien und Hämorrhoiden Vorschub leisten."

    Minna hielt die Luft an. Eigentlich bewunderte sie Wolf für seinen Wortschatz und seine Fähigkeit, sich präzise auszudrücken, sogar wenn es um komplizierte Sachverhalte wie Analverkehr, Ehegattensplitting oder virtuelle Produktentwicklung ging, aber dieser Satz war wirklich der Gipfel der Geschmacklosigkeit.

    „Aha. Und was ist mit meiner Gesundheit?"

    „Berufsrisiko. Ich nehme doch an, du bist ordentlich versichert."

    Sie starrte ihn an, während er sich weiter ankleidete, folgte seinen Handgriffen mit den Augen und konnte es nicht fassen. Wie konnte ein Mensch bloß so gefühllos sein?

    „Was ist … habe ich zugenommen?" fragte er, als er ihren Blick bemerkte, doch sie schwieg und zog sich ins Bad zurück, um sich frisch zu machen und allein zu sein.

    Vor zwei Wochen hatte das Sommersemester begonnnen und was tat sie?

    Statt an die Universität zurückzukehren und ihre Zukunft in die Hand zu nehmen, schlug sie sich mit einem Menschen wie Wolf Gescharek herum, der keinen Funken Respekt vor ihr hatte und sie wie Abschaum behandelte, obwohl er es war, der seine Frau betrog - oder war es kein Betrug, wenn man dafür bezahlte?

    Kurze Zeit später trat sie ihm wieder gegenüber und zupfte ihren Rock zurecht, den sie bei seinen Besuchen meistens trug, sein Lieblingskleidungsstück, klein, schwarz und eng. Sie merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Sein Gesichtsausdruck irritierte sie, und auch die Tatsache, dass er nicht mit dem Portemonnaie in der Hand an ihrem Küchentresen, sondern mit dem Rücken zum Fenster stand, passte nicht in das übliche Verhaltensmuster. Er wartete auf sie, aber nicht ungeduldig wie sonst, sondern mit einer gewissen Anspannung, die sofort auf sie überging. Er hatte sich sogar die Mühe gemacht, ihre beiden Gläser voll zu schenken.

    „Komm, setz dich, ich muss mit dir reden!"

    „Macht zweihundertfünfzig."

    „Zum Wohl."

    Er leerte das Glas in einem Zug, obwohl es sich um einen italienischen Schaumwein mit einem beachtlichen Anteil an Kohlensäure handelte.

    „Wir mussten einige Leute entlassen, begann er, während sie nach ihrem Glas griff und seiner Aufforderung nachkam. „Den alten Köhler habe ich in Frührente geschickt, aber es mussten auch ein paar Jüngere dran glauben.

    „Warum erzählst du mir das?"

    „Tja, Minna. Schwere Zeiten."

    „Die Dinge laufen nicht immer so, wie man es sich wünscht, gerade in unserem Sektor. Wenn ich nicht aufpasse, kann ich bald Insolvenz anmelden, aber ich werde natürlich alles tun, um das zu verhindern."

    „Was hat das mit mir zu tun?"

    Er rülpste mit offenem Mund, und wie immer nahm Minna es ihm heimlich übel, dass er sein Aufstoßen in ihrer Gegenwart weder zu unterdrücken versuchte, noch sich dafür entschuldigte.

    „Nichts - vorläufig jedenfalls, aber ich werde wohl in Zukunft etwas kürzer treten müssen, Luxus über Bord werfen, wenn du verstehst, was ich meine."

    Immerhin ordnete er sie in die Kategorie Luxus ein. Seine Worte waren weniger deutlich formuliert, als sie es von ihm gewöhnt war, und drangen nur langsam zu ihrem Gehirn vor. Was versuchte er ihr zu sagen? Wollte der Mann, der eine Villa im Zooviertel, ein Ferienhaus in Nizza und einen Audi Q7 besaß, ihr etwa erklären, dass er sich das mickrige Honorar für ihre Dienste nicht mehr leisten konnte?

    „Du willst doch hoffentlich nicht sagen, dass ich dir zu teuer bin."

    „Doch, Minna. Es könnte sein, dass sich unsere Wege trennen müssen. Besonders deine Forderungen, wenn ich absage, sind völlig überzogen. In meinem Geschäft kann ich Leistungen auch nur in voller Höhe abrechnen, wenn sie tatsächlich erbracht wurden - sonst würden mir die Kunden der Reihe nach abspringen."

