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Head Game: 15. Abenteuer der Familie Lederer
Head Game: 15. Abenteuer der Familie Lederer
Head Game: 15. Abenteuer der Familie Lederer
eBook447 Seiten6 Stunden

Head Game: 15. Abenteuer der Familie Lederer

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Über dieses E-Book

Unsere Wahrnehmung entspricht oft nicht der Realität. In Südafrika betreibt ein chinesisches Paar eine irisches Pub und legt sich mit Kriminellen und Behörden gleichermassen an. In Schottland messen sich ein Engländer und ein Amerikaner im Tanz um den verschwundenen Kaisergranat. In Brasilien gerät eine Unternehmerin in die Fänge eines zwielichtigen Mediums, während sich Alabima Lederer in der Schweiz mit Gesindel und ihrem Ehemann Jules gleichermassen herumzuschlagen hat.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Mai 2019
ISBN9783748592631
Head Game: 15. Abenteuer der Familie Lederer

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    Buchvorschau

    Head Game - Kendran Brooks

    Vorgeschichte

    Herman Walker wachte auf, früher als gewöhnlich. Draußen war es noch stockfinstere Nacht. Nicht das kleinste Fitzelchen Licht drang in sein Schlafzimmer. Herman lag auf seinem Rücken, fühlte sich todmüde, schlaff und wie zerschlagen. Selbst die Augenlider wollten ihm vor Müdigkeit gleich wieder zufallen. Ein Speichelfaden löste sich aus seinem Mundwinkel und schleimte langsam die Wange hinunter. Herman brachte noch nicht einmal den Willen auf, seine Hand unter der Decke hervor zu heben und ihn wegzuwischen oder auch nur seinen Kopf etwas zu drehen und die Wange auf dem Kopfkissen abzutupfen. Wozu auch? Alles war im Grunde genommen gut.

    Aber was hatte ihn so früh geweckt?

    Herman Walker horcht instinktiv in die Dunkelheit hinein, hörte zuerst neben dem kaum wahrnehmbaren Summen seines Radioweckers nichts als Schwärze. Erst nach einer Weile vernahm er das fremde Geräusch. Ein winzig leises und doch irgendwie durchdringendes Schaben. Sollte ihn etwa dieses feine Geräusch aus dem Schlaf gerissen haben? Es klang allerdings völlig unpassend für sein Schlafzimmer. Wie trockenes Herbstlaub, das von einem Luftzug ein paar Zentimeter über einen Steinboden bewegt wird.

    Chhhhhhhhhr.

    Das Geräusch wiederholte sich, in immer rascheren Abständen.

    Chhhhhhhhhr.

    Chhhhhhhhhr.

    Herman spürte, wie sich die Haare auf seinen Unterarmen aufrichteten. Was immer dieses Geräusch verursachte, es schien sich seinem Bett zu nähern.

    Winzig musste es sein. Zumindest klein wie ein Käfer. Herman fühlte das auch in der Dunkelheit. Doch was sollte er tun? Die Glühbirne in der Lampe auf seinem Nachttisch hatte schon vor einer Woche den Geist aufgegeben. Er war noch nicht dazu gekommen, eine neue einzuschrauben. Und der Schalter fürs Deckenlicht war vom Bett aus unmöglich zu erreichen. Er hätte aufstehen und hinübergehen müssen. An diesem schabenden Geräusch vorbei.

    Chhhhhhhhhr.

    Hermann schluckte und bemerkte erst jetzt, wie ausgedörrt seine Kehle auf einmal war. Die Zunge schien ihm angeschwollen, fühlte sich in seinem Mund wie ein Fremdkörper an. Sollte er aus dem Bett hüpfen und zum Lichtschalter an der Tür rennen? Oder doch besser noch etwas abwarten?

    Chhhhhhhhhr.

    Seine Haare im Nacken sträubten sich, als hätte ihn dort etwas schrecklich Unheimliches berührt. Was war das bloß da unten im Dunkeln für ein Ding? Ein Käfer? Eine Schabe?

    Chhhhhhhhhr.

    Das Etwas musste mittlerweile am Bettpfosten angelangt sein. An ein Aufstehen war nun nicht mehr zu denken. Ob es wohl klettern konnte? Oder gar auf die Matratze hochspringen? Der Magen von Herman zog sich bei diesen Gedanken zusammen und ein Tonnengewicht legte sich auf seine Brust. So bekam er kaum noch Luft, horchte atemlos und angespannt in die Schwärze hinein, stierte nutzlos mit seinen Augen, dessen Lider er trotz der Gefahr einfach nicht offenhalten konnte.

    Chhhhhhhhhr.

    Leises Schaben drang vom Bettpfosten zu ihm hoch. Fast glaubte Herman, es körperlich zu spüren. Das Ding konnte klettern!

    Seine Zehen spürten wenig später, wie sich etwas unter die Bettdecke schob. Langsam, doch stetig kroch es an seinem linken Unterschenkel entlang dem Knie entgegen. Herman fühlte es durch den Stoff seiner Pyjama-Hose. Doch noch immer lag der junge Mann wie erstarrt, völlig unfähig, sich zu bewegen, sich herumzuwerfen, aufzuspringen, zu entfliehen.

