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eBook287 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Ein unauffälliges Bergdorf in Frankreich, ein Geburtstagsfest, ein zu teures Geschenk und ein Verdacht. Eine simple Geste legt frei, was jahrzehntelang beschwiegen und verleugnet, aber nie vergessen wurde.

Zu Beginn scheint es ein alltägliches Familiendrama. Bernard – Mitte 60, Alkoholiker, mittellos und im Dorf verschrien – schenkt seiner Schwester Solange eine goldene Brosche zum Geburtstag. Doch woher hat er das Geld? Die Verdächtigungen schlagen in Aggression um, und Bernard seinerseits lässt seine Wut an den algerischen Nachbarn aus.

Nur sein Cousin Rabut, mit dem er Jahrzehnte zuvor in Algerien stationiert war, kennt die entsetzlichen Gründe dafür. Er teilt seine Erinnerungen an ungelebte Liebesgeschichten und an Hitze, Gewalt und Verzweiflung im felsigen Hochland, wo völlige Sinnlosigkeit und blanke Brutalität sie verstummen lassen. Es gibt keine Worte für das, was sie dort sehen und tun, für das Grauen des Krieges. Auch vierzig Jahre später nicht.

Von diesem Schweigen handelt der Roman: vom kollektiven wie innerfamiliären Schweigen. Mauvignier umkreist die historische und die individuelle Wahrheit seiner Figuren in kunstvoll geflochtenen, atemlosen Sätzen, seine Bilder sind nachdenklich und genau, seine Fragen bleiben offen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. März 2023
ISBN9783803143747
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    Buchvorschau

    Von Menschen - Laurent Mauvignier

    Ein scheinbar alltägliches Familiendrama. Bernard – Mitte 60, mittellos und im Dorf verschrien – schenkt seiner Schwester Solange eine goldene Brosche zum Geburtstag. Doch woher hat er das Geld? Der Verdacht schlägt in Aggression um, und Bernard seinerseits lässt seine Wut an den algerischen Nachbarn aus.

    Nur sein Cousin Rabut, mit dem er Jahrzehnte zuvor in Algerien stationiert war, kennt die entsetzlichen Gründe. Er teilt seine Erinnerungen an ungelebte Liebesgeschichten und an Hitze, Gewalt und Verzweiflung im felsigen Hochland, wo völlige Sinnlosigkeit und blanke Brutalität sie verstummen lassen.

    Von diesem Schweigen handelt der Roman: vom kollektiven wie innerfamiliären Schweigen. Mauvignier umkreist die historische und die individuelle Wahrheit seiner Figuren, seine Fragen bleiben offen.

    Laurent Mauvignier

    Von Menschen

    Roman

    Aus dem Französischen

    von Annette Lallemand

    Verlag Klaus Wagenbach Berlin

    Und wo hast Du Deine Wunde?

    Ich möchte gern wissen, wo sie ist,

    wo sich die geheime verwundbare Stelle versteckt hält,

    zu der jeder Mensch Zuflucht nimmt, wenn man seinen

    Stolz antastet, wenn man ihn kränkt?

    Er bläht diese Wunde – die dadurch zum Gewissen wird –

    weit auf und füllt sie aus. Jeder Mensch weiß sie zu

    ergründen bis zu dem Punkt, an dem er diese Wunde,

    eine Art verborgenes und empfindsames Herz, selbst wird.

    Jean Genet Der Seiltänzer

    NACHMITTAG

    E

    s war schon kurz vor ein Uhr mittags, und er war überrascht, dass nicht gleich alle zu ihm hinschauten, dass man sich nicht wunderte, weil auch er sich Mühe gegeben hatte und eine Jacke trug, die zu seiner Hose passte, ein weißes Hemd und eine jener Krawatten aus Skai, die vor zwanzig Jahren in Mode gekommen und in Ramschläden auch heute noch zu finden waren.

