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Parallels
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eBook345 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

Als Shane eines Morgens aufwacht, ist seine Erinnerung ein leeres Blatt. Nur eines weiß er mit Sicherheit: er muss fort. In einem übergroßen Oldsmobile macht er sich auf eine Reise quer durch den Kontinent. Was als unspektakuläre Fahrt beginnt, gerät in Begleitung der quirligen Dorothy zu einer psychedelischen Odyssee, in deren Verlauf das ungleiche Pärchen auf religiöse Fanatiker trifft, eine Kellnerin rettet und eine sehr spezielle Art von Schulbusbewohner kennen lernt. Im Verlauf einer nächtlichen Kunstperformance wird klar, dass es nicht Shane ist, der die Kontrolle über sein Schicksal hat.

Gleichzeitig handelt Parallels von den Erlebnissen des Ich-Erzählers, ein hypersensibler Mittzwanziger auf der Suche nach einem möglichst eintönigen Job. Als Hilfskraft im Kopierraum seines ehemaligen Colleges erlebt er das Glück der Monotonie - bis zu dem Tag, an dem die Begegnung mit einem Mädchen die gefürchtete Veränderung bringt. Es kommt zu einem ungewöhnlichen Rendezvous.

Beide Handlungsstränge verflechten sich im Lauf des Romans mehr und mehr zu einem engmaschigen Handlungsnetz, das die Charaktere so gefangen nimmt wie den Leser.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum20. Mai 2020
ISBN9783750237810
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    Buchvorschau

    Parallels - Sven Hauth

    – 1 –

    PARALLELS

    Sven Hauth

    Parallels

    Copyright © 2011 by Sven Hauth

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne Zustimmung des Autors in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Sämtliche Personen, Orte und Geschehnisse in dieser Geschichte sind frei erfunden.

    Shane erwachte vor dem Morgengrauen. Für einen Moment lockerten die Dämonen der Nacht ihre Umklammerung und erlaubten einen diffusen Dämmerzustand. Seine Gedanken waren das Einzige, was sich bewegte. So musste es sich anfühlen, wenn man gerade aus einem langjährigen Koma erwacht war. Tiefstes Schwarz umgab ihn. Er horchte, fühlte, roch. Doch das Einzige, was seine Sinne erreichte, war das Gemurmel entfernter Stimmen. Noch bevor er ihre Quelle lokalisieren konnte, war er bereits wieder eingeschlafen.

    Als er das zweite Mal aufwachte, zwängte sich frühes Tageslicht durch die halbgeschlossenen Jalousien und projizierte ein Muster aus staubigen Horizontalen auf die Wand seines Schlafzimmers.

    Hartnäckige Überbleibsel eines lebhaften Traumes führten hinter seinen halb geschlossenen Lidern einen stroboskopartigen Tanz auf. Es waren die Bilder eines Ozeans. Angenehm schwerelos trieb Shane auf seiner endlosen Fläche. Meterhohe Brecher türmten sich über ihn auf und brachen zusammen, doch die Wassermassen konnten ihm nichts anhaben. Er tauchte einfach ab, lieferte sich einer türkisfarbigen Welt aus, die warme Geborgenheit gab und keinen Sauerstoff verlangte. Dann öffnete er die Augen, und die Bilder entglitten ihm.

    Es waren letztendlich die Reste dieses Traumes, die Shane nach langer Zeit wieder aufstehen ließen.

    Die ersten unsicheren Schritte führten ihn in das Wohnzimmer. Benommen sah er sich um, ein Fremder in seinem eigenen Apartment.

    Auf der Fensterbank raschelte eine traurige Reihe Topfpflanzen. Fast ausnahmslos waren sie vertrocknet, ein einzelner Kaktus das einzige überlebende Exemplar in diesem Garten der Vernachlässigung.

    Gegenüber dem Fenster stand auf dem Boden ein veraltetes Fernsehgerät. Jemand – er selbst? – musste vergessen haben, es auszuschalten.