    Seine Lippen zuckten, als sich das Etwas auf seine regungslos daliegende linke Hand setzte und sich gleich danach unter den Ärmel des Oberteils schob.

    Was sollte er bloß tun? Seine Glieder waren schwer wie aus Blei. Kein Gedanke, das Ding mit der rechten Hand zu packen und durch den Stoff des Pyjamas zu zerquetschen. Nicht einmal den Kopf konnte Herman rühren, so sehr er sich nun auch bemühte. Er lag wie eingegossen im Kopfkissen fest.

    Weiter und weiter trippelte das Ding seinen Arm hoch bis zur Schulter. Dann bewegte es sich hinüber auf seine Brust. Deutlich spürte Herman winzige Klauen auf seiner Haut, wie sie Heuschrecken besaßen. Doch das Ding musste weitaus schwerer sein. Fast wie aus Stein fühlte es sich an. Oder war es aus Metall? Herman dachte an den Film mit der Mumie und diesen grässlichen Käfern. Skarabäus wurden sie dort genannt.

    Sein Atmen war längst zu einem fiebrig-abgehackten Einziehen und Ausstoßen von Luft geworden. Sein Herzschlag raste und er hatte überall am Körper stark zu schwitzen begonnen.

    Mehr aus Angst und grenzenlosem Schrecken als vor Schmerzen schrie Herman auf, als sich das Etwas in seine Brust bohrte. Doch kein Ton drang an seiner angeschwollenen Zunge vorbei. Jedenfalls hörte Herman nichts. Lautlos brüllte er gellend und mit weit aufgerissenem Rachen weiter, während sich eine Feuerqual ihren Weg durch seine Rippen und sein Fleisch bohrte.

    Hermann fühlte nun eine nie gekannte Todesangst in sich hochsteigen, spürte, wie sich dieses Etwas immer tiefer in seinen Körper fraß, seinem Herzen entgegen.

    Eine Rippe brach knackend und plötzlich schmeckt er Blut auf der Zunge. Seine Augäpfel quollen ihm hervor, als wollten sie ihm gleich aus dem Gesicht springen, vor all der höllischen Pein.

    Endlich übermannten Herman Walker die unmenschlichen Schmerzen und eine gnädige Ohnmacht umfing den jungen Mann.

    *

    Dr. Steven Meyers, der Chefarzt und Leiter der Klinik für Neurologie am Massachusetts General Hospital in Boston, stand vor dem Bett des Koma-Patienten. Einige Mediziner und Studenten umgaben ihn. Es war Wochenvisite. Die Herz-Lungen-Maschine schnaubte und pfiff leise im Hintergrund, so wie immer. Der aktuelle Herzschlag und weitere Körperwerte wurden auf einem an der Seite stehenden Bildschirm laufend zusammengefasst dargestellt. Dr. Meyers warf einen Blick in die Patienten-Akte von Herman Walker, nickte danach zufrieden.

    »Liegt seit Herbst 2018 hier. Ein Jagdunfall. Die Kugel durchschlug die Brust des Patienten knapp neben dem Herzen, verletzte den rechten Lungenflügel und trat zwischen dem siebten und achten Rückenwirbel aus. Sein allgemeiner Zustand ist stabil. Der Patient zeigt bloß, und dies vom ersten Tag an, regelmäßig wiederkehrendes Zuckens der Lippen und manchmal ein Flimmern der Augenlider, oft mit leicht beschleunigtem Puls. Keine Fortschritte in den letzten drei Monaten. Gut. Gut.«

    Der Chefarzt klappte die Akte zu und reichte sie seiner Assistentin zurück, erhielt von ihr die nächste gereicht, für den Patienten im Bett nebenan. Dr. Meyers machte ein paar lange Schritte hinüber. Alle anderen folgten ihm als lose Traube. Keiner warf noch einen Blick auf den wie tot daliegenden jungen Mann.

    *

    Herman Walker wachte auf, früher als gewöhnlich. Draußen war es noch stockfinstere Nacht. Nicht das kleinste Fitzelchen Licht drang in sein Schlafzimmer. Herman lag auf seinem Rücken, fühlte sich todmüde, schlaff und wie zerschlagen. Selbst die Augenlider wollten ihm vor Müdigkeit gleich wieder zufallen. Ein Speichelfaden löste sich aus seinem Mundwinkel und schleimte langsam die Wange hinunter. Herman brachte noch nicht einmal den Willen auf, seine Hand unter der Decke hervor zu heben und ihn wegzuwischen oder auch nur seinen Kopf etwas zu drehen und die Wange auf dem Kopfkissen abzutupfen. Wozu auch? Alles war im Grunde genommen gut.

    Aber was hatte ihn so früh geweckt?

    Herman Walker horcht instinktiv in die Dunkelheit hinein, hörte zuerst neben dem kaum wahrnehmbaren Summen seines Radioweckers nichts als Schwärze. Erst nach einer Weile vernahm er das fremde Geräusch. Ein winzig leises und doch irgendwie durchdringendes Schaben. Sollte ihn etwa dieses feine Geräusch aus dem Schlaf gerissen haben? Es klang allerdings völlig unpassend für sein Schlafzimmer. Wie trockenes Herbstlaub, das von einem Luftzug ein paar Zentimeter über einen Steinboden bewegt wird.

    Chhhhhhhhhr.