    Heute werden sie zugeben müssen, dass er nicht allzu schlecht roch. Sie werden nicht sticheln, er sei wie immer nur wegen des Essens da und habe Glück, diesmal keinen Vorwand suchen zu müssen. Zwar werden sie ihn, wie seit Jahren schon, Feu-de-Bois nennen, aber einige werden sich daran erinnern, dass er, auch wenn er verdreckt rumlief, nach Fusel stank und verwahrlost war, mit seinen 63 Jahren noch immer einen richtigen Vornamen hatte.

    Man wird sich entsinnen, dass man in Feu-de-Bois den alten Bernard wiederfinden könnte. Man wird ja hören, dass seine Schwester ihn Bernard nennt. Man wird sich erinnern, dass er nicht immer dieser Typ war, der sich von anderen aushalten lässt. Man wird ihn unauffällig beäugen, um sein Misstrauen nicht zu wecken. Natürlich hat er wie immer denselben gelbstichig grauen Haarschopf, vom Tabak und der ewigen Holzkohle, denselben struppigen und schmutzigen Schnauzbart. Und natürlich auch die kohlschwarzen Punkte auf der Nase, dieser pockennarbigen dicken Nase, rund wie ein Apfel. Und auch die blauen Augen, die rötliche und unter den Lidern aufgequollene Haut. Den stämmigen und vierschrötigen Körperbau. Aber diesmal, wenn man nur genauer hinschaute, würde man im nach hinten gestrichenen Haar die Spuren des Kamms erkennen, das Bemühen um Sauberkeit erahnen. Und sogar feststellen, dass er nicht getrunken hatte und eigentlich auch gar nicht böse aussah.

    Man hatte gesehen, dass er sein Mofa wie jeden Tag vor Patous Kneipe abgestellt und erst nach einem Schlenker die Straße überquert hatte, um hierher zu gelangen, in den Festsaal, wo seine Schwester Solange mit uns allen, ihrer Verwandtschaft, aber auch Freunden, ihren sechzigsten Geburtstag und den Beginn ihres Rentnerdaseins feierte.

    Und nicht in diesem Moment, sondern erst viel später, als alles vorbei war und man diesen Samstagmittag und den leeren Saal mit seinen Gerüchen nach kaltem Tabak und Wein und den zerrissenen und beklecksten Papiertischtüchern hinter sich gelassen hatte und der Schnee draußen auf der Betonstufe vor dem Eingang die Fußspuren der Gäste, die auf dem Nachhauseweg und daheim diesen sonderbaren Tag besprachen, längst wieder zugedeckt hatte, erst da sollte auch mir jede dieser Szenen wieder so deutlich vor Augen treten, dass ich mich nur wundern konnte, wie präzise mein Gedächtnis sie gespeichert hatte, wie gegenwärtig sie mir waren.

    Beispielsweise der Moment, als die Geschenke überreicht wurden: Da hatte ich ihn, der ein wenig abseits stand, beobachtet, wie er ständig etwas in seiner Jackentasche betastete. Diese Jacke hatte ich übrigens noch nie an ihm gesehen, aber ich kannte sie. Will sagen, dass ich ihn sie noch nie hatte tragen sehen, diese, wie man am Kragen sah, mit Wolle gefütterte Wildlederjacke. Sie war ein wenig abgewetzt, und bei längerer Betrachtung war mir der Gedanke gekommen, dass sie wohl einem der Brüder von Solange und Bernard gehört haben dürfte, der ihm für gewisse Handlangerdienste, wenn zum Beispiel ein Ster Holz in die Garage geschafft werden musste, vielleicht aber auch ohne Gegenleistung, alte Kleidungsstücke überließ, die er selbst nicht mehr trug.

    Das habe ich mir gesagt, als ich ihn betrachtete, weil er ständig die rechte Hand in der Tasche hatte und mit ihr etwas festzuhalten oder abzutasten schien; zuerst dachte ich an eine Packung Zigaretten, dann aber ging mir auf, dass es das nicht sein konnte, natürlich nicht, weil ich ja gesehen hatte, wie er sie aus der Gesäßtasche geholt und später wieder dort verstaut hatte.

