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Il Principio: 8. Abenteuer der Familie Lederer
Il Principio: 8. Abenteuer der Familie Lederer
Il Principio: 8. Abenteuer der Familie Lederer
eBook436 Seiten5 Stunden

Il Principio: 8. Abenteuer der Familie Lederer

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Über dieses E-Book

Der Mord an einem ewigen Studenten in Lausanne wirft eigentlich keine hohen Wellen. Doch die Polizei findet Hinweise, die zu Alabima und zu Jules führen. Sind sie die Auftraggeber? Oder zumindest einer von ihnen? Ohne Wissen des anderen? Und während Jules sich vor einer Entscheidung drückt und mit Henry Huxley zusammen das Kloster Mor Gabriel im Süden der Türkei besucht, muss sich Alabima gegen einen Staatsanwalt wehren, der mit diesem Fall politische Karriere machen will. Der Mörder des Studenten ist längst wieder zurück in Hongkong und sucht dort nach Heimat, findet sie und versucht sie zu verteidigen. Doch kann sich ein ehemaliger Gangster gegen seine frühere Triade behaupten? Und wie steht die Nachbarin zu einem Verbrecher, der Blut an seinen Händen hat?
Während Henry Huxley auf Mor Gabriel verzweifelt versucht, die alawitischen Flüchtlinge vor dem Zorn der Schiiten und Sunniten zu schützen, muss sich Jules in der Schweiz gegen Behördenwillkür durchsetzen und in Hongkong eine Sexarbeiterin aufspüren. Am Ende stellt sich jedoch eine Frage: Hat Alabima ihre Heimat endgültig verloren oder neu gefunden?

Stolz und Ehre, aber auch Würde und Wissen/Können sind die vier Grundlagen unserer Persönlichkeit. Das "Lied über den Stolz und die Ehre" geht auf diese Charaktereigenschaften ein und interpretiert sie, stellt sie in einen Kontext zu unserem digitalisierten Leben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Nov. 2014
ISBN9783738002454
Il Principio: 8. Abenteuer der Familie Lederer

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    Buchvorschau

    Il Principio - Kendran Brooks

    Vorgeschichte

    »... und darum müsste ihr, als gläubige Kinder Allahs, eure Haare und auch eure Gesichter vor den Blicken der Männer verbergen. So verlangt es der Prophet. Ich erwarte von euch, dass ihr von morgen an im Niqab zur Schule kommt.«

    Mohammed al-Barani blickte sich selbstsicher und zufrieden in seinem Klassenzimmer um, schaute dabei keines der Vierzehnjährigen Mädchen direkt ins Gesicht, sondern überflog ihre Köpfe, sah die bunten Tücher mit viel Wohlwollen, störte sich an den wenigen, dunklen Haarschöpfen dazwischen.

    In der Dorfschule von al-Busayrah, einem Provinznest im Osten von Syrien, war man sunnitisch, nicht schiitisch und schon gar nicht alawitisch oder christlich, lebte Gott gefällig und nicht lästerlich, wie die Machthaber in der sündigen Hauptstadt Damaskus. Mohammed al-Barani war nicht nur Lehrer, sondern auch Imam in der nahen Moschee, verband den Dienst an der Bildung mit dem Dienst für Allah, wusste um sämtliche Sünden und Verfehlungen der Menschen, kannte ihren Preis im Jenseits.

    Unwirsch zogen sich seine Augenbrauen zusammen, als er ganz hinten, in der linken Ecke des Raumes und nahe der Türe zum Flur, seine Schülerin Sheliza zögerlich ihre Hand heben sah, diese kleine, hellbraune Hand, die dem gottesfürchtigen Mann schon immer zu wohlgeformt schien, zu gepflegt, mit zu langen Fingernägeln, eine Hand wie die Versuchung selbst.

    »Ja…«, nickte er dem Zeigefinger auffordernd zu, der sich aus der kleinen Faust des Mädchens keck emporgereckt hatte, »…hast du dazu eine Frage, Sheliza?«

    Die junge Alawitin lebte noch nicht lange in al-Busayrah, kam erst vor zwei Jahren mit ihren Eltern hierher. Eine Erbschaft war der Grund gewesen, ein großes Hofgut mit mehr als sechshundert Hektar fruchtbaren Bodens, das mehr als einem Dutzend Familien Lohn und Brot gab. Doch das schlanke, feingliedrige Mädchen war Mohammed al-Barani vom ersten Tag an nicht ganz geheuer gewesen. Denn als er sie das erste Mal und als Zwölfjährige auf dem Schulhof erblickt hatte, da war sie bei seinem Auftauchen genauso wie er abrupt stehen geblieben, hatte ihn stumm, aber offen angesehen, hatte ihn mit einem klugen, prüfenden Blick und ihren so unangenehm wissenden Augen angeschaut und ihn durchdrungen. Sie schien in seinem Innersten wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen zu können und hatte darin bestimmt alles über seine alte Schuld erfahren, diese Sünde, die von niemandem jemals vergeben werden konnte, selbst nicht von Allah.