    Das Geräusch wiederholte sich, in immer rascheren Abständen.

    Chhhhhhhhhr.

    Chhhhhhhhhr.

    Herman spürte, wie sich die Haare auf seinen Unterarmen aufrichteten. Was immer dieses Geräusch verursachte, es schien sich seinem Bett zu nähern.

    ...

    »Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will«

    Henri Matisse

    Es war einer dieser wunderschönen Herbsttage am Genfersee. Das Laub hatte sich mehrheitlich verfärbt. Doch noch hingen die meisten Blätter an den Zweigen. Der Wind verspürte noch keine Lust, dies gründlich zu ändern, war lau und mild. Selbst die Sonne freute sich an diesem Morgen übermäßig, schien freundlich und warm vom wolkenlosen Himmel, als sehnte sie sich den Sommer zurück.

    Auch in der Villa in La-Tour-de-Peilz war wieder Ruhe eingekehrt, nach all den Aufregungen der letzten Wochen und Monaten. Der Rasen, vom Tau noch ganz feucht, glitzerte im morgendlichen Sonnenschein. Die Zweige der Bäume wiegten sich träge in der lauen Luft. Selbst die große Unruhe und Bewährungsprobe in der Beziehung zwischen Jules Lederer zu seiner Ehefrau Alabima schien an diesem Morgen besänftigt.

    Der Selfmade-Millionär und frühere Problemlöser für reiche Klienten und internationale Konzerne hatte sich seit seinem Aufenthalt in Indien verändert. Nichts schien mehr übrig geblieben von seiner Rücksichtslosigkeit, selbst gegenüber weitaus Schwächeren, von seinem Starrsinn, auch gegenüber einer mehrere tausend Jahre alten Zivilisation mit ihrer weiterhin lebhaften Kultur. Ausgesprochen demütig schien der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger seine Wiedergeburt nach der Beinahe-Ermordung in einem indischen Gefängnis angenommen zu haben. Ja, der Subkontinent mit seinen Menschen und Religionen hatten Jules Lederer gleich mehrfach geprägt und umgepolt. Spülten sie zuerst seine bösesten Charakterzüge an den Tag, brachten sie ihn während der vielen Wochen Genesungszeit in einem Krankenhaus wieder zu Vernunft.

    Ja, der alte Jules war wieder zurück. Der Jules ihres Kennenlernens. Vor fast zwölf Jahren.

    Zumindest hoffte das seine Lebenspartnerin Alabima.

    Jules Lederer hatte sich über zwei Jahrzehnte einen Namen gemacht, als gefährlicher, unerbittlicher und sehr erfolgreicher Kämpfer im Interesse einer sehr betuchten Klientel. Der Schweizer war dabei selbst reich geworden, konnte sich viele Extravaganzen leisten, wie die große Villa am Genfersee mit dem weiten Umschwung. Als Extrem-Kampfsportler beherrschte er das Töten mit der bloßen Hand. Allerdings hatte Jules Lederer, zumindest während seiner Berufsjahre, nur ungern Gewalt angewandt. Ein diplomatisches Vorgehen wurde damals vom Schweizer stets jeder Brutalität vorgezogen, auch wenn man in manchen Fällen eher von blanker Erpressung sprechen musste.

    »Ich fechte mit dem Florette, nicht mit dem Zweihänder«, war eine seiner Maximen gewesen, »und Schattenboxen ist die höchste Kunst der diplomatischen Gewalt.«

    Doch diese Zeiten waren für ihn lange vorbei, fast eine Dekade schon. Denn man durfte keine Familie gründen und sich gleichzeitig immer wieder in Todesgefahr begeben.

    So jedenfalls die Auffassung seiner Ehefrau Alabima.

    Die Äthiopierin war auch noch mit fast vierzig eine außergewöhnlich schöne Frau. Groß gewachsen wie viele Menschen aus dem Stamm der Oromo und ausgesprochen schlank, besaß sie trotzdem alle Rundungen einer aufregenden Milf in ihren besten Jahren. Ihre Tochter Alina hatte letzten Herbst ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Und ihr Adoptivsohn Chufu, der schon seit einigen Jahren in Brasilien lebte und arbeitete und auch dort geheiratet hatte, ging bereits gegen die dreißig.

    Mehr als einmal hatte Jules Lederer seine Familie aufgrund seines früher so risikoreichen Lebens und der heiklen Aufträge wegen in Todesgefahr gebracht. Darum nahm ihm Alabima vor vielen Jahren das Versprechen ab, für keinen Klienten mehr in einen neuen Privatkrieg zu ziehen.

    Jules hatte sich ihrem Wunsch gefügt, zwar höchst ungern, doch immerhin mit gutem Willen.

    Womöglich war für den Schweizer aber bereits zu diesem Zeitpunkt der Zug längst abgefahren gewesen, der ihn noch in ein ruhiges, zufriedenes, bürgerliches Leben hätte zurückführen können. Denn sein letzter bezahlter Auftrag führte den Schweizer vor gut acht Jahren nach Mexiko und mitten hinein in die Hölle der Drogenkartelle mit all ihren Verbindungen bis tief hinein in die amerikanischen Geheimdienste. Nicht nur Jules und zwei seiner Freunde gerieten damals in höchste Bedrängnis. Auch seine Familie wurde bald einmal zur Zielscheibe, wurde bedroht und gejagt, von den Schergen der Drogenmafia genauso, wie von staatlichen Behörden, die ihre dunklen Geheimnisse zu schützen suchten.