    Die Gäste hatten zunehmend lauter gesprochen und gelacht, ein Lachen, das von Mund zu Mund anschwoll, während immer mehr Korken flogen und Gläser beim Zuprosten aneinanderklickten. An Solange waren Dutzende und Aberdutzende von Freunden und Bekannten vorbeidefiliert, Gesichter, so vertraut wie die auf den Fotos im verglasten Aufsatz ihrer Wohnzimmeranrichte.

    Komm, Solange, stoß mit uns an.

    Und Solange hatte mit angestoßen.

    Na los, Solange.

    Und Solange hatte gelächelt, geplaudert, und auch sie hatte laut gelacht, und dann hatte man fast vergessen, dass sie da war, weil man sie ja von Grüppchen zu Grüppchen schlendern ließ, denn es hatten sich, je nach Zuneigung und Bekanntschaftsgrad, Grüppchen gebildet, und einige gingen von einem zum anderen, während wieder andere allen aus dem Weg zu gehen trachteten.

    Ich weiß nicht, ob sie ihm absichtlich auswich, sie hatte ihn ja sozusagen einladen müssen, aber ich weiß, wie sehr sie sich vor der Begegnung mit ihm fürchtete, mehr noch als vor der mit der Chouette und deren Mann, mehr noch als vor der Anwesenheit von Jean-Jacques, Micheline und Evelyne und so mancher anderer. Speziell vor ihm, vor seiner Anwesenheit, fürchtete sie sich. Vor Feu-de-Bois. Bernard. Dieses Unbehagen hatte ich schon oft bei ihr gespürt, wenn sie sich schuldig fühlte, weil sie sich in ihrer Küche verschanzt hatte, um ihm nicht die Tür öffnen zu müssen, wenn er bis La Bassée heruntergerollt kam und nach längerem Zwischenstopp bei Patou plötzlich vor ihrem Gittertor stand und rief, er liebe seine Schwester, er wolle seine Schwester besuchen, sie müsse mit ihm reden, sie müsse, müsse, sagte er, brüllte er, fast schon bedrohlich, weil niemand kam, um ihm aufzumachen, und aus den Neubauten ringsum nur Stille und Leere widerhallten. Stille und Häuser, leer wie Höhlen, in denen seine Stimme sich verlor, immer dünner wurde und verhallte, bis er schließlich aufgab und den ganzen Weg zurück nur noch vor sich hin brummelte, bis zurück zu seinem Mofa, das ihn heimbrachte, sofern er nicht abermals einkehrte bei Patou, wo er seine Enttäuschung, wieder einmal etwas verbockt zu haben, vermutlich in einem weiteren Glas ertränkte, dem letzten, sozusagen als Wegzehrung, und sich schließlich doch von Patou überzeugen ließ, dass Solange vermutlich bei der Arbeit war, jeder muss doch schließlich arbeiten, und erst recht eine alleinstehende Frau mit Kindern, das musst du doch verstehen …

    Woraufhin er vermutlich einlenkte, ja, ja, so wird’s sein, versteh schon, meine Schwester ist ja allein, meine Schwester und die Kinder. Er senkte den Blick und lief rot an vor Empörung über so viel Ungerechtigkeit, so ein Mist, sagte er zu den anderen Gästen, zu jedem, der es hören wollte, oder, besser gesagt, zu denen, die nichts Besseres zu tun hatten, als sitzen zu bleiben und mitzuhören, anstatt ihm zuzuhören, trotz der Stimmen von Jean-Marc oder Patou, die begütigend auf ihn einredeten, ja, ja, Feu-de-Bois, schon klar, ja, Feu-de-Bois, deine Schwester, hast ja recht, Feu-de-Bois …

    Und beim Hinausgehen spuckte er wie immer nah bei der Tür und immer an derselben Stelle kräftig aus, schwankte wie immer, war kurz vorm Umfallen, fiel aber nie, hielt sich immer noch gerade, selbst wenn ihm jämmerlich, elend, sterbenselend zumute war.