    Wie lange hatte er geschlafen? Nach und nach kehrten Erinnerungen zurück, doch es waren wenig mehr als zusammenhanglose Bruchstücke. Die Vergangenheit war ein scheues Tier, das sich der direkten Beobachtung entzog. Es blieb ein blinder Fleck, etwas, das sich in Regionen seines Unterbewusstseins verborgen hielt, auf die er keinen Zugriff hatte.

    Auf dem Bildschirm erschien die Nahaufnahme eines Mannes in schwarzer Robe, der hinter einem Pult auf einem hochlehnigen Lederstuhl saß. Es folgte ein Schnitt auf eine Gruppe von circa zehn weniger wichtig aussehenden Menschen. Einer von ihnen stand auf und las etwas von einem Blatt Papier. Eine Gerichtsverhandlung. Die fehlende Farbe der Bilder ließ sie wie aus einer anderen Zeit wirken.

    Shane riss seinen Blick von den flackernden Aufnahmen los. Momentan war es besser, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Über dem Fernseher war ein mager bestücktes Bücherregal angebracht. Auch hier fand er nur halbe Erinnerungen. Die Namen der Autoren – Thompson, King, Baum, Fowles, Carroll – waren ihm entfernt vertraut. Mehr nicht.

    Er betrat die Küche. Erblickte den gefüllten Wasserkessel. Daneben die gefaltete Filtertüte. Und wusste, was zu tun war.

    Alles war bereits vorbereitet worden, an einem anderen Tag. Einladend stand der glänzende Kessel vor ihm. Er musste nur noch die Herdplatte anstellen.

    Die Idee kam ihm, während er auf das Sprudeln des Wassers wartete. Eben noch roh und abstrakt, wie die meisten guten Ideen ihren Anfang nehmen, formte sie sich nun zu konkreter Gestalt. Die Vergangenheit mochte ein unscharfer Ort sein, doch die Zukunft lag in beruhigender Deutlichkeit vor ihm.

    Das schrille Pfeifen des Kessels unterbrach den Gedankengang. Shane goss kochendes Wasser in den Filter und sah zu, wie es von dort als dampfender brauner Saft in den Becher tropfte. Vorsichtig pustend trieb er eine Gruppe kleiner Luftblasen an den Rand. Die Idee verwandelte sich soeben zu einem festen Entschluss.

    Er würde eine Reise unternehmen. Einen langen Trip, der ihn an den Ozean aus seinem Traum führen würde. An einen weit entfernten Ort, der sich weniger fremd anfühlte. Momentan konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, was er hoffte, dort zu finden. Oder ob er überhaupt etwas finden würde. Es war, als ob er einem starken Instinkt folgte, dem befriedigenden Gefühl, das Richtige zu tun. Und das war gut genug.

    Die letzte Luftblase zerplatzte in winzige Spritzer und hinterließ eine ebenmäßig schwarze Oberfläche. Kurz bevor Shane den ersten Schluck nahm, sah er im dunklen Spiegel die eigenartig verzerrten Konturen seines Gesichts. Die Flüssigkeit berührte seine Zungenspitze. Es schmeckte viel zu bitter. Kurz zögerte er, bereute fast. Dann war der Becher geleert und der unangenehme Geschmack etwas Neuem gewichen.

    Die Reise hatte bereits begonnen.

    – 2 –

    Ich starrte auf einen visuellen Alptraum.

    Ein Kaleidoskop aus Papier. Bunte Zettel, knittrige Blätter, lieblos aus Heften ausgerissene Seiten und schlecht haftende Post–it–Notes, welche die ursprüngliche Korktextur nur noch fleckenhaft erkennen ließen. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie achtlos aufgespießt, drängelten dicht an dicht in schlampigen Winkeln, schnitten und überlappten sich ohne irgendeine erkennbare Logik. Aus Platzmangel waren einige auf den Holzrand der Tafel ausgewichen oder dreist über ältere Anzeigen gepinnt.