    In seiner großen Furcht um seine Liebsten beging Jules Lederer damals und drüben in Mexiko ein derart schreckliches und gleichzeitig völlig sinnloses Verbrechen, dass es ihn auch Jahre später noch in seinen Nächten verfolgte, ihn immer wieder schweißgebadet aufschrecken ließ. Damals hatten die Zeitungen weltweit über die bösartige Bluttat berichtet. Die Täterschaft konnte allerdings nie ermittelt werden.

    Doch nach diesem ruchlosen Verbrechen hatte sich der Schweizer abrupt verändert. Vom früheren Sonnyboy, der gelassen jeder Gefahr trotzte, blieb nicht mehr viel übrig. Das strahlende Lächeln des ewigen Siegers war gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden. Das sinnlose Morden hatte sich tief in die Psyche des Schweizers gegraben, auch wenn die von ihm Getöteten allesamt Schuldige gewesen waren. So wurde sein schreckliches Verbrechen zu seinem persönlichen Albtraum, nicht nur aufgrund der eigentlichen Tat, sondern vielmehr als Ausdruck seiner damaligen Ohnmacht und seines völligen Versagens.

    Mit den amerikanischen Geheimdiensten konnte sich der Schweizer später einigen, musste von ihnen kaum noch etwas befürchten. Und auch die Drogenkartelle hatten von ihm und seiner Familie abgelassen. Doch die wochenlange Furcht vor dem Schicksal seiner Liebsten, die ständige Anspannung wegen des Versteckspiels vor den staatlichen Behörden und den Häschern der Drogenkartelle, hatten tiefe Spuren an seinem Nervenkostüm hinterlassen, an seinem Selbstverständnis und an seinem Selbstbewusstsein stark genagt.

    Wenig später begann Jules Lederer überall und jederzeit nur noch weitere mögliche Bedrohungen oder Feinde auszumachen. Ohne fassbare Gründe sorgte er sich immer stärker um das Wohl seiner Familie, fühlte sich verfolgt und überwacht. Er begann sich immer mehr einzuigeln und abzuschotten, selbst gegenüber seinen langjährigen Freunden. Jules kaufte damals auch eine Unmenge an Waffen und Munition zusammen, verwandelte die Villa am Genfersee zunehmend in einen Bunker. Gleichzeitig wurde der Schweizer immer unsteter, mürrischer, nervöser und leider auch brutaler. Zu Drittpersonen genauso, wie zu sich selbst. Und er ging auf einmal unnötige Risiken ein, die er früher stets gemieden hatte.

    Als einige Monate später die Ärzte einen gefährlichen Gehirntumor bei Jules Lederer feststellten, waren die Sorgen von Alabima und ihm zwar riesengroß. Gleichzeitig bot die bösartige Erkrankung aber auch Anlass zur Hoffnung, nämlich dass alle diese Persönlichkeitsstörungen und Charakterveränderungen letztendlich auf der Krebserkrankung beruhten.

    Nach einer ersten, weitgehend nutzlosen Chemotherapie mit Bestrahlung gaben die Ärzte dem Schweizer nur noch wenige Wochen zu leben. Der Gehirntumor musste dem Schweizer zweifellos das Leben kosten. Zu weit war er fortgeschritten. Zu stark gestreut. Zu wenig reagierte er auf die möglichen Therapien. Und eine Operation war von Anfang an eine Unmöglichkeit.

    Damals schloss Jules Lederer mit seinem Leben bewusst ab, gab den Kampf gegen seine Krankheit auf, fügte sich in sein Schicksal.

    Weder seine Ehefrau Alabima noch seine kleine Tochter Alina duldete er noch an seinem Krankenbett, mochte ihr Mitleid nicht mehr ertragen, wollte ihre stille Trauer nicht mehr spüren müssen. Nur noch sterben, ja, das wollte der Schweizer, möglichst rasch und möglichst allein.

    Doch seine Ehefrau Alabima kämpfte weiterhin um das Leben ihres Ehegatten, rettete Jules mit Hilfe eines experimentellen Medikaments, das sie illegal für ihn besorgt hatte. Der Krebs konnte tatsächlich besiegt werden. Doch der Schweizer musste anschließend wieder zurück in ein Leben finden, mit dem er längst gebrochen hatte.

    Zu Anfang empfand Jules so kein Glück über seine Genesung. Denn weiterleben zu müssen, in einer Welt, aus der er sich bereits verabschiedet hatte, die ihm darum längst fremd und unwirklich geworden war, das fiel dem Schweizer ausgesprochen schwer. Selbstmordgedanken quälten ihn zunehmend und mehr als einmal stand er kurz davor, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen. Nur Dr. Grey, eine Psychologin aus Lausanne, fand damals Zugang zum Schweizer, führte Jules Schritt für Schritt zurück in die Wirklichkeit und ins Leben. Nach Monaten des Zweifelns und der Unschlüssigkeit fasste der Schweizer langsam wieder Vertrauen, in seine Gesundheit, die tatsächlich anhielt, in seine Psychologin, die ihn weiterhin forderte, aber auch in Alabima und Alina, dass sie doch noch viele Jahre gemeinsam erleben durften.