    Seine Ungeduld war schuld. Seine besondere Art zu lächeln. In seinem Auftreten lag wie immer etwas Feindseliges, oder von vorneherein misstrauisch Lauerndes, wenn nicht gar, ja, das war’s wohl, eine Art Herablassung.

    Der Meinung war ich schon immer gewesen.

    Und auch jetzt, als ich ihn so sah: eher abgeschrubbt als sauber gewaschen, sodass die ganze Sauberkeit nach Anstrengung roch, nach Arbeit, nach dem verbissenen Versuch, präsentabel auszusehen.

    An diesem Mittag habe ich ihn lange betrachtet. Ich weiß nicht, warum, aber meine Augen wanderten immer wieder zu ihm hin. Er aber sah mich nicht. Ich beobachtete, wie er mit Jean-Marcel, mit Francis ein paar Worte wechselte, sah auch, wie er den Kindern zulächelte, die er nicht wiedererkannte.

    Und plötzlich hatte er sich einen Ruck gegeben.

    Ich sah, wie er sich zu voller Größe aufrichtete und jetzt nicht mehr verstohlen, sondern arglos, mit gerecktem Hals und großen Augen, Ausschau hielt. Ich konnte auch noch sehen, wie er einen Gegenstand aus der Jackentasche zog, der aber zu klein war, als dass ich ihn hätte erkennen oder etwas begreifen können. Nur flüchtig nahm ich etwas Schwarzes wahr, dessen Form von seiner Hand sofort verschlungen wurde. Die Finger schnappten gleich wieder zu. Eine geballte Faust, breit, fest und rau.

    Und dann setzte er sich in Bewegung. Und rief nach Solange. Und je näher er ihr kam, desto lauter rief er nach ihr. So lange, bis die Gäste einen Moment lang innehielten, bis jeder zu ihm hinsah und sich wunderte über diesen unvermuteten Elan, über diese unerwartete Bewegung und über sein Lächeln, über diese Energie, ich hätte eher gesagt, ihm sei plötzlich eine Erleuchtung gekommen (für einen solchen Gedanken und diese Sicht hatte ich meine Gründe), aber das war es nicht, es war die helle Freude eines sehr eigenen und verunsicherten Mannes, der gewiss nicht gerne hier war, der gewiss nicht gekommen wäre, wenn Solange ihn nicht persönlich eingeladen hätte. Ich will damit sagen, dass er einer Einladung eines seiner Brüder oder einer der anderen Schwestern nicht gefolgt wäre, keiner von denen, mit denen er nur von Zeit zu Zeit ein Wort wechselte und von denen er sich gelegentlich, selten, auch mal einladen ließ, doch nur, um sich für abgelegte Kleidung bedanken zu können, oder weil er etwas zu essen brauchte, aus Hunger, weil der Hunger ihn aus dem Haus trieb.

    Sie traten zur Seite, um ihn durchzulassen. Es brauchte eine Weile, bis das Erstaunen so groß wurde, dass das Hin und Her, die Blicke, die Sätze abbrachen. Es brauchte eine Weile, bis die Bewegungen sich verlangsamten und zum Stillstand kamen: Es brauchte etwas anderes als eine bloße Geste oder ein Lachen, ein Aufschrei war nötig.

    Kein Schrei des Entsetzens, des Erschreckens. Nein. Eine vor Verblüffung brechende Stimme, eine Vorwärtsbewegung, ein Zurückprallen. Kaum schriller als die anderen Stimmen und kaum heftiger als die allseits nur beiläufig auf ihn gerichtete Aufmerksamkeit, auf seine Bewegungen und seine Stimme, auf seine Hand, die er Solange entgegenstreckte, aber noch klang es nicht eindringlich genug, dass alle verstummten und aufhorchten.

    Einen, der etwas bemerkt, gibt es ja immer.