    Minna schluckte, während sie gleichzeitig versuchte, unbeeindruckt zu wirken. Sie verlangte von ihren vier Stammkunden, dass sie innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden vor dem vereinbarten Treffen absagten, wenn sie den Termin nicht einhalten konnten. Wer diese Regel missachtete, musste beim nächsten Besuch draufzahlen und mindestens das Standardhonorar für die entgangene Stunde berappen. Wolf hatte sich von Anfang an gegen diese Handhabung gewehrt, aber letztlich immer nachgegeben, und auch heute durfte sie sich nicht auf sein Lamentieren einlassen; er jammerte schließlich immer auf hohem Niveau.

    „Zeit ist Geld, zitierte sie einen seiner Lieblingsaussprüche und fuhr etwas milder fort: „Wenn du mich nicht rechtzeitig anrufst, hab’ ich keine andere Wahl.

    Seine graublauen Augen verengten sich zu bedrohlich aussehenden Schlitzen und fixierten sie so eindringlich, dass ihr unwohl wurde. Meinte er es diesmal wirklich ernst? Würde er die Verbindung lösen, die seit über zwei Jahren bestand? Seit sie ihn an jenem schicksalhaften Tag auf der Hannovermesse getroffen hatte, wo seine Firma ihre neuesten Entwicklungen vorstellte, war er nicht nur zu ihrem besten Kunden, sondern auch zu einer festen Größe in ihrem Leben geworden.

    Er hatte ihr damals vorgeschlagen, sich ihre Liebesdienste und Verschwiegenheit vergüten zu lassen, statt ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann einzugehen, das sie nur unglücklich machen würde; er zahlte lieber mit Geld als mit Gefühlen.

    „Ganz die Geschäftsfrau, hm? Dann musst du aber auch die Risiken abwägen und die Verluste tragen. Ich kann jedenfalls nicht immer einen Tag vorher wissen, was am nächsten Morgen ansteht oder welcher Kunde plötzlich mit einem dringenden Problem auftaucht. Diese Regel mit den vierundzwanzig Stunden ist mit meinem Business nicht zu vereinbaren und ich sehe nicht ein, mein gutes Geld für Leistungen auszugeben, die ich nicht in Anspruch genommen habe. Überleg es dir, meine Liebe."

    Mit diesen Worten ging er zum Küchentresen hinüber, stellte sein Glas ab, zupfte sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche und nahm einige Scheine heraus.

    „Zweihundertfünfzig?"

    Minna antwortete nicht, sondern nahm einen Schluck von dem eiskalten Sekt und erhob sich, um mit dem Mann auf Augenhöhe zu sein, der ihr soeben angedroht hatte, sich aus ihrem Leben zu schleichen, falls sie seine Wünsche nicht berücksichtigte. Er hatte eindeutig zuviel Macht über sie und das war ihm auch bewusst. „Also gut, sagte sie, „in deinem Fall mache ich eine Ausnahme und reduziere die vierundzwanzig Stunden um die Hälfte.

    Wolf stutzte einen Moment, um gleich darauf mit den Augen zu rollen und den Kopf zu schütteln, wie man es tat, wenn jemand etwas ausgesprochen Törichtes von sich gegeben hatte; seine Überheblichkeit war greifbar und verletzend.

    „Das ist nicht der Punkt, Minna. Wenn man - wie ich - ständig unter Dampf steht, dann braucht man nicht noch zusätzliche Termine, die einen unter Druck setzen. Es muss doch möglich sein, sich spontan zu treffen, und wenn’s dann nicht geht, dann geht’s eben nicht. Ich möchte zu dir kommen, wenn ich das Bedürfnis habe, und nicht, wenn es meinen Tagesablauf stört und mir noch zusätzlichen Stress einbringt."

    „Ich bin aber kein Schnellimbiss!"

    „Ja, das weiß ich."

    Wolf wandte den Blick von ihr ab, um seiner Resignation Ausdruck zu verleihen, und begab sich dann in den Hausflur, wo seine Jacke hing. Sie folgte ihm, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass keine Diskussion mehr möglich war, sobald er sich der Tür genähert und seinen Aufbruch beschlossen hatte. Er verabschiedete sich mit einem Kuss auf ihre Stirn, der an Unverbindlichkeit nicht zu überbieten war, und bevor sie noch etwas zum Abschied sagen konnte, war er verschwunden.