    »Entschuldigen Sie, werter Herr Lehrer al-Barani, doch können Sie uns bitte erklären, welcher Vers des heiligen Buches die Verhüllung der Frauen fordert?«

    Einige ihrer Klassenkameradinnen kicherten leise, wandten sich ihre Gesichter zu und grinsten einander verschmitzt an. Die Saat dieser Frevlerin Sheliza war längst am Keimen, nicht nur hier im Klassenzimmer, sondern in der gesamten Schule. Oder lachten diese einfältigen Mädchen etwa nicht ihn aus, den Lehrer, sondern die vorlaute Sheliza? Dieses alawitische Mädchen aus der Hauptstadt? Diese Vierzehnjährige, die so gar nicht zu ihnen und in diese ländliche Gegend passte?

    Mohammed al-Barani atmete tief ein und langsam wieder aus, beobachtete sich dabei selbst und war höchst zufrieden mit seiner strahlenden Selbstsicherheit und der nach außen hin bestimmt gut sichtbar getragenen Ruhe.

    »Nun, du findest in Sure 33 Vers 59 die Antwort, Sheliza. Lies den Vers zu Haus ruhig nach, dann wirst du verstehen.«

    Seine Augen wanderten bereits wieder von der Zimmerecke weg, schwenkten hinüber zur Fensterfront nach rechts, wollte seine Schülerinnen schon im nächsten Moment verabschieden und sie in die zweistündige Mittagspause entlassen. Doch da war wieder diese kleine, hellbraune Hand und der keck daraus emporgestreckte, schlanken Zeigefinger mit dem viel zu langen Nagel, wie er aus den Augenwinkel heraus erkannte. Kalt blickte der Lehrer hinüber, fixierten das Mädchen und nickten ihm auffordernd aber stumm zu, diesmal vielleicht eine Spur weniger selbstsicher als zuvor, dafür mit einem grimmigen Zug um die Mundwinkel.

    »Aber werter Herr Lehrer al-Barani«, begann diese freche Göre aus Damaskus ihre Gegenrede, »ich kenne diesen Vers längst auswendig. Darin spricht Mohammed doch von der Djilbab, einem Kleidungsstück, dessen Form wir heute gar nicht mehr kennen. Wie sollen wir also wissen, ob er damit tatsächlich das Verbergen der Haare und die Verschleierung des Gesichts gemeint hat? Und weshalb…«, wollte die aufmüpfige Schülerin ergänzen, wurde von ihrem Lehrer jedoch barsch unterbrochen.

    »Die Form des Kleidungsstücks spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, denn der Prophet spricht eindeutig von der Verhüllung des Kopfes und des Gesichts. Oder ziehst du das etwa in Zweifel?«

    Sheliza senkte einen Moment lang ihren Blick, demütig, wie es dem Propheten gefiel. Doch schon hob sich ihr Antlitz erneut, schaute den Lehrer und Imam aus dunkelbraunen Augen stürmisch zwingend an.

    »Aber der Prophet verwendet doch das Verb udina, und das bedeutet doch gar nicht verhüllen oder über sich ziehen, sondern bloß nahebringen? Und Mohammed verspricht sich von der Djilbab vor allem, dass man die Frauen damit leichter erkennen kann, damit sie nicht belästigt werden. Vielleicht wollte der Prophet mit seiner Anweisung bloß erreichen, dass man die Frauen schon von Weitem an ihrer Figur, von ihrer Körperform her, erkennen kann?«

    Die Augen des Lehrers hatten sich geweitet und er staunte das freche Mädchen einen Moment lang fassungslos und mit offenem Mund an.

    »Wie kannst du es wagen, die Worte des Propheten nach deinem Gutdünken auszulegen? Und wie kannst du an der viele Jahrhunderte alten Auslegung der Verse zweifeln? Denn schon immer galt das Gebot der Verschleierung, schon zu Lebzeiten von Mohammed, dem Propheten Allahs.«

    Die so zornig gesprochenen Worte von al-Barani verfehlten die von ihm erwartete Wirkung. Sie erzeugten bei der Empfängerin bloß ein Stirnrunzeln, das ihr auch noch ausgesprochen gut ins Gesicht stand, wie dem Lehrer bewusstwurde. Er würde sich für diesen unliebsamen Gedanken später hassen.