    Und hier war es Marie-Jeanne, die als Erste sah, weil sie direkt neben Solange stand und in dem Moment, als er den Tisch erreichte, an dem jene sich leicht abgestützt hatte – die Hand auf dem Rand der Tischplatte, flach auf dem Papiertischtuch –, sich gerade noch eines dieser köstlichen Anchovis- oder Thunfischcremetörtchen schnappen wollte und sich genötigt fühlte, einen Schritt zur Seite zu tun oder, aber das ist nebensächlich, sich umzudrehen und ihm plötzlich ins Gesicht zu sehen, und zunächst glaubte, die Hand mit diesem kleinen, nicht schwarzen, wie ich zuerst gedacht hatte, sondern tiefblauen und goldgeränderten Ding gelte ihr, es sei ein unerwartetes Geschenk, das diese mächtige, schwielige Hand ihr überreichen wollte, ein Geschenk von diesem hier nicht erwarteten, Furcht erregenden Mann, der so plötzlich vor ihr auftauchte, dass sie ohnehin aufgeschrien hätte, selbst wenn da keine Hand oder Faust und auch nicht dieses kleine nachtblaue Ding gewesen wäre.

    Ja, man muss sich diese eigenartige, dumpfe Stille vorstellen, und vielleicht fiel ja auch wieder Schnee, es war, als wäre etwas von dieser besonderen Stille verschneiter Tage in den Festsaal eingedrungen. Man hätte auch sagen können, ein Engel ging durch den Raum, aber dafür war die Zeitspanne, der Augenblick doch zu kurz. Weil Marie-Jeanne sich sofort wieder fing, den Arm ausstreckte und sich ein Häppchen einverleibte und dann schrill auflachte,

    Oh, hast du mich erschreckt!

    Ohne dass er sich vom Fleck rührte oder etwas sagte, weil sie ihn sofort weiter verhöhnte,

    Willst du mir einen Antrag machen?

    Woraufhin alle angefangen hatten zu lachen, das heißt noch nicht alle, nur die, die in unmittelbarer Nähe standen und die Szene miterlebt hatten und die nachher, als er fort war, bezeugen konnten, dass in genau diesem Moment alles schon beschlossen und besiegelt war. Weil er überhaupt nicht lachte. Er sah nur Marie-Jeanne an, ihre schillernde Perlenkette, die über ihrem üppigen Busen funkelte, das apfelgrüne Kleid mit dem im Nacken hochgestülpten Schalkragen, das gefärbte Haar mit dem mausgrau-violetten Schimmer und diesen lächelnden, jetzt laut lachenden Mund, und da war es nicht mehr an ihr, sondern an ihm, sich zu wundern und erstaunt zu sein. Aber er fing keineswegs an zu stammeln, sagte kein Wort zu ihr, die da lachend vor ihm stand und, Zustimmung heischend, in die Runde blickte, vor allem zu Jean-Claude, ihrem Mann, der näher gekommen war, weil er seine Frau gehört hatte, und nun mitlachte, den Schelm spielen wollte, sich für amüsant hielt, als er sich plötzlich brüstete und beinahe verwegen rief,

    Sieh dich vor, Kumpel, ich hab ein Auge auf dich.

    Und als hinter ihm der eine oder andere mit einstimmte,

    He, Feu-de-Bois, ein echter Draufgänger!

    Was für ein Playboy, dieser Feu-de-Bois!,

    da wiederholte Jean-Claude:

    Sieh dich vor, Kumpel, ich hab ein Auge auf dich.

    Und er lachte keineswegs, als er Jean-Claude ansah, das Gelächter hörte und sich wieder Marie-Jeanne zuwandte, deren Gekicher ein paar Thunfischtörtchenkrümel auf dem Apfelgrün des Kleides zum Hüpfen brachte.

    Es war nur eine abrupte, kaum merkliche Bewegung, mit der er den Mund schloss und sich unter dem dichten, gelbstichig grauen Schnauzbart womöglich auch auf die Lippe biss. Aber sicher ist das nicht. Es bleibt unklar. Denn sein Gesicht war wie eine rote und aufgedunsene Maske, aus der verschwommen, wie von Regenwasser grau umflort, zwei blaue Augen stierten; und dieser Flor, das waren keine Tränen, das war nichts, denn Feu-de-Bois selbst war nichts anderes mehr als kompaktes Schweigen. In dem Moment, als seine Hand erneut das nachtblaue Ding umschloss, hatte er sich ganz in sich zurückgezogen.