    Jedes Blatt bemühte sich auf eigene Art, seine Nachbarn im harten Wettbewerb um die Aufmerksamkeit des Betrachters zu übertrumpfen. Die meisten von ihnen versuchten es über die Farbe. Vom grellen Pink über Zitronengelb bis Mintgrün waren sämtliche Scheußlichkeiten vertreten, nur hin und wieder kontrastiert von politisch korrektem Umweltpapier im faserigen Recyclinggrau. Dieses glich seine schlichte Erscheinung dafür mit extragroßer Typografie oder ungewöhnlichen Formen aus, wie das zu einer Herzform geschnittene Papier, das für eine „liebevolle Hundebetreuung" warb.

    So unterschiedlich sich die Blätter selbst präsentierten, so waren es auch die Spielarten ihrer Befestigung. Erwartungsgemäß dominierten Heftzwecken und Reißnägel, deren Köpfe sich auf der limitierten Fläche ebenfalls in jedem denkbaren und undenkbaren Farbton versammelt hatten. Dicht gefolgt wurden sie von der Gruppe der Klebestreifen, die auf dem grobkörnigen Untergrund zwar weniger Halt boten, dies aber entweder durch paarweises Auftreten an der Ober– und Unterkante, oder gleich – sicher ist sicher – vierfach diagonal auf alle Ecken des Papiers verteilt wettmachten. Um das Chaos zu komplettieren, waren die meisten Blätter am unteren Rand durch Einschnitte verstümmelt worden, abreißbare Streifen mit Telefonnummern, die sich dem Betrachter entgegenbogen wie ungekämmte Papierbärte. Im Allgemeinen schien hier die Regel zu gelten: Je ungehemmter das Auftreten des Papiers, desto fragwürdiger sein Inhalt.

    Ein besonders penetrantes, signalrotes Quadrat fragte in silbrig glänzender Schrift, ob man nicht mit Samenspenden reich werden wollte. Flankiert wurde es von marktschreierischen Vorschlägen wie „3000 $ in Ihrer Freizeit verdienen!!" und ähnlichen Botschaften, von denen einige in der großen Menge der unablässig vorbeilaufenden Studenten mit Sicherheit willige Opfer finden würden.

    Schwindlig von dem Anblick schloss ich die Augen. Dies würde keine leichte Aufgabe werden. Auf fatale Weise fühlte ich mich an meinen letzten Arbeitsplatz erinnert.

    Es war gerade einen Monat her gewesen, dass ich mich das erste Mal auf die Suche nach einer monotonen Tätigkeit gemacht hatte. In den wirtschaftlich miserablen Zeiten, die gerade herrschten, war ein abgebrochenes Studium nicht gerade die beste Voraussetzung, einen Job zu finden. Geschweige denn eine Arbeit, die meinen speziellen Bedürfnissen genügte.

    Ohne große Erwartungen verbrachte ich die Adventszeit damit, die Stellenmärkte der Tageszeitungen zu durchforsten. Doch das Glück war auf meiner Seite. Schon nach wenigen Tagen stieß ich auf eine Anzeige, die mein Interesse weckte. Gesucht wurden Hilfskräfte für die Nachtschicht in einem bekannten Fotolabor. Mit Nachtarbeit hatte ich keine Probleme, da ich ohnehin schlecht schlief. Die Bezahlung schien angemessen, und die Arbeit in einem Fotolabor stellte ich mir angenehm eintönig vor. Ich vereinbarte einen Vorstellungstermin. Nach einem fünfminütigen Bewerbungsgespräch war ich eingestellt.

    Ausgestattet mit einem kreditkartenähnlichen Zugangsausweis, den man bei Arbeitsanfang und –ende durch die moderne Version einer Stechuhr ziehen musste (langjährige Mitarbeiter erkannte man daran, dass sie dies auf betont beiläufige Art im Vorbeigehen erledigten), betrat ich in meiner ersten Arbeitsnacht das turnhallengroße Gebäude.