    Es war der dreiundfünfzigste Geburtstag ihrer Mutter, der sie dazu zwang, ihren silbernen Golf in Richtung Wedemark zu lenken, jene Bilderbuchregion nördlich von Hannover, in der sie fünf Jahre lang gelebt hatte. Die Ortschaft Mellendorf löste bei ihr immer noch jenes Gefühl von Geborgenheit aus, das sie als Schülerin empfunden hatte, wenn sie auf dem Heimweg vom Bahnhof durch die hübschen, von Laubbäumen und Fachwerkhöfen gesäumten Straßen gelaufen war, aber trotz der ländlichen Schönheit konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder hier zu wohnen. Sie hielt an dem Blumenladen in der Hauptstraße, in dem sie als Sechszehnjährige manchmal ausgeholfen hatte, doch die Besitzer hatten gewechselt und sie kannte niemanden mehr. Sie entschied sich für eine mit Narzissen bepflanzte Terrakottaschale, die ihrer Mutter mit ihrem ausgeprägten Mittelmeertick gut gefallen würde. Alles hatte mediterran zu sein, ob es sich um Badezimmerfliesen, Handseife oder das Muster auf den Salatschüsseln handelte - mediterran bedeutete Sonne, gut und gesund. Seit ihre Mutter Siegfried geheiratet und sich mit ihrer neuen Rolle als Arztfrau identifiziert hatte, lag ihre Bestimmung im Gesundheitswesen, das ihrem weit reichenden Bekanntenkreis am Beispiel der eigenen Familie vorgelebt wurde. Sie besaß zahlreiche Gleichgesinnte, aber heute war zum Glück nur Oma Helma da und es versprach ein schöner ruhiger Abend zu werden. Nur einer fehlte Minna, aber der fehlte immer: ihr Bruder Sören, das schwarze Schaf der Familie.

    „He, Minna!"

    Mit ihrem marineblauen Pullover, ihren weißen Hosen und ihrem wippenden Zopf sah Neele aus, als sei sie einem Katalog für Segelmode entsprungen. Ihre Augen strahlten, als sie ihrer Stiefschwester den jungen Mann in ihrem Schlepptau vorstellte, der sich in seiner Rolle als Anhängsel etwas unbehaglich zu fühlen schien.

    „Das ist David und das ist meine große Schwester Minna."

    Minna drückte dem schlaksigen Kerl die Hand und wunderte sich wie immer über die Selbstverständlichkeit, mit der Neele sie als ihre große Schwester bezeichnete, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Sie waren eine Patchworkfamilie, zu deren dunklen Flecken Minna sich zählte, während Neele mit ihrer aufblühenden Schönheit den Glanz ausmachte. Aus dem kleinen, achtjährigen Mädchen von damals, das sie immer um seine Reinheit beneidet hatte, war ein echter Hingucker geworden. Manchmal wünschte sich Minna, dass sie die Zugewandtheit ihrer kleinen Schwester erwidern und sich ihr näher fühlen könnte, aber sie wusste, dass es ihr nicht gelingen würde. Sie waren wie zwei Planeten, die auf verschiedenen Umlaufbahnen um die mütterliche Sonne kreisten und sich gegenseitig nicht berührten, Neele mit starker Anziehungskraft, sie selbst mit Hang zum Abdriften.

    „Du bist ja so nachdenklich heute, hörte sie ihre Mutter sagen, nachdem diese ihr Geschenk im Wintergarten abgestellt und die beiden Achtzehnjährigen aus der Küche verscheucht hatte. „Wie läuft es denn an der Uni?

    „Gut, danke."

    Katja Polonsky, die früher einmal Katja Kahlert geheißen hatte, war mit den Jahren etwas fülliger geworden, und die Schürze, mit der sie ihre Feiertagskleidung zu schützen versuchte, spannte über ihrem Bauch. Minna spürte, dass ihre Mutter etwas auf dem Herzen hatte, während sie das Dressing auf den Salat sprühte, aber sie brauchte stets einen gewissen Vorlauf, um mit ihrer Ältesten warm zu werden.

    „Übrigens … dein Vater ist wieder in Hannover", sagte sie schließlich.

    „Was, Papa? Ich meine, Jakobus?"

    „Ja. Er ist angeblich krank und lebt in einem Wohnheim in der List."

    „In einem Wohnheim?"

    „Ja, schwer zu glauben, nicht wahr?"

    „Und woher weißt du das?"

    „Von Tante Annemie."