    Solange kam hinzu.

    Das heißt, ich irre mich, sie hat sich nur zu ihm umgedreht. Ja, so war’s. Sie stand ja dabei, weil sie direkt neben ihnen stand. Sie brauchte sich also nur umzudrehen. Die Hand vom Tischtuch zu lösen und wegzuziehen. Sich umzuwenden. Eine kleine Drehung, und da sah sie den Bruder plötzlich vor sich.

    Sie ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie etwas sagte. Weil sie ja nicht sofort begriffen hatte, dass er speziell auf sie zugekommen war, um ihr jetzt sein Päckchen zu überreichen, lange nach all den anderen. Als ob er, na klar, selbstverständlich, sich nicht zu benehmen hätte wie alle anderen. Mit denen er ja nichts zu schaffen hatte. Aber vielleicht unterstelle ich ihm da Hintergedanken, die er gar nicht hatte. Weil er diesmal nicht so herablassend wirkte, nicht überheblich, nicht wie üblich den verarmten, aber abgeklärten Aristokraten mimte. Er hatte seiner Schwester vielleicht nur auf intimere und weniger feierliche Art und nicht vor aller Augen und ohne die zu erwartenden Kommentare sein Geschenk überreichen wollen. Weil er sich gedacht und gesagt haben dürfte – womit er recht hatte –, dass die Gäste sein Geschenk aufmerksamer betrachten würden als jedes andere, zumal, und das stimmte ja, erst einige und dann alle sich fragen mussten, was ein Habenichts wohl zu verschenken haben könnte.

    Lange mussten sie nicht warten.

    Alles Gute zum Geburtstag, sagte er, und dann kam schon die linke Hand, die wurstigen, rosigen und rauen Finger, klobig, aber auch wund, strapaziert von der Kälte und den Arbeiten, die er immer ohne Handschuhe ausführte, diese Linke also, die er Solange hinhielt, um deren Hand zu fassen und sie zu seiner Rechten zu führen. Als sollte niemand etwas sehen.

    Und jetzt wünschte er ihr nochmals alles Gute, aber mit einem Lächeln und mit so schwacher und zittriger Stimme, dass niemand seine Worte wirklich hören, sondern höchstens erahnen konnte bei all dem Gerede im Hintergrund, dem Lärm der spielenden und herumtollenden Kinder und dem Geschnatter der drei fröstelnden Alten, die auf grauen Plastikstühlen dicht neben dem Heizkörper saßen. Dann diese Stille und das allgemeine Erstaunen, als Solange den Blick auf das Schächtelchen senkte, das sich allein schon durch sein Format identifizieren ließ und zudem in goldenen Lettern den Namen der Familie Buchet, Uhren- und Schmuckhersteller seit zwei Generationen, verriet.

    Sie sah den Bruder an, wagte aber nicht, das Etui zu öffnen. Erst einmal ließ sie ein ungläubiges Staunen sich auf ihrem Gesicht ausbreiten, sich über jeden ihrer Gesichtszüge legen und sich nach und nach ganz tief dort einprägen. Und ab und zu versuchte sie zu lächeln (es war fast schon ein Lachen, sogar dann, wenn sie zu den anderen hinschaute, zu denen, die dicht neben ihr oder etwas weiter entfernt standen, so wie ich, hinter einem Grüppchen von Menschen, die sich jede Regung, jedes Wort versagten und plötzlich, wie gebannt, mit Glas oder Zigarette in der Hand dastanden, als hätten sie beides vergessen).

    Nun mach’s schon auf, Solange.