    Irgendwann hatte der Schweizer auch verstanden, dass er für seine Tochter und für seine Ehefrau weiterzuleben hatte. Er fühlte die starke Verpflichtung als einen unbedingten Zwang, empfand sein Weiterleben darum vor allem als eine Bürde und Busse. Doch er fügte sich in sein Schicksal, fühlte sich irgendwann auch wirklich bereit dazu, wollte diese neuerliche Herausforderung in seinem Leben mit bestem Willen meistern.

    »Tela nun vela« nannten die Dakota-Indianer diesen Zustand. Jules Lederer lernte dieses geflügelte Wort in seiner Jugend kennen. Damals verschlang er alle Western-Romane von G. F. Unger.

    »Tod, wenn auch noch lebendig.«

    Was tat man nicht alles aus Liebe?

    Jules Lederer funktionierte von da an wieder besser, hielt sich auch an seine Versprechen gegenüber Alabima, konnte trotzdem nicht ganz aus seiner Haut schlüpfen, übernahm zwar keine gefährlichen Aufträge mehr für Klienten, suchte trotzdem vermehrt das Risiko und neue Aufregungen, stürzte sich immer wieder unnötig in Gefahren.

    Bis er in Indien fast darin umgekommen wäre.

    Ja, vielleicht hatte ihn dieses Land mit seiner Religion und seiner Kultur tatsächlich verändert.

    Doch bis dahin hatte Alabima viel erdulden und erleiden müssen. Vielleicht zu viel?

    Auch wenn die Äthiopierin seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz lebte, fühlte sie sich im Alpenland keineswegs zu Hause. Denn Jules hatte stets dafür gesorgt, dass alle von Alabima geknüpften Bande zu Nachbarn oder auch zu anderen Eltern oder weiteren Bekannten rasch wieder getrennt wurden oder zumindest einschliefen. Denn der frühere Problemlöser war einfach nicht bereit dazu, ganz gewöhnliche Menschen als gleichwertig zu anerkennen und mit ihnen umzugehen.

    »Über was soll ich mit diesen einfachen Leuten denn reden?«, war eines seiner Totschlag-Argumente, »ich habe mit Jelzin und Putin verhandelt, mischte mich in die Politik großer Länder ein, kämpfte mit CIA und NSA und einem halben Dutzend anderer Geheimdienste, schlug mich mit der Drogenmafia und mit Waffenschiebern herum. Wie könnte ich mich da mit irgendeinem Monsieur Bourgeois über die richtige Pflege von Rosenstöcken im Vorgarten unterhalten?«

    So und ähnlich schmetterte er in der Vergangenheit immer wieder die Wünsche seiner Lebenspartnerin nach mehr nachbarschaftlichem Miteinander ab. Nein, der Schweizer wollte keine Bekanntschaften mit Leuten aus ihrem engeren Umfeld schließen, besaß selbst nur ganz wenige gute Freunde, suchte sich keine neuen.

    Alabima wurde über die Jahre verbittert. Nicht so sehr wegen ihres so überheblichen Jules, den sie immer noch liebte, wenn vielleicht auch nur für das, was der Schweizer vor zehn Jahren noch gewesen war, für seine damalige Stärke und Zuversicht, auch für seine frühere unbedingte Verlässlichkeit und die große Herzensgüte.

    Doch immer wenn die Oromo allein in einem Zimmer der Villa saß und über ihr Leben nachdachte, gingen ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf.

    »Ich habe meine Heimat Äthiopien verloren, jedoch keine neue Heimat in der Schweiz finden können. Ist dies das schreckliche Fazit meines traurigen Lebens?«

    Heimat war dort, wo man anerkannt und geehrt wurde. Doch hier in der Schweiz, ja in Europa, kannte Alabima nur wenige Menschen näher. Wer also sollte ihr das Gefühl vermitteln, endlich angekommen zu sein?

    Ihre engste Freundin hieß Holly Peterson und war die Ehefrau von Henry Huxley, dem besten Freund ihres Ehemanns. Aber Holly lebte mit Henry zusammen in London und die beiden Familien sahen einander nur selten.

    Mit ihrem erwachsenen Adoptivsohn Chufu, der mit seiner Frau Mei in Rio de Janeiro lebte, sprach sie zwar weiterhin fast jede Woche über Skype. Doch das konnte keine Heimat schaffen, trotz aller Intimität. Nicht über tausende von Kilometern hinweg.

    Daneben gab es noch die gelegentlichen Telefonate mit ihren Brüdern und Schwestern in Äthiopien. Man hielt den üblichen freundschaftlichen Kontakt, spürte einander mehr, als man sich sah, war sich deshalb über die Jahre hinweg immer fremder geworden.

    Hier jedoch, in diesem Wohnviertel in La-Tour-de-Peilz am Genfersee, wo viele der Villen die meiste Zeit des Jahres über leer standen oder reine Spekulationsobjekte von mehr oder weniger zwielichtigen Investoren waren, gehörten Freunde oder auch nur gute Bekannte zur Mangelware. So beschränkte sich die Welt von Alabima weitgehend auf ihre Tochter Alina und ihren Ehemann Jules, falls der zu Hause war.