    Begrüßt wurde ich von brennendem Chemikaliengestank, ohrenbetäubendem Lärm und einer schlaksigen Gestalt mit ausgedünntem Blondhaar, die bei meinem Anblick eilig herbeistakste und sich als Schichtleiter vorstellte. Seiner Hautfarbe nach hatte er schon seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen. Er schien sichtlich erfreut, mit mir Verstärkung bekommen zu haben. Ich folgte ihm auf einer Einführungsrunde durch das Labyrinth des Labors.

    Die Halle war gefüllt mit einer unüberschaubaren Vielfalt von Maschinen, alle verbunden durch ein sich endlos durch den Raum windendes Band aus ungeschnittenem Fotopapier. Die meisten von ihnen schienen vollständig autonom zu arbeiten. An anderen saßen weiß behandschuhte Arbeiter und führten irgendwelche undefinierbaren Prozeduren an der Fotoschlange durch.

    Wir begegneten anderen Menschen. Ähnlich meinem Anführer hatten zu viele Nachtschichten ihnen die Farbe aus den Gesichtern getrieben. Mit der Gleichmut lebender Toter erledigten sie ihre Arbeit – schoben mit Fototüten gefüllte Wagen, schraubten an einer der erwähnten Maschinen oder schlurften ohne erkennbare Aufgabe durch die Hallen. Und das – nach ihrer Ähnlichkeit mit dem Schichtleiter zu urteilen – wahrscheinlich seit einem halben Leben. Mein gegen den Lärm anredender Anführer tat sein bestes, mir Sinn und Zweck der verschiedenen Stationen zu erklären. Doch die Vielzahl neuer Sinneseindrücke machte eine Konzentration auf das, was er sagte, so gut wie unmöglich.

    Schließlich beendeten wir unsere Runde und ich wurde an meinen eigentlichen Arbeitsplatz herangeführt, etwas Abseits von Lärm und Gestank. Dieser bestand aus einem schräg gestellten Tisch, über den die omnipräsente Fotoschlange lief. Unter dem Tisch befand sich eine Art Bremspedal, mit dem man das Bilderband kurzzeitig anhalten konnte. Lang genug, um eventuell fehlerhafte Bilder mit einem dicken Fettstift zu markieren, damit sie später von einer Maschine automatisch aussortiert wurden.

    Entsprechend der Definition meines geduldigen Einweisers galt ein Bild dann als fehlerhaft, wenn es beispielsweise komplett unscharf war oder nur Schwärze zeigte, man also nichts Gegenständliches mehr darauf erkennen konnte. Mit einem gut gemeinten Schulterklopfen ließ er mich allein.

    Mit dem Fettstift in der Hand und einem flauen Gefühl in der Magengegend kletterte ich auf einen Hocker, der aussah, als hätten bereits ganze Generationen von Nachtarbeitern darauf fehlerhafte Fotos markiert. Vor mir eilte das endlose Fotoband von rechts nach links, ein einziger verwischter Streifen. Probeweise trat ich auf das Pedal. Die Bilder stoppten augenblicklich und gaben ihre Inhalte preis. Offensichtlich war der Fotograf ein Tiefseetaucher. Ich blickte auf üppige Korallenlandschaften, ein muschelbewachsenes Schiffswrack und Nahaufnahmen von exotischen Fischen. Eine Welt, die in einem surrealen Gegensatz zu dem mich real umgebenden nächtlichen Fotolabor stand. Ohne Zweifel handelte es sich hier nicht um fehlerhafte Bilder. Mein Fuß löste sich vom Pedal und das Band nahm wieder Geschwindigkeit auf. Kurze Zeit später entdeckte ich inmitten der verschwommenen Farben einen hellen Fleck. Gerade noch rechtzeitig schaffte ich den Tritt aufs Pedal, das Bild war schon fast über der Tischkante verschwunden.