    Ich glaube, das war der Moment, in dem ihr klar wurde, was alles hatte geschehen müssen, bis es so weit gekommen war, dass sie sein Schmucketui – natürlich war darin ein Schmuckstück – in der Hand hielt und nicht zu öffnen wagte, nicht, weil sie nicht abschätzen konnte, was es enthielt, sondern welche Folgen das alles haben würde, die Zweifel, die Risiken, die Angst, die schon da war, da bin ich mir ganz sicher, man brauchte ja nur zu hören, zu sehen, zu beobachten, wie porös und dicht zugleich das Schweigen war, das im Festsaal den Rauch und den Atem der Gäste durchdrang.

    Er hingegen dürfte sich nur gefragt haben, ob sein Geschenk ihr auch gefallen würde. Und bei dieser Frage dürfte sein Herz geklopft, wie wild geschlagen haben, allein schon bei dieser Frage, während man sich ringsherum bereits darüber zu wundern und zu empören begann, dass man so lange auf die Folter gespannt wurde, und sich insgeheim sagte, sich fragte, ich träume wohl, ein Schmuckstück, ein Juwel, er kann ihr doch keinen Schmuck schenken, wie kann so einer Schmuck schenken, sie muss das Etui öffnen, muss hineinschauen, aber sie will es nicht, weil sie ja weiß, weil sie schon weiß, was sie auf dem blauen Samt finden wird, und auch weiß, dass sie ihre Angst und die Frage, die alle außer ihm umtreibt, unterdrücken muss, während das, was er fragen möchte, schon jetzt keinen Sinn mehr macht,

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    Die Frage lag ihm schon auf der Zunge, drehte und wendete sich im Mund, wollte gemurmelt oder als Bitte hinaus, aber bislang war sie nichts weiter als gespannte Erwartung, die sich in ihre Augen senkte, wo er bald schon Erschrecken und Verständnislosigkeit finden würde. Sie zögerte. Tat alles, um die Zeit aufzuhalten. Um zurückzuweichen. Nicht öffnen. Nicht hineinschauen, ihm und allen Umstehenden nur zulächeln. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Holte tief Luft. Versuchte sich an Satzfetzen, an unbeholfenen Dankesworten, die sich aber nicht an ihn, den Bruder, sondern an alle richteten. Weil ja alle erwarteten, dass sie etwas sagte, dass sie endlich aufhörte mit ihrem Lächeln und den nichtssagenden hohlen Phrasen,

    Das war doch nicht nötig, Bernard, ich, ich fasse es nicht.

    Und ihr Gesicht, das immer blasser wurde, ihre helle Haut unter dem Make-up, fast schon aschfahl, als entglitten ihr Blut und Leben und Gedanken und jede Fähigkeit, ihm die Stirn zu bieten, als lösten sie sich in Luft auf oder wichen zurück in die verborgenen Winkel ihres Innersten.

    Nun mach’s schon auf, Solange.

    Tja. Ja, ja, natürlich. Ja klar werd ich’s aufmachen, ich muss es ja erst aufmachen, wie dumm von mir. Ein echter Witzbold, unser Bernard, was? Er hat sie nicht mehr alle, oder? Völlig übergeschnappt, hab ich nicht recht? So was. Ich. Ich.

    Und als sie das Etui öffnete und die Brosche zum Vorschein kam, geriet etwas in ihrem Blick ins Straucheln.

    Eine große goldene Brosche. Blank poliertes Gold, diamantbesetzt und gehöht mit einem Blumenmotiv aus Perlmutt.

    Ich hab gezögert zwischen ihr und einem Skarabäus, der mir auch gut gefiel, sagte er, wie um sich schon im Voraus zu entschuldigen oder seine Entscheidung zu erklären. Da du ja Broschen magst, dachte ich, sie würde dir gefallen.

    Sie antwortete mit einem Kopfnicken, und in ihren Gesichtszügen lag etwas Überstürztes, beinahe Panisches.

    Und man sah deutlich, wie ihr in die Runde schweifender Blick nach etwas wie Hilfe, Energie, nach Kraft zu einer Antwort, einer Ausflucht suchte, aber um sie herum machte sich auf allen

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