    Seit sie regelmäßig ins Taekwondo-Training ging, hatte die Äthiopierin zwar einige gute Bekanntschaften geschlossen, jedoch keine echten Freundschaften daraus entwickeln können. Jules wollte auch mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Sie waren und blieben in seinen Augen unwissende Tölpel, die wenig, bis nichts von der großen und weiten Welt verstanden, von den großen Geheimnissen und all den Kämpfen im Hintergrund nichts ahnten.

    Die übliche Leier.

    Selbstverständlich interessierten sich immer wieder Männer für die ausgesprochen aparte Frau von Ende Dreißig. Doch Alabima wollte ehrliche Freundschaften schließen und keine Seitensprünge vollziehen oder gar Liebschaften nebenherführen.

    Trotz finanzieller Unabhängigkeit blieb das Leben der Ehefrau und Mutter im Grunde genommen sinnfrei, sah man von der Betreuung ihrer Tochter Alina ab. Früher schrieb die Oromo noch für äthiopische Zeitungen, lieferte ihnen Tatsachenberichte über das Flüchtlingsleben in Europa, wollte so dazu beitragen, dass weniger ihrer Landsleute sich auf den langen, beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Europa aufmachten. Denn der Westen war kein Paradies für Migranten, bot Afrikanern weit weniger Chancen, als sich die Menschen vom Schwarzen Kontinent erträumten.

    Aber auch diese Schreibarbeit hatte sie vor Jahren aufgegeben. Denn wer war sie schon, dass sie über die Hoffnungen und Chancen anderer Menschen zu urteilen hatte? Ihre Entscheidungen beeinflussen durfte? Nur weil sie selbst in der Schweiz hoffnungslos gestrandet und doch nie angekommen war?

    Zu ihrer fehlenden Integration und ihrem schwindenden Lebenssinn kam noch ein großes, ständiges Unbehagen hinzu. Denn die Äthiopierin wurde seit Jahren von den Justiz-Behörden beobachtet und immer wieder verfolgt. Alles begann mit der illegalen Beschaffung des experimentellen Medikaments gegen den Gehirntumor ihres Gatten. Das hatte die Staatsgewalt das erste Mal gegen sie auf den Plan gerufen. Die Aufklärung eines Mordes an einem ewigen Studenten in Lausanne, der für kurze Zeit ihr Liebhaber gewesen war, hatte Alabima dann aber eine ganz besondere Gegnerschaft eingetragen. Denn ein Staatsanwalt mit Namen Valentin Snyder träumte von einer politischen Karriere, hatte seine Bekanntheit und Beliebtheit in der Bevölkerung mit Hilfe dieses Mordfalls steigern wollen. Für Monate ließ der Staatsanwalt die Äthiopierin in Untersuchungshaft setzen, versuchte gar, mit allerlei psychologischem Druck und bösartigen Finten, ein falsches Geständnis von der Unschuldigen zu erpressen. Doch Snyder scheiterte kurz vor der Ziellinie. Seitdem sann er auf Rache.

    Einer seiner Mitstreiter war ein verklemmter Kriminal-Kommissar mit Namen Augustin Muffong. Der schien alles zu hassen, was den Namen Lederer trug, zumindest seitdem er mit Jules aneinandergeraten war. Und auch wenn alle diese Geschichten bereits ein paar Jahre zurücklagen, so schwebten sie trotzdem immer noch wie ein Damokles-Schwert über dem Haupt der Frau aus Äthiopien, als eine der dunklen Wolken, die ihr die eigene Zukunft noch kräftig verregnen konnten.

    Nach der Rückkehr von Jules aus Indien vor einigen Monaten waren sie zusammen mit Tochter Alina für drei Wochen in ihre alte, verlorene Heimat Äthiopien zurückgekehrt, hatten dort die Verwandtschaft besucht und alte Freundschaften erneuert. Es war eine sehr schöne und glückliche Zeit für das Ehepaar gewesen. Beide versuchten während diesen Tagen gewissenhaft, ihre Lebenspartnerschaft zu erneuern. Seither wussten sie zumindest, wie sehr sie einander immer noch liebten und auch brauchten. Und so glaubte Alabima fest an einen echten Wandel ihres Jules zum Besseren.

    Wollte es zumindest.

    Durfte es wahrscheinlich auch.

    Denn nichts war bei ihrem Gatten von seiner früheren Überheblichkeit noch zu erkennen oder zu spüren. Auf einmal ging er auf andere Menschen offen zu, so als wäre die ganze Welt zu seinem Freund geworden. Er sprach mit Nachbarn und Anwohnern, quatschte selbst beim Einkauf unverbindlich mit irgendwelchen Kunden, war stets charmant und jovial und gewann ganz nebenbei mit Sicherheit das Herz von so mancher Frau.

    Denn der Schweizer sah immer noch blendend aus. Jules war zwar nie ein ausgesprochen schöner Mann gewesen. Zu scharf und asketisch seine Gesichtszüge, eher einem Wolf ähnlich als einem gemütlichen Bernhardiner. Aber der Schweizer hatte sich seinen sportlichen Körper über die Jahrzehnte weitgehend erhalten, zeigte immer noch weder Bauchansatz noch Buckel, schritt federnd und leicht, schien zumindest fünfzehn Jahre jünger zu sein als sein eigenes Ich.