    »Sie beziehen sich bestimmt auf die Auslegung des Verses durch Abd Allāh ibn ʿAbbās, Herr Lehrer. Doch der war doch Richter und gar kein Schriftgelehrter.«

    »Jedoch ein Vetter des großen Propheten, du naseweises Kind. Und er trägt den Beinamen habr al-umma, Gelehrter der Umma. Auch hat Mohammed seiner Auslegung des Verses nie widersprochen. All das wüsstest du, wenn du die Schriften besser studiert hättest.«

    »Aber Herr Lehrer, der Titel von Abd Allāh ibn ʿAbbās lautete nicht habr al-umma al-islāmīya. Und so war er nur ein weltlicher Richter, kein geistlicher…«, verteidigte sich die Vierzehnjährige gekonnt, schien nun ebenso aufgebracht wie ihr Lehrer.

    »Willst du etwa den Zorn Allahs auf dich lenken, Unglückliche?«, herrschte der sie nun mit zornig funkelnden Augen an. Doch die Wut erlosch in ihnen ebenso rasch, wie sie darin hochgekocht war, »aber ich will mich nicht mit dir streiten, dummes Kind«, fuhr er sanfter fort, »denn du findest die erklärenden Anweisungen des Propheten auch in Sure 24 im Vers 31. Dort steht geschrieben, die Frau müsse ihre Augen vor dem Blick der Männer senken, um keusch zu bleiben. Und vergiss nicht Sure 33 Vers 53. Dort wird der Frau direkt befohlen, einen Gesichtsschleier zu tragen, wenn sie mit fremden Männern spricht.«

    »Das stimmt doch alles gar nicht«, reklamierte die streitbare Sheliza erneut, »denn in Sure 24 Vers 30 wird den Männern ebenso befohlen, ihren Blick vor jeder Frau zu senken, um keusch zu bleiben. Der große Prophet hat also beide Geschlechter auf exakt dieselbe Weise ermahnt und nicht einseitig den Frauen die Bürde der Verhüllung auferlegt. Und Sure 33 Vers 53 bezieht sich ausschließlich auf den persönlichen Haushalt des Propheten Mohammed, denn er beginnt mit den Worten, betretet nicht die Häuser des Propheten. Außerdem gilt die Anweisung gar nicht seinen Frauen, sondern den männlichen Besuchern, denn er befiehlt ihnen, sich nur durch einem Hijab die Gattinnen anzusprechen. Und ein Hijab ist doch ein Vorhang und bestimmt kein Gesichtsschleier. Mohammed verlangt im Vers 53 ausdrücklich, dass die männlichen Besucher ihre Augen vor seinen Frauen zu verhüllen haben und nicht umgekehrt.«

    Mohammed al-Barani stand wie betäubt einen Moment lang sprachlos da und stierte seine Widersacherin aus weit geöffneten, wieder zornig funkelnden Augen an. In seinem Kopf schwirrte jedoch die Gedanken wie Nebelfetzen. Sie summten wie die Bienen im Stock, ließen ihn keinen Ausweg erkennen. Doch dann erkannte der Lehrer die neugierigen Blicke all der anderen Schülerinnen seiner Klasse, wie sie ihn teilweise fragend, meist jedoch amüsiert oder gar spöttisch betrachteten. Sie sahen in ihm wohl bereits den Wurm am Haken der Angel dieser verdammten Vierzehnjährigen. Das machte ihn vollends wütend.

    »Du vergisst den Rest der Sure 24, Vers 31, Sheliza, wo der Prophet uns erklärt: Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Augen niederschlagen, und ihre Keuschheit bewahren, den Schmuck, den sie tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht sichtbar ist, ihren Schal sich über den Ausschnitt ziehen und den Schmuck, den sie tragen, niemandem offen zeigen.«

    Sein Redeschwall war wie die Befreiung aus dem Dunkel, wie das Sprengen von Ketten. Doch die verhasste Sheliza ergänzt nun den Rest des Verses, lächelte dazu spöttisch: »…außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen, ihren Sklavinnen, den männlichen Bediensteten, die keinen Geschlechtstrieb haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen.«

    Einige der Mädchen kicherten wiederum los, sehr zum Missfallen des Lehrers, der sie darum mit strafenden Blicken bedachte, was die Klasse rasch verstummen ließ.