    Das betreffende Foto war nicht völlig weiß, wie ich zu Anfang geglaubt hatte, sondern von einem blassen Gelb. Zudem liefen zwei dunkle Haarlinien diagonal über das Bild. War dies ein „fehlerhaftes Bild"? Oder handelte es sich um Absicht? Ein experimentelles Fotoprojekt? Zeitgenössische Kunst? Unsicher sah ich mich um. Der Schichtleiter war nicht zu sehen, in meiner näheren Umgebung gab es nur Maschinen. Ich entschied mich dafür, das Foto nicht zu markieren. Die Linien wirkten zu gewollt, um das Ergebnis eines technischen Missgeschicks zu sein.

    Das Band lief an, erneut begab ich mich auf Fehlersuche. Meine Augen versuchten, Schritt zu halten. War der graue Fleck eben ein fehlerhaftes Bild gewesen? Oder nur auf mein Blinzeln zurückzuführen? Mir kam es so vor, als ob das Bildband allmählich immer schneller vorbeiraste. Auch hatte es seine ursprüngliche Horizontale verlassen und lief nun in einem leichten Winkel über die Tischplatte.

    Vielleicht lag es an dieser Schräglage, vielleicht auch an dem beißenden Gestank, der sich so hartnäckig in meiner Nase festsetzte wie der Krach der Maschinen in meinen Ohren. Doch wahrscheinlich war eine Kombination aus allem der Grund, dass ich irgendwann auf dem Fußboden neben dem Hocker zu mir kam. Über mir schwebte das knochige Gesicht des Schichtleiters.

    „Ist schon okay, sagte sein Mund, „Am ersten Tag kommen viele nicht damit klar. Wir setzen dich woanders ein, kein Problem.

    „Schon wieder so ein Weichei, sagte sein Blick, „Jetzt bleibt die Arbeit wieder an mir hängen.

    Nach diesem unschönen Ereignis wurde ich an den Anfang der Bilderkette zurückversetzt. Diesmal war der Tisch größer. Statt einer Bilderschlange türmte sich in seiner Mitte ein Berg aus Fototüten. Aufgabe war es, die Tüten zu öffnen und den Inhalt – in den meisten Fällen eine Filmrolle, seltener eine komplette Einwegkamera – passend zur Tütenbeschriftung in eine entsprechende Plastikkiste einzusortieren.

    Die neue Arbeit erwies sich als wahrer Segen. Ich genoss die Gesellschaft von drei freundlichen Kollegen, allesamt Studenten, die ebenfalls auf die Anzeige geantwortet hatten. Gemeinsam verbrachten wir die folgenden Nächte an dem runden Tisch, eine lockere Gruppe Pokerspieler, die statt Karten Tüten sortierte. Zu Anfang hatte ich Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Kundenwünsche nach Format, Bildoberfläche und diversen Sonderwünschen korrekt einzuordnen. Doch schon zwei Nächte später war ich selber zur Maschine geworden. Ein flüchtiger Blick auf die immer gleichen Ankreuzfelder auf der Tüte genügte. Im Zehn–Sekunden–Takt zog ich Filmdosen aus Tüten und warf sie lässig an ihre Bestimmungsorte. Der Schichtleiter war zufrieden, meine innere Ordnung wiederhergestellt.

    Der Segen hielt genau zwei Wochen, bis zum Ende der Weihnachtssaison. Für das Fotolabor bedeutete das weniger Arbeit. Für mich eine beunruhigende Erkenntnis: Ich musste mich nach einen neuen Job umsehen.

    So kam es, dass ich wieder zurück zu den Ursprüngen gekehrt war: in mein ehemaliges College. Hergeführt hatte mich die Erinnerung an das „Job Board", die Pinnwand, vor deren Anblick ich nun die Augen verschlossen hatte.