    Minna fröstelte. Der Gedanke an ihren leiblichen Vater war schlimm genug, aber die Vorstellung, dass er als Sozialfall in seine Heimatstadt zurückgekehrt war und in ihrer Nähe wohnte, war kaum zu ertragen.

    Jakobus Kahlert, der Landstreicher.

    „Hat sie ihn dort besucht?"

    „Sie hat ihm sogar geholfen, dort einzuziehen, aber danach ist sie wieder zurück nach Baden-Baden gefahren. Sie müssen sich ziemlich heftig gestritten haben, weil sie nicht bereit war, ihn bei sich aufzunehmen, als er aus Spanien kam."

    „Warum ist er denn zurückgekommen?"

    „Weil er seine Freundin vergrault, keinen Pfennig mehr in der Tasche und sich zu allem Überfluss auch noch die Schwindsucht geholt hatte."

    „Er hatte Tuberkulose? Gibt es das noch?"

    „Er hat Annemie aus Malaga angerufen, wo er im Krankenhaus war. Sie hat die Transportkosten übernommen, mit Gott und der Welt telefoniert und das Wohnheim ausfindig gemacht, aber weiter reichte die Liebe nicht. Sie war völlig aufgebracht, weil das Sozialamt nicht zahlen will. Angeblich ist sie als seine Schwester verpflichtet, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen."

    „Na, und? Sie hat doch mehr Geld, als sie ausgeben kann."

    „Das ist aber noch lange kein Grund, es aus dem Fenster zu werfen, verteidigte Minnas Mutter ihre ehemalige Schwägerin. „Du weißt ja, dass Jakobus sich nie für sie interessiert, geschweige denn um sie gekümmert hat, nicht einmal, als sie zur Witwe wurde. Sie fühlt sich nicht für ihn verantwortlich und das kann ich gut verstehen, aber ich habe ihr trotzdem gesagt, dass sie euch in Ruhe lassen soll.

    „Uns?"

    „Ja, dich und deinen Bruder. Sie will euch in die Pflicht rufen, weil ihr seine Kinder seid und in Hannover wohnt. Sie würde sogar einwilligen, seinen Wohnheimplatz zu finanzieren, wenn ihr alles andere übernehmen würdet, aber ich habe ihr schon angekündigt, dass ihr von diesem Plan nicht gerade begeistert sein werdet."

    „Alles andere übernehmen? Was denn zum Beispiel?" fragte Minna und rieb sich die Arme. „Sollen wir vielleicht Mensch ärgere dich nicht mit ihm spielen?"

    „Ich glaube, sie möchte kein Ansprechpartner mehr sein, wenn es Probleme gibt. Es stört sie nicht, hin und wieder etwas Geld zu überweisen, aber die ganze Bürokratie und die persönliche Ebene möchte sie lieber jemand anderem überlassen."

    „Auf die persönliche Ebene mit meinem so genannten Vater kann ich gut verzichten", ereiferte sich Minna, während ihre Mutter einen besorgten Blick in Richtung Wohnzimmer warf, wo Neele, ihr Freund und Oma Helma die Nachrichten guckten. Es war ihr offensichtlich unangenehm, dieses Gespräch in Reichweite ihrer Schwiegermutter zu führen, und Minna beschloss, sie von dieser selbst auferlegten Bürde zu befreien und das Thema zu wechseln.

    „Mach’ dir bitte keine Sorgen, Mama. Wenn Tante Annemie anruft, werde ich ihr schon eine passende Antwort geben. Soll ich schon mal den Tisch decken?"

    Dieser Abend war für sie gelaufen. Der geschmorte Rinderbraten schmeckte fade, die Konversation langweilte sie und auch die Anwesenheit der beiden verliebten Teenager war nicht geeignet, ihre Stimmung zu heben. Als das Licht, das durch die Fenster fiel, immer fahler wurde und ihre Mutter nicht aufhörte, den jungen Mann namens David nach Strich und Faden auszufragen, fasste Minna den Entschluss, so bald wie möglich nach Hause zu fahren, statt wie geplant in ihrem alten Zimmer zu übernachten, das jetzt Gästezimmer hieß. Die Nachricht, dass ihr leiblicher Vater wieder in Hannover weilte, hatte eine Unruhe in ihr ausgelöst, die sich nicht mit Nestwärme, guter Hausmannskost oder Schlaf bekämpfen ließ, sondern nach stärkeren Maßnahmen verlangte, nach Alkohol und Alleinsein.