    »Doch was hat der Prophet mit Ausschnitt gemeint, den man bedecken soll? Und was mit den weiblichen Geschlechtsteilen…?«, fuhr die Vierzehnjährige unerbittlich fort. Doch noch bevor Sheliza weitere Erklärungen abgeben konnte, schnitt ihr der Lehrer das Wort ab.

    »Wage es ja nicht, noch weitere solch sündige Worte von dir zu geben, Unglückliche«, schrie er sie an, »verschone uns mit deinen frevlerischen Gedanken über die heiligen Worten Allahs. Sonst stürzen sie dich für alle Zeiten ins Unglück.«

    Erschrocken hatte Sheliza innegehalten, starrte ihren Lehrer verblüfft und mit flackerndem Blick an, hatte al-Barani noch nie so aufgebracht und zornig erlebt. Die Vierzehnjährige begann sogar leicht zu zittern, konnte ihre Finger nicht mehr ruhig halten.

    »Schweig jetzt, Mädchen, und ihr alle geht nun nach Hause. Es ist längst Mittagszeit. Dir jedoch, Sheliza, verbiete ich jede weitere Unterhaltung mit deinen Freundinnen auf dem Schulweg. Kehre schweigend in das Haus deines Vaters zurück und kündige ihm meinen Besuch für heute Nachmittag an. Ich komme gleich nach Schulschluss zu ihm, so gegen fünf Uhr. Denn ich muss ihn über dein respektloses Verhalten in der Klasse aufklären.«

    Der Kopf der Vierzehnjährigen senkte sich zwischen ihre Schultern, schien darin Schutz zu suchen. Nicht vor Angst vor ihrem Vater, der sich stets die Zeit genommen hatte, um mit ihr zu diskutieren, der ihr immer das Gefühl gab, dass auch ihre Meinung für ihn wertvoll war und dass sie für ihre Rechte und ihre Überzeugungen eintreten und kämpfen sollte. Auch ihre Mutter war stets sanft zu ihr gewesen, hatte großes Verständnis für ihre Zweifel und ihr Unbehagen gegenüber ihrem Glauben aufgebracht, gerade in den letzten Monaten, als ihr Busen zu wachsen begonnen hatte und auch ihr Schamhaar dunkler und kräftiger sprießte und Sheliza ihr endlich entsprechende Fragen zu stellen begann.

    Doch Mohammed al-Barani war ihr Lehrer und damit die wichtigste Person für ihr künftiges Leben, jedenfalls was ihre weitere Ausbildung betraf. Er besaß die Macht, sie mit seiner Unterschrift an die nächsthöhere Schule einzuweisen. Er konnte sie ihr aber auch verweigern. Sheliza war eine ausgesprochen gute Schülerin, wollte später auf jeden Fall an einer guten Universität studieren, vielleicht Medizin oder doch eher Rechtswissenschaften, sie wusste es noch nicht. Aleppo oder Homs waren ihr Ziel, nur möglichst weit weg von dieser furchtbar rückständigen Gemeinde in der Provinz Deir ez-Zor, wo manchmal noch Steine aus dunklen Gassen geflogen kamen, wenn eine Besucherin aus der Hauptstadt oder aus dem Westen ohne Kopftuch über den Marktplatz ging.

    Keine ihrer Kameradinnen sprach sie auf dem Nachhauseweg an. Sie alle mieden ihre Nähe, verließen in kleinen, lebhaften Gruppen den Schulhof, blickten nur manchmal verstohlen zu ihr hinüber. Aber auch Sheliza versuchte nicht, sich jemandem anzuschließen, auch wenn sie sich in diesen Minuten sehr einsam fühlte, als hätte man sie in ein dunkles Verließ gestoßen, als hätte man sie aus dieser Welt entfernt.

    Ihre Schritte wurden länger und immer rascher, getrieben von der Ungewissheit, was der Besuch des Lehrers in wenigen Stunden für ihr weiteres Leben bedeuten konnte. Sie hatte den Zorn in seinem Gesicht gesehen, die riesige Wut in seinem Bauch gespürt. Nein, Mohammed al-Barani würde ihren Vater heute Nachmittag wohl nicht als Lehrer besuchen, sondern als Imam seiner sunnitischen Gemeinde. Und er würde ihren Vater in die Pflicht nehmen. Darüber wurde sich Sheliza immer klarer.