    Sie war berüchtigt dafür, dass an ihr neben einer Unzahl unsinniger Werbebotschaften ebenso viele mehr oder weniger unsinnige Arbeitsangebote aushingen. Da die Zielgruppe zu 100 % aus Studenten bestand, handelte es sich bei den meisten von ihnen um Beschäftigungen, die keinen großen Reichtum versprachen, dafür aber auch keine besonderen Qualifikationen erforderten. Ergo war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um erfrischend monotone Tätigkeiten handeln würde. Das Schwindelgefühl ebbte ab. Ich öffnete die Augen und ruhte sie auf der Leere der beige gestrichenen Wand aus.

    Nur dass diese nicht leer war.

    Ein schlichtes Blatt Kopierpapier hatte sich neben die Pinnwand verirrt. Drei Zeilen Text in zurückhaltender Größe, sorgsam zentriert auf 300 Quadratzentimeter Blütenweiß. Ein Augenschmaus, befestigt mit einem einzigen Streifen Tesafilm. In die linke obere Ecke war das Collegelogo gedruckt, das dem Papier etwas würdevoll Offizielles verlieh. Ansonsten bestach die Anzeige durch auffällige Unauffälligkeit. Meine Augen blieben an dem Papier hängen, dankbar für die Erholung.

    Ich las.

    Aushilfe gesucht

    Abteilung Textverarbeitung

    Raum 5–205

    Weiter nichts.

    Textverarbeitung, überlegte ich und stierte auf das Blatt Papier, als würde es dadurch zusätzliche Informationen liefern. Könnte angenehm sein. Schon sah ich mich an einem Computer sitzen, neben mir ein nicht endender Berg von Daten, der in die immer gleichen Felder eingetragen werden musste.

    Aus meiner Studienzeit war mir das Nummerierungssystem der Collegeräume gut in Erinnerung geblieben. Die erste Ziffer bezog sich auf das Gebäude, die zweite auf das Stockwerk. Gebäude 5 war nicht weit entfernt, es begann direkt am Ende des Ganges. Und im zweiten Stockwerk befand ich mich bereits. Die Abteilung Textverarbeitung musste buchstäblich um die Ecke liegen. Ich riss den Zettel von der Wand und ging meiner neuen Aufgabe entgegen.

    – 3 –

    Jede Reise benötigt ein Transportmittel. Shanes Zeigefinger fuhr durch die Bleiwüste der Kleinanzeigen und zog eine Bremsspur aus Druckerschwärze hinter sich her. Bei den Worten „Kombi" kam er zum stehen.

    Die Tageszeitung hatte aufgeschlagen auf dem Küchentisch gelegen. Einen langen Moment hatte Shane sie angestarrt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Dann gewann Pragmatik die Oberhand. Er zog den Gebrauchtwagenteil aus dem Papierstapel und breitete ihn vor sich aus. Unter den unzähligen Angeboten würde er sicher etwas Passendes finden.

    Seine Anforderungsliste an ’etwas Passendes’ war kurz – sie beschränkte sich auf zwei wichtige Punkte. Beide reduzierten die Zahl der in Frage kommenden Fahrzeuge allerdings deutlich.

    Punkt eins: Es durfte nicht viel kosten. „Nicht viel" bedeutete in seinem Fall maximal 1000 $. Für dieses Geld erwartete er keine Schönheit, aber mindestens einen Zustand, der das Auto eine längere Strecke ohne große Aussetzer überleben ließ. Insgesamt standen ihm knapp 1500 $ zur Verfügung – eine Summe, die er sich mühsam von seinen letzten beiden schlecht bezahlten Jobs abgespart hatte. So blieben ihm immer noch 500 $ für Motelübernachtungen, Benzin, Essen und die mit Sicherheit auftretenden unerwarteten Ereignisse entlang des Weges. Falls das Geld ihm vorzeitig ausging, würde er im Auto übernachten. Deshalb – Punkt zwei – musste es geräumig genug sein, um eine Schlafmöglichkeit zu bieten. Vielleicht ein Van oder Ähnliches.