    Auf dem Heimweg sah sie die äußere Erscheinung des Mannes vor sich, der sich immer nur verabschiedet hatte, zum letzten Mal vor etwa fünf Jahren, als er mit seiner Freundin nach Spanien auswanderte. Die mit Strähnchen blondierten Haare, das erdbeerfarbene Jackett, die Spuren von Nikotin an seinen Fingerspitzen.

    „Nicht übel", hatte er gesagt, als sie ihm ihr Abiturzeugnis unter die Nase gehalten und darauf bestanden hatte, dass er ihr gutes Abschneiden zur Kenntnis nahm. Anschließend hatte sie sich oft gefragt, warum sie dieser Verabredung in einem Café am Kröpcke nach allem, was ihr mit diesem Mann widerfahren war, überhaupt zugestimmt hatte. Sie erinnerte sich an das Triumphgefühl, ein Zeugnis vorweisen zu können, das sie über ihn stellte, aber war es das wert gewesen? Sein Gesichtsausdruck, der Ekel verriet, weil sie die höchste Punktzahl in Mathematik erreicht hatte?

    Sein kaum unterdrückter Neid auf eine Zukunftsoption, die er sich selbst verbaut hatte? Sein Hass auf Studenten und Akademiker, seine Minderwertigkeitskomplexe gegenüber jedem, der eine Universität besucht hatte?

    Der Messeschnellweg schien ihr allein zu gehören und der Golf seinen Weg selbst zu finden. Für einen Samstagabend im Frühling waren die Straßen sehr ruhig, als hätte sich der Verkehr der inneren Leere angepasst, die Minna ergriffen hatte, seit sie in Mellendorf aufgebrochen war. Statt jedoch direkt in die Südstadt zu fahren, wo sich ihre Zweizimmerwohnung befand, begab sie sich durch Hannovers Mitte, um schließlich in jenem düsteren Viertel zu landen, das sie trotz seiner Nähe zur Universität jahrelang gemieden hatte. Sie wusste nicht, warum es sie gerade heute an diesen Ort drängte. Sie lenkte den Wagen durch enge Kurven und lang gezogene, von Autoschlangen gesäumte Häuserreihen, passierte den Supermarkt und die Kirche, fuhr durch die Hauptstraße und hielt schließlich an einer Tankstelle, um zu telefonieren. Sie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, allein nach Hause zu finden, sondern verspürte den Wunsch, mit jemandem zu reden, sich an jemanden anzulehnen, der keine Gefahr bedeutete. Dafür kamen auf der ganzen Welt nur zwei Personen in Frage, ihr Bruder und Bastian, dessen Nummer sie zuerst wählte. Sie umklammerte ihr Handy mit festem Griff, lauschte mit pochendem Herzen auf die Klingeltöne und entspannte sich erst wieder, als er sich meldete.

    Bastian war ihr jüngster Freier, und die Vereinbarung, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu treffen, widersprach allen Grundsätzen, die Minna sich seit der Aufnahme ihrer Nebentätigkeit auferlegt hatte. Die Gaststätte war erträglich, es gab Wein in winzigen Gläsern und gute Preise für die Studenten, die überall in den Nischen hockten und Minna wie farblose Wesen aus einer anderen Welt vorkamen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Bastian endlich hereinkam, dessen gutmütiges Gesicht sie sofort beruhigte. Sein Körper schien ihm immer etwas zu groß zu sein, denn vom Wesen her war er noch ein Junge, ein jungenhafter, sanfter Riese. Seine körperliche Größe war es auch, die sie während eines Kneipenbesuchs zusammengeführt hatte. Minna hatte in einem Pulk von Leuten an der Bar der „Ständigen Vertretung" gestanden und vergeblich versucht, eine Bestellung aufzugeben, bis Bastian, dessen Kopf aus der Menge herausgeragt hatte, ihr Leid erkannt und ein Glas Prosecco für sie mitbestellt hatte. Damals war er erst sechzehn gewesen und sehr unerfahren mit Frauen, doch dieser Akt der Hilfsbereitschaft hatte alles verändert. Und nun war er hier.

    Sein Gang war behäbig und täuschte Gelassenheit vor, während seine Augen die Unsicherheit verrieten, die ihn in ihre Arme getrieben hatte. Er kam auf sie zu, setzte sich neben sie und gab ihr einen schüchternen Kuss auf die Wange.

    „Was gibt’s?" fragte er.

    „Nichts Besonderes, wich Minna aus. „Ich hatte Sehnsucht nach Gesellschaft.