    Ja, Jules war seit Indien vom Eigenbrötler und Einzelgänger innerhalb kürzester Zeit zu einem freundlichen Nachbarn und geselligen Mitmenschen geworden, hatte seine bisherige Haltung wie eine alte Haut abgestreift und eine neue übergezogen.

    Seine Wandlung war perfekt.

    Zu perfekt?

    Konnte ein Mensch seine inneren Schalter einfach so umlegen? Von hüst zu hott?

    Ein Schauspieler tat das. Ein guter Schauspieler sogar ausgesprochen glaubwürdig. Doch danach schlüpfte er stets wieder aus seiner Rolle heraus, wurde wieder zu demjenigen, der er immer schon gewesen war.

    Alabima fragte sich in diesen Tagen so manches Mal und voller Bangen, ob auch Jules ihnen allen bloß Theater vorspielte. Sie betrachtete und erforschte ihn, wenn er sich unbeobachtet fühlte, versuchte sich in ihn hinein zu versetzen, sich in seine Gedanken einzufühlen. Zurück blieb ihr meist eine vage Ahnung. Oder zumindest ein unbestimmtes Unbehagen. Ähnlich einem Schmutzfleck im Stoff einer Baumwollbluse. Nach mehrmaligem Waschen war er zwar gänzlich verschwunden. Und trotzdem sah man ihn noch, weil man sehr genau wusste, wo man ihn zu suchen hatte.

    Was Alabima allerdings nicht bemerkte, während sie ihren Jules auszuforschen begann, war ihre zehnjährige Tochter Alina. Die beobachtete nämlich ihrerseits ihre Mutter und wunderte sich sehr über das Verhalten von Maman.

    Selbstverständlich hatte die kleine Alina schon viel früher mitbekommen, dass gewisse Dinge bei ihrem Vater Jules nicht richtig funktionierten. In der Schule sprach damals auch eine Kinderpsychologin mit ihr, erklärte die Krankheit Depression. So fand die Kleine eine gesunde Einstellung zum kranken Papa, hatte sich selbstverständlich sehr um ihn gesorgt, aber ohne jemals ins Jammern über sein Schicksal zu geraten.

    Ja, eine gewisse Härte war wohl allen Lederers nicht abzusprechen, egal, in welchem Alter.

    Die so positiven Veränderungen der letzten Wochen und Monate hatte auch Alina an ihrem Vater wahrgenommen, verspürte große Zuversicht und ehrliche Hoffnung. Nie zuvor hatte sie mit ihrem Papa ähnlich offen und irgendwie sogar auf gleicher Ebene sprechen können, wie in letzter Zeit. Doch Alabima, ihre Maman, schien weiterhin skeptisch zu bleiben, auch wenn Papa sich doch ganz anderes gab und verhielt als früher.

    Und so spionierte die Zehnjährige ihrer Mutter nach, sah sie beispielsweise, wenn Vater außer Haus war, in seinem Arbeitszimmer verschwinden, hörte hinter der verschlossenen Tür, wie der Laptop gestartet und wie die Tasten des Keyboards und der Maus hastig geklickt wurden. Oder aber sie sah Maman an der Tür horchen, wenn ihr Vater ein Telefongespräch führte. Einmal ließ sich das Mädchen probeweise bei der Mutter blicken, so als wäre sie zufällig in den Flur getreten. Alabima war heftig zusammengezuckt, zeigte die Scham einer auf frischer Tat Ertappten, hatte ihre Tochter rasch zurück ins Wohnzimmer geführt und ihr dort irgendeine Notlüge aufgetischt, die ihr Lauschen harmlos erklären sollen.

    Alina wusste also, wie sehr sich ihre Maman immer noch um ihren Papa sorgte. Nein, für die Zehnjährige war das, was ihre Mutter tat, kein eigentlicher Vertrauensbruch. Zu viel hatte selbst Alina schon als Kleinkind von den großen Risiken und lebensbedrohlichen Gefahren im Leben der Lederers mitbekommen. Doch die andauernden Zweifel ihrer Mutter an ihrem Vater schienen der Tochter völlig übertrieben.

    Denn warum sollte sich ein Mensch nicht ändern und wandeln können? Vor allem eine derart starke Persönlichkeit wie ihr Papa? Musste sie sich stattdessen nicht eher Sorgen um ihre Maman machen? Dass sie mit ihrem anhaltenden Misstrauen gegenüber ihrem Gatten ihre Beziehung, ihre Ehe und Partnerschaft aufs Spiel setzte? Wie so viele Töchter in ihrem Alter nahm auch Alina eher die Seite ihres Vaters ein und nicht diejenige der Mutter. So war die Natur nun einmal programmiert. So spulte sie sich in der Regel auch ab.

    *

    »Mãmã!«

    Sihena Ling schreckte in ihrem Bett hoch, keuchte stockend, spürte ihr Herz heftig pochen, erkannte erst nach und nach, dass sie in ihrem Schlafzimmer in ihrer Villa in Rio de Janeiro mehr saß als lag und dass alles so war wie immer und wie es auch sein musste. Durch die offene Tür zum Balkon strich ein leichter und doch erfrischender Luftzug hinein, hielt die dünnen Gardinen in sanfter Bewegung. Das Schlafzimmer lag im Mondlicht. Sihena Ling blickte sich um, suchte nach einem Grund für ihr Erwachen, stellte keinen fest. So lauschte die Sechzigjährige nach draußen und in den Garten, wie auch auf den Flur vor der Schlafzimmertür. Doch sie vernahm nichts außer dem leisen Rascheln der Blätter an den Bäumen vor dem Haus.