    Die letzten fünfzig Meter rannte die Vierzehnjährige auf das offene Tor zum Hof ihrer Eltern zu, passierte den steinernen Bogen, erkannte im selben Moment Onkel Jussuf, wie er mit einer Karre Mist aus dem Stall trat und im Licht der gleißenden Sonne zu ihr hinüber blinzelte und verharrte. Und so blieb auch sie stehen und spürte erst in diesem Moment, dass sie am ganzen Körper schlotterte, dass sie keuchend um Atem rang, dass ihre Unterlippe zuckte und vibrierte, ob vor Aufregung oder vor Anstrengung. Und sie sah immer noch atemlos zu, wie Onkel Jussuf aufmerksam zu ihr hinüber spähte, dann den Karren absetzte und nun auf sie zu eilte.

    »Was ist denn passiert, Mädchen?«, fragte ihr Großonkel besorgt und blickte sie aus ernsten Augen forschend an, »war was in der Schule? Oder auf dem Heimweg? Warum bist du so gerannt? Sprich doch, Mädchen.«

    Sheliza schluchzte auf, spürte die sorgenvolle Wärme aus der Stimme ihres alten Onkels, fühlte die Geborgenheit der Mauern des elterlichen Anwesens, sah die schwarze Katze, die wie so oft auf der Türschwelle zum Wohnhaus lang ausgestreckt lag und schlief, auch die fünf Ziegen unter dem Vordach, die an ihrer Futterkrippe Strohhalme zupften und kauten und nun neugierig geworden zu ihnen hinüber spähten, ohne dass sie Anstalten gemacht hätten, den kühlenden Schatten zu verlassen.

    »Es ist nichts, Onkel Jussuf«, stammelte das Mädchen endlich los, »bloß ein Streit. Mit meinem Lehrer.«

    »Ein Streit mit Mohammed al-Barani?«, die Stimme ihres Onkel klang überrascht und beruhigt zugleich, beinahe schon amüsiert, »worüber hast du denn mit dem alten Mohammed gestritten, Mädchen?«

    »Unser Lehrer verlangt, dass wir ab morgen ganz verhüllt zur Schule kommen. Nicht nur mit Kopftuch, sondern auch mit Schleier. Sonst will er uns nicht länger unterrichten. Kannst du dir das vorstellen, Onkel Jussuf? Er verlangt, dass wir den Niqab anziehen und von nun an unsere Gesichter vor aller Welt verbergen.«

    Der alte Jussuf schwieg, wiegte nur leicht seinen Kopf hin und her, strich dann der Vierzehnjährigen mit seiner schwieligen Hand tröstend über das Haar.

    »Das ist nun mal so, hier auf dem Land. Das ist Tradition, verstehst du, Mädchen? Gegen die Tradition kannst du dich nicht auflehnen, Sheliza.«

    Das Mädchen schüttelte stumm, jedoch ablehnend ihren Kopf.

    »Sieh es doch als eine Prüfung an, als ein Zeichen von Allah, ihm wohlgefällig sein. Allah ist groß«

    »Groß ist Allah und Mohammed sein Prophet«, ergänzte das Mädchen leise murmelnd und wie selbstverständlich, trat dann einen Schritt vom Großonkel zurück.

    »Ich muss meinen Eltern mitteilen, dass mein Lehrer heute Nachmittag hierherkommt, um mit meinem Vater zu sprechen.«

    Jussuf sah seine Nichte bitter an.

    »War der Streit denn so schlimm?«

    Sie zuckte mit ihren dünnen Schultern, seufzte erneut.

    »Nimm es nicht allzu schwer, Sheliza. Jeder Sandsturm legt sich irgendwann einmal und die Sonne erobert sich den Himmel zurück. Allah ist groß…«

    »…und Mohammed sein Prophet«, murmelte sie geistesabwesend.

    Langsam ging die Vierzehnjährige hinüber zum Hauseingang, wo die Katze immer noch auf der Schwelle döste. Doch die schlurfenden Schritte des Mädchens ließen sie nun aufschrecken. Misstrauisch betrachtete das Tier die Hausbewohnerin, schien zum Sprung bereit, um sich jeder Annäherung zu entziehen. Jussuf starrte seiner Großnichte hinterher, nachdenklich und auch ein wenig traurig geworden. Er kannte die moderne Haltung seines Neffen in Glaubensfragen. Der hatte auch sein halbes Leben in Damaskus verbracht und sogar die weite Welt besucht. Selbst seine Ehefrau Irina war weit gereist, hatte China und Indien gesehen. Ja, das waren moderne, junge Menschen, nicht mehr im alten Geist gefangen, so wie er und die meisten seiner Nachbarn und Freunde in dem kleinen Provinznest nahe der Grenze zur Türkei. Die Zeit würde bestimmt auch hier für Veränderungen sorgen. Nur jetzt noch nicht.