    Bei dem Wort Sehnsucht leuchteten seine Augen auf, deren Helligkeit bestimmt der Grund dafür war, dass sie ihn so leicht durchschaute, obwohl er gern und häufig schwindelte. Seine Anhänglichkeit war ein schwieriges Thema.

    „Schön, dass du mich vermisst."

    „Mein Vater ist wieder in Hannover."

    Bastian stutzte einen Augenblick und strich sich die Haare aus der Stirn, wie er es immer tat, wenn er um eine Antwort verlegen war. Dieser Satz verwirrte ihn anscheinend genauso wie Minna, die einfach ausgesprochen hatte, was ihr gerade auf der Seele lag. Sie sprach nur selten über ihre Familie und hatte nie erwähnt, dass es neben dem Stiefvater, der ihre Mutter geheiratet hatte, noch einen anderen Vater gab. Sie verstand selbst nicht, was in sie gefahren war, den armen Bastian mit dieser Privatangelegenheit zu belästigen.

    Er sagte zwar nichts, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er auf die Fortsetzung gespannt war.

    „Er hat uns verlassen, als ich zwölf war, erklärte sie, während sie der Bedienung, einer dürren Rothaarigen mit Ring in der Nase, durch ein Handzeichen signalisierte, dass sie noch ein Glas Weißwein wünschte. „Willst du auch eins?

    Bastian nickte. „War das, weil deine Mutter …?"

    „Nein, er selbst. Meine Mutter hätte nicht im Traum daran gedacht, sich jemand anderen zu suchen. Wie denn auch, als Hausfrau mit zwei Kindern?"

    Der Wein wurde gebracht, und als die beiden Gläser leer waren, bestellte Bastian weitere, während Minna sich an seine Schulter lehnte und seine stummen Fragen beantwortete, indem sie ihm von ihrer Kindheit, ihrer Familie und ihrem Leben erzählte, indem sie einfach nicht aufhörte, sondern immer weiter redete. Ihr war bewusst, dass ihre Vertrauensseligkeit zu Problemen führen würde, die sie jetzt noch nicht absehen konnte, aber es ging nicht anders. Sie hatte noch nie darüber gesprochen und es war geradezu grotesk, dass sie sich ausgerechnet Bastian als Zuhörer ausgewählt hatte, einen unschuldigen jungen Kerl, der gegen ihren Willen in sie verliebt war und einen hohen Preis dafür bezahlte. Er verhielt sich so ruhig und abwartend, dass sie sich im Stillen darüber wunderte und sich fragte, ob sie den Achtzehnjährigen mit seinem dichten Blondschopf und dem Engelsgesicht in der Vergangenheit unterschätzt hatte. War er tatsächlich ein guter Freund?

    Die Kneipe füllte sich mit immer mehr jungen und älteren Gästen, und bald saßen sie nicht mehr allein an ihrem Tisch, sondern inmitten einer Menschenmenge, die sie wie eine Woge aus Geräuschen und Körpern zu tragen schien, während sie sich gegenseitig festhielten, fast wie ein Liebespaar. Sie wusste, dass Bastian es genoss, ihr so nah zu sein. Sie fühlte sich schlecht, weil sie ihm falsche Hoffnungen machte, weil sie zuviel trank und zuviel quatschte. Er küsste sie gegen ihren Willen auf die Haare, auf die Ohren und sogar auf die Lippen, als er nichts mehr hören, keine Einzelheiten mehr erfahren, sondern sie nur noch anfassen, umarmen, streicheln und trösten wollte. Er hielt sie auch noch, als sie die Gaststätte verließen, als sie von Übelkeit übermannt wurde, als sie gemeinsam über die Straße wankten, die kalte Luft einatmeten und wie eine einzige Gestalt in den dunklen Gassen der Nordstadt verschwanden.

    Kapitel 2

    Solche Angst hatte sie noch nie gehabt. Es klopfte gegen die Fensterscheibe, ohne dass sie irgendjemanden erkennen konnte. Es war kurz vor Mitternacht und Elsa Schniever hatte gerade beschlossen, den Laden für heute dicht zu machen, als sie das dröhnende Geräusch hörte. Es klopfte viermal hintereinander, ganz langsam und deutlich, als wenn die Person vor dem Fenster keinen Zweifel daran lassen wollte, dass es von ihr wahrgenommen wurde.

    Es erfolgte gegen die straßenseitige Fensterscheibe, hinter der sich die Auslagen

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