    Die Angebote waren nach ihren Verkaufspreis in Spalten geordnet. Unglücklicherweise bewegte sich der überwiegende Teil der Anzeigen in preislich inakzeptablen Regionen. Für Angebote bis 1000 $ war die Auswahl bereits wesentlich begrenzter. Shane zählte zwölf Anzeigen, die preislich in Frage kamen. Doch bei genauerem Hinschauen musste er ernüchtert feststellen, dass die meisten Beschreibungen Aussagen wie „als Teilespender, „nicht fahrbereit oder gar „ohne Motor enthielten. Dies traf auch auf den einzigen Van zu, der sich zudem in einem „restaurationsbedürftigen Zustand befand. Übrig blieben immerhin noch vier Angebote. Shane verpasste den Anzeigen einen Kugelschreiberkringel. Er griff zum Telefon und wählte die erste Nummer. Klackernd baute sich die Verbindung auf und nach dem dritten Klingeln sagte eine Männerstimme einen unverständlichen Namen.

    „Hi. Shane räusperte sich. „Ich rufe wegen der Anzeige an.

    „Welche Anzeige?" Der Mann klang ehrlich erstaunt.

    „Das Auto. Der Kombi"

    Stille am anderen Ende. Dann „Der ist schon vor drei Wochen verkauft worden."

    Shane schielte auf das Datum in der oberen Ecke der Zeitungsseite, während ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, welcher Tag gerade war. Sich für die Störung entschuldigend legte er auf.

    Der nächste Versuch. Seine zweite Wahl, ein Buick Apollo, Baujahr 1973, hatte laut Anzeige zwar bereits mehr als 150.000 Meilen zurückgelegt, aber mit 800 $ auf jeden Fall bezahlbar. Diesmal wurde sofort abgenommen.

    „Ja?"

    Wieder eine Männerstimme, und für einen kurzen Moment dachte Shane, dass er dieselbe Nummer versehentlich noch einmal gewählt hatte.

    „Äh, ja, ich rufe an wegen – er schielte auf die Anzeige – dem Apollo?"

    „Ja?"

    Zwei Sekunden peinliches Schweigen, während Shane nach den richtigen Worten kramte. Wie lange war es her, dass er mit einem Menschen geredet hatte?

    „Ist der noch zu haben?"

    „Jap."

    Zumindest würde dieser Verkäufer ihm nichts aufschwatzen.

    „In welchem Zustand ist der denn so?", fragte Shane, und hoffte, so etwas wie ein Gespräch in Gang zu bringen.

    Dumme Frage. Er würde am Telefon wohl kaum etwas Schlechtes über sein Auto sagen.

    „Läuft gut."

    „Aha. Ähm, kann ich mal für eine Probefahrt vorbeikommen?"

    „Jap."

    Der Mann nannte seine Adresse und Shane legte auf. Geschafft. Zwei von vier. Und weiter. Zwei Anrufe später hatte er insgesamt drei Termine vereinbart. Zuversichtlich blickte er auf die Liste. Drei Probefahrten. Eine gute Trefferchance. Der Plan nahm Gestalt an.

    A, B, C, ... Alphabetisch bewegte sich Shane auf sein Ziel zu, unter dem Arm einen durchgeschwitzten Stadtplan, in seiner Jeanstasche das Bündel Geldscheine. Allmählich machte ihm die Hitze merklich zu schaffen. Der Fahrtwind brachte nur wenig Kühlung.

    Obwohl er das klapprige Fahrrad im Höchsttempo durch die Straßen trieb, hatte er das Gefühl, stillzustehen. Die Wege dehnten sich ins Unendliche, ein urbaner Zerrspiegel, späte Nachwirkungen seines kargen Frühstücks.

    Trotzdem fühlte er sich fantastisch. Lange verloren geglaubte Energie war zurückgekehrt und mit ihr neue Perspektiven und der unbezwingbare Drang, sein Vorhaben Wirklichkeit werden zu lassen. Von Euphorie beflügelt trat er noch stärker in die Pedale.