    Was hatte sie beim Hochschrecken gerufen?

    »Mãmã!«

    Da war sich die chinesisch stämmige Brasilianerin ziemlich sicher.

    Doch was hatte ihre längst verstorbene Mutter Lien in einem ihrer Träume zu suchen? Und erst recht in einer Situation, die wohl derart bedrohlich war, dass sie derart erschrocken aufwachte? Nein, Sihena Ling konnte sich beim besten Willen nicht an ihren Traum erinnern. Doch furchteinflößend musste er gewesen sein. Denn ihr Puls war immer noch erhöht und auch das Atmen noch beschleunigt.

    Die etwas über Sechzigjährige legte sich wieder hin, schloss probeweise ihre Augen. Doch an Schlaf war für sie nicht mehr zu denken. Denn irgendetwas war da weiterhin vorhanden. In ihren Erinnerungen oder in ihren Gefühlen, etwas das sie nun bereits seit mehreren Wochen immer wieder mal aus dem Schlaf schrecken ließ, so dass sie mit heftig pochendem Herzen erwachte.

    Sihena Ling dachte mit geschlossenen Augen nach.

    Ihre Mutter war in Peking aufgewachsen, hatte dort studiert, Mandarin und chinesische Geschichte. Später heiratete sie ihren um viele Jahre älteren Professor und Mentor Wengdo Wong. Die beiden lebten einige Jahre lang in Peking, bekamen dort auch ihr einziges Kind. Sie nannten ihre Tochter Sihena, nach einer vor Jahren verstorbenen Tante ihres Vaters. Doch während der Kulturrevolution mussten ihre Eltern mit der Tochter zusammen fliehen. Auf einer abenteuerlichen Reise gelangten sie über Hongkong nach Taiwan und von dort über Australien nach Brasilien. Damals war Sihena gerade vierzehn Jahre alt geworden, ein typischer chinesischer Teenager, der sämtliche Ideologien des Staatsapparats schon vom Kindergarten an eingeflößt bekommen hatte und nichts anderes auf der Welt kannte und auch nichts anderes als richtig erkannte.

    Ihre Eltern waren zwar nie Maoisten gewesen, hatten die Ideologie des Führers insgeheim sogar verachtet und gehasst, ihre Tochter jedoch als Kind und Jugendliche nie korrigiert. Denn zu sehr waren die Schergen der Staatsgewalt ständig darauf bedacht gewesen, selbst schon die Allerjüngsten auszuhorchen und auf diese Weise die Abweichler und möglichen Aufwieglern gegen die Staats-Doktrin zu entlarven. Erst als sie alle gemeinsam in Brasilien angekommen waren und ihr Vater eine Anstellung als Chinesisch-Lehrer ergattert hatte, sprachen ihre Eltern mit ihr offen über all das Unrecht und die Gewalt, die in ihrer alten Heimat herrschten, auch vom Druck der kommunistischen Partei auf jedes einzelne Individuum, ebenso von der Selbstverleugnung der meisten Menschen und vom großen Elend all jener, die sich offen gegen diesen Unrechtsstaat auflehnten.

    Sihena hatte das alles aber erst nach vielen Jahren verstanden, hatte sich zuerst sogar gegen ihre eigenen Eltern gewehrt, wollte nichts wahrhaben, nichts gelten lassen, war während ihrer Schulzeit in China ganz einfach zu sehr geimpft worden, von der allumfassenden Ideologie eines Machthabers, der jede mögliche Opposition schon in den Anfängen zertrat und ausmerzte und dazu auch die jüngsten Kinder schamlos ausnutzte.

    Doch Sihena erkannte schließlich doch das Unrecht und sie wandelte sich. Dazu beigetragen hatte sicher auch ihr ständiger Umgang mit brasilianischen Teenagern in der Schulklasse. Sihena musste damals zwar gleich drei Stufen wiederholen, bis sie endlich das Portugiesisch gut genug beherrschte, um mithalten zu können und sich in der neuen Gemeinschaft zu behaupten. Doch gleichzeitig begann sie, den brasilianischen Lebensstil zu lieben und den chinesischen unter Mao zu verachten.

    Schon mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren lernte sie Zenweih Ling kennen. Er war der Sohn eines chinesischen Auswanderers und in Brasilien geboren und aufgewachsen. Seine Eltern betrieben drei kleine China-Restaurants, eher Imbiss-Stuben, die einfachste Gerichte zu günstigsten Preisen servierten. Für ihre hochgebildeten Eltern war Zenweih Ling und dessen Eltern darum kein akzeptabler Umgang.

    »Was willst du mit diesem Mann aus der Gosse?«, warf ihr die stolze Mutter vor, »Familie Ling lebt doch intellektuell immer noch in der Steinzeit?«

    Und ihr Vater Wengdo, der hier in Brasilien als kleiner Lehrer für eine unbedeutende Schule arbeitete, hieb in dieselbe Kerbe, drückte sich noch drastischer aus, sprach vom Bodensatz der Zivilisation, von

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