    Wenn man zur Dorfgemeinschaft dazugehören wollte, musste man sich der Tradition fügen und sie respektieren. Selbst der Kopftuchzwang war zwar in ganz Syrien offiziell längst aufgehoben, doch wen scherte das hier in al-Busayrah? Hier lebte man so, wie die Väter und Großväter und mit der stolzen islamischen Tradition. Jedes Mädchen im Dorf musste das einsehen und sich fügen, selbst Sheliza, sein kleiner Liebling. Alles andere störte bloß die dörfliche Ruhe und streute Unfrieden zwischen die Menschen. Auch wenn der alte Jussuf den Lehrer und Imam al-Barani nicht besonders gut mochte, letztendlich hatte dieser doch die guten Sitten und die Tradition auf seiner Seite stehen und seine Forderung nach Verhüllung der Gesichter geschlechtsreifer Mädchen war sinnvoll und friedensstiftend. Nur so war die Sünde aus den Köpfen der jungen Männer zu halten.

    Jussuf ging wieder hinüber zum Karren mit der Ladung Mist. Sie schien schwerer geworden zu sein, als er sie anhob und seinen Oberkörper gleichzeitig nach vorne neigte, um dem Karren etwas Schwung zu verleihen. Doch die Arbeit war ihm stets etwas Wunderschönes gewesen, denn sie lähmte den Geist, brachte jedem Frieden. Allah ist groß.

    Während dessen hatte sich Sheliza im Flur die Schuhe von den Füssen gestreift und war in ihre Haussandalen geschlüpft, hatte danach das modern eingerichtete Badezimmer aufgesucht, ihre Blase entleert, die auf einmal überquellen wollte, sich danach Hände und Gesicht gründlich gewaschen. Das kühle Wasser hatte sie erfrischt und ihr neuen Mut verliehen. Noch vor dem Abtrocknen sah sie sich im Spiegel an, blickte in ein tropfnasses Gesicht mit feuchten, klebrigen Haarsträhnen an Stirn und Schläfen, erkannte den bitteren Zug um ihre Mundwinkel und auch die Sorgen in ihren Augen. Tief atmete sie ein, die Vierzehnjährige, schaute sich ihr Spiegelbild unverwandt an, schien es zu studieren. Was brachten wohl die nächsten Stunden für sie und ihr weiteres Leben? Wie würde ihre Mutter reagieren, wenn sie vom Streit mit dem Lehrer erfuhr? Was würde ihr Vater sagen?

    Ein schlechtes Gewissen begann sich in ihrer Brust zu melden, vielleicht aus Sorge um ihre Zukunft, vielleicht aus Angst, ihre Eltern stünden nicht mehr hinter ihr. Aber hätte sie etwa nachgeben sollen? Al-Barani nicht widersprechen, auch wenn er falsch lag? Entgegen ihrer Erziehung durch den verehrten Vater und die geliebte Mutter?

    Trotz stieg erneut in ihr hoch, derselbe wilde Zorn, der sie auch im Klassenzimmer ergriffen und zusätzlich angestachelt hatte. Oft schon war sie von ihrer Mutter seinetwegen gescholten worden. Sei nur nicht zu stolz, Sheliza, hatte sie mehr als einmal zu ihr mahnend gesagt, aber auch, Arroganz zahlt sich niemals aus, mein Mädchen. Doch besaß sie etwa kein Recht auf die eigene Meinung? Sheliza spürte den Zorn noch stärker hoch kochen, eine Wut auf die ganze Welt der Erwachsenen und wie sie zu funktionieren schien, wo Kinder und Jugendliche nur zu gehorchen hatten, sich der Traditionen unterordnen mussten, keine Stimme besaßen, keinen eigenen Willen. Sie schluchzte und schniefte, wischt sich mit dem Handrücken über die Nase, bekämpfte ihren Zorn, rang ihn schließlich nieder und verdrückte die Tränen, die sich in ihre Augen schleichen wollten.

    Sie musste kühl bleiben, ihren Eltern den Sachverhalt ehrlich und offen erklären. Sie würden sie bestimmt verstehen und zu ihr halten. So hoffte die Vierzehnjährige wenigstens.

    Ihre Augen wurden erneut feucht, denn sie durchfuhr ein riesengroßer Schrecken. Was war, wenn sie die Schule ab morgen gar nicht mehr besuchen durfte? Wenn sie der Lehrer einfach ausschloss? Würde sie dann so enden wie Martha, die Frau eines ihrer Knechte?

    Martha war ungebildet, hatte als Kind keine Schule besuchen dürfen, konnte weder Schreiben noch Lesen, plapperte bloß all das meist völlig falsch nach, was sie in der Moschee von den Imamen vernommen hatte, spielte sich damit vor anderen auf, machte sich wichtig. Das war bestimmt nicht im Sinne Allahs. Martha legte auch stets den Tschador an, wenn sie den Hof verließ und ins Dorf ging, hatte ihr auch schon mehrmals dasselbe angeraten, sich endlich züchtig und sittlich zu kleiden, manchmal mit süßer, lockender Zunge, meistens jedoch mit drohender Stimme. Sie würde als Hure enden, hatte Martha gesagt, als dreckige, kleine Hure, wenn sie weiterhin unschicklich herumliefe. Sie schaute sie dabei mit einem lodernden und alles durchdringenden Blick an, so richtig fanatisch, dass ihr angst und bange wurde. Später, als sie es der Mutter erzählte, war Martha heftig ausgescholten worden, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte und ihre Kinder in Ruhe lassen.

    Ja, Mama würde bestimmt zu ihr halten.

    Oder doch nicht?

    Auch sie trug seit ein paar Monaten stets ein Kopftuch, wenn sie das Haus verließ.

    »Man muss sich den Leuten und der Gemeinde anpassen«, hatte sie leichthin ihre Frage beantwortet, »und so ein buntes Tuch kleidet mich doch ausgesprochen gut?«

    Das war nicht ehrlich gemeint gewesen, hatte ihr der traurige Blick ihrer Mutter verraten.

    Hoffentlich war Mama auf ihrer Seite.

    Und hoffentlich flog sie nicht von der Schule.

    Verunsichert ging Sheliza den Flur entlang und auf die Türe zur Küche zu. Dahinter war die Mutter wohl mit den letzten Vorbereitungen fürs Mittagessen beschäftigt. Das hörte sie deutlich am Scheppern der Pfannen und Töpfe. Nur zaghaft drückte Sheliza die Falle herunter, stieß das Türblatt langsam auf. Was würde sie dahinter erwarten? Verständnis oder Bestrafung?

    Das Herz klopfte ihr hoch bis zum Hals.

    Heimat

    Es war einer der letzten schönen Herbsttage am Lac Léman. Die Sonne hatte den Morgennebel vertrieben, glitzernd breitete sich das dunkelblaue Wasser unter ihren Strahlen aus, verschmolz in der Ferne mit dem Ufer und den schattigen Höhen der Alpenkette.

    Jules Lederer spielte ausgelassen mit seiner Tochter Alina im Garten. Er war der Torwart, sie die Artistin im Penaltyschießen. Das Tor bestand aus der Gartenbank und der Schubkarre als Torpfosten, dazwischen lag ein Abstand von gut drei Metern. Und selbst die regelkonformen elf Meter waren zu mickrigen vier zusammengeschrumpft. Der noch feuchte Rasen hinderte die beiden allerdings am hohen, körperlichen Einsatz. Alina holte kaum Anlauf und Jules hütete sich, nach einem zu gut platzierten Plastikball zu hechten, ließ sich lieber das eine oder andere Mal von seiner Tochter schlagen. Höhere sportliche Ambitionen von Vater und Tochter wurden zudem auch noch von ihren anhaltenden Lachanfällen behindert. Alina wie Jules konnten hinterher kaum erklären, was eigentlich der Anlass für ihre ausgelassene Fröhlichkeit gewesen war. Gut, der eine Ball, hart getreten von Alina, spritzte von der Ecke der Gartenbank direkt an die Stirn von Jules, hinterließ auf ihr einen dreckigen Schmier und in seinem Gesicht einen äußerst verblüfften Ausdruck. Alina hatte losgeprustet und Jules stimmte wenig später ein.

    »Du … wolltest dich … doch … nicht … im Schlamm … wälzen, ... Papa ...«, stieß die Kleine zwischen ihren Lachattacken hervor. Ihr Gelächter drang durch das offene Fenster in die Küche, wo Alabima Vorbereitungen fürs Mittagessen traf, die frischen Scampi vom Markt in Lausanne am Küchentisch sitzend ausnahm, sie dazu aufschnitt und den Darm umsichtig entfernte. Den Kohlrabi hatte sie zuvor schon geschält und in kleine Würfel geschnitten. Er köchelte munter in einer Pfanne auf dem Herd vor sich hin. Weich gekochter Kohlrabi an einer würzigen Frischkäse-Kräuter-Soße, dazu gegrillte Scampi, nur mit einer Prise Meersalz und ein wenig schwarzem Pfeffer abgeschmeckt. Einfach und schmackhaft, leicht und bekömmlich.

    Alabima stand auf und warf einen Blick hinaus in den Garten, sah Jules direkt ins Gesicht und wie er gespielt grimmig den nächsten Torschuss seiner Tochter einforderte. Und sie betrachtete Alina von hinten, wie sie vor lauter Lachen neben den Ball in die Luft trat und vom Schwung getrieben ausglitt und auf ihrem Hosenboden landete, mitten in den Match hinein, den ihre Sportschuhe durch das Treten auf nassem Rasen zuvor angerichtet hatten.

    »He, ihr beiden«, rief sie ihnen laut zu, »Laurel und Hardy sind wohl auferstanden? In einer halben Stunde gibt’s Mittagessen. Kommt rechtzeitig rein, ihr Schmutzfinken, und wascht euch gründlich.«

    Beide winkten ihr fröhlich zu, Jules lächelnd, Alina sich immer noch vor Lachen kugelnd.

    Alabima setzte sich wieder und nahm die letzten beiden Scampi aus, legte sie neben die anderen aufs Tablett, betrachtete ihre Hände mit den feingliedrigen Fingern und den nur halblangen Nägeln, die nach einer Maniküre verlangten. Die Äthiopierin sandte ein stilles Dankgebet gen Himmel. Wie hatte sich Jules doch in den letzten Wochen verändert, war aus seiner Erstarrung erwacht, erschien ihr wieder lockerer, gelöster, hatte auch seine über viele Monate anhaltenden nächtlichen Angstattacken abgelegt, lag meistens ruhig neben ihr im Bett, war auch so zärtlich zu ihr wie kaum je zuvor. Sie liebten sich fast jeden Tag, inniger und vertrauter als früher, sanfter und einfühlsamer. Ja, Alabima war eine überaus glückliche Ehefrau und Mutter. All die dunklen Wolken der letzten beiden Jahre schienen endgültig verflogen, hatten sich wie der Regenschauer von letzter Nacht gelegt, ließen die Zukunft in einem strahlenden Licht erscheinen. Vergessen war auch ihr Abenteuer in Hongkong und all die Gefahren, in der sie mit ihrer Tochter damals schwebte. Oder zumindest hatte sie die Gedanken daran erfolgreich verdrängen können.

    Auch Dr. Grey, die Psychologin aus Lausanne, zu der Jules seit mehr als einem Jahr jede Woche für eine Stunde zum Gespräch hinging, hatte die Fortschritte ihres Klienten zufrieden festgestellt, hatte ihn darin bestärkt, auf dem eingeschlagenen Weg mutig weiter zu gehen und nicht zurückzublicken, sondern nur vorwärts zu schauen. Selbst Jules gestand sich ein, dass all das Böse in ihm, das ihn seit Mexiko verfolgt und beständig gequält hatte, seit seiner Aussprache mit Alabima verschwunden schien, ihn zumindest nicht mehr in der Nacht überfiel, ihn nicht länger drangsalierte und vom Leben abschnitt. Und so glaubte auch der Schweizer mittlerweile an eine vollständige Heilung seiner Seele.

    Die Äthiopierin stand vom Küchentisch auf und trug das Tablett mit den Scampi hinüber zum Spülbecken, wusch sie gründlich aus und tupfte sie mit Küchenpapier trocken, ging mit ihnen zum Herd, zog eine Bratpfanne aus dem Schrank, stellte sie auf die Platte, drehte am Regler, worauf sich die Gasflamme mit einem »Plopp« entzündete und blaue Flammen nach dem Metallboden zu lechzen begannen. Sie holte die Flasche mit Rapsöl hervor und stellte sie neben dem Herd bereit.

    Die Türklingel ging und Alabima warf einen kurzen, prüfenden Blick zur Pfanne mit dem köchelnden Kohlrabi, drehte die Gasflamme etwas niedriger, ging aus dem Küche und auf den Flur und hinüber zum Bildschirm der Überwachungskamera, drückte den Verbindungsknopf, schaute erwartungsvoll auf die Scheibe. Doch als die Aufnahme vom Torbereich an der Hauptstraße angezeigt wurde, stockte ihr das Herz für einen Moment und sie trat erschrocken einen Schritt zurück, hob ihre Arme