    Das Viertel, durch das er fuhr, war in der Mehrheit von Latinos bewohnt, was man schon daran erkannte, dass die Avenues hier „Avenida" hießen. Offensichtlich hatten die Stadtplaner dieser Gegend keine große Lust gehabt, sich sinnvollere Straßennamen auszudenken. Auf die Avenida A folgte Avenida B. Der inserierte Apollo wartete neben dem Haus in der Avenida E. Auf Shanes Klingeln öffnete ein schwarzhaariges Mädchen die Tür und blickte mit neugierigen Murmelaugen an ihm hoch.

    Shane rang sich ein Lächeln ab. „Hi, ist dein Papa da?"

    Statt zu antworten, lief die Kleine zurück ins Haus und rief etwas auf Spanisch. Kurz darauf erschien aus der Dunkelheit ein muskulöser Mann, lediglich mit schwarzer Trainingshose und Goldkette bekleidet.

    „Wegen dem Buick hier?", nuschelte er.

    „Ja, wir hatten heute Morgen telefoniert. Kann ich den mal ansehen?"

    „Da, nickte er in Richtung des Wagens. „Ist offen.

    So gesprächig wie am Telefon, dachte Shane. Er ging um den Buick herum und versuchte dabei auszusehen, als ob er etwas von Autos verstand.

    Leider war der Wagen deutlich kleiner, als Shane gehofft hatte. Auf den ersten Blick sah das Fahrzeug so normal aus, wie man es sich nur vorstellen konnte. Mittelgroß, mittelbraun, ein paar Dellen und Rostflecken, ansonsten nichts Auffälliges. Shane stieg in einen spartanischen Innenraum.

    Der halbnackte Mann tauchte an der Wagentür auf, kramte ein vergoldetes Zippo aus der Hosentasche und zündete sich auf komplizierte Art eine Zigarette an. „Läuft gut. 800 $", zitierte er die Anzeige und brachte die Zigarette in seinem Mundwinkel zum Wippen.

    „Kann ich eine Probefahrt machen?"

    „Meinetwegen. Schlüssel ist im Handschuhfach."

    Der Wagen sprang sofort an und lief scheinbar so, wie er es sollte.

    „Ich fahr nur einmal um den Block, okay?"

    „OK" sagte das Plappermaul und nestelte an seiner Goldkette herum.

    Shane lenkte den Buick auf die Straße und reihte sich in den dünnen Mittagsverkehr ein. Die Probefahrt ergab keine Auffälligkeiten. Alles fühlte sich normal an. Trotzdem störte etwas. Nicht nur, dass der Wagen ein paar Nummern zu klein war, um darin eine komfortable Nacht zu verbringen. Er war auch eigenartig eigenschaftslos. Die Fahrt hinterließ nichts außer dem irrationalen Gefühl, dass dieses Fahrzeug nicht das richtige war. Wäre es ein Mensch gewesen, hätte in seinem Pass „Besondere Kennzeichen: keine" gestanden.

    Zurück in der Avenida E stand der Verkäufer noch immer in derselben Haltung in der Auffahrt und beendete seine Zigarette. Shane gab ihm die Schlüssel.

    „Ich denke darüber nach", log er.

    Mit einem gleichgültigen Achselzucken verschwand der Mann in seinem Haus.

    Der nächste Versuch befand sich günstigerweise nur einige Blocks entfernt. Laut Anzeige handelte es sich um einen 79er Cadillac Eldorado. An der beschriebenen Adresse fand Shane ein Gebäude, das aussah, als sei es in besseren Jahren einmal eine Tankstelle gewesen. Dem Banner über der Einfahrt nach war er bei „Honest Hank – Ehrliche Gebrauchtwagen" angekommen. Der Hof war mit einer ganzen Sammlung alter Cadillac–Modelle zugeparkt. Bevor Shane abgestiegen war, tauchte unter einer der geöffneten Motorhauben ein schwergewichtiger Mann auf. Er streckte Shane eine ölverschmierte Hand hin und entblößte zwei perfekte Reihen perlweißer Zähne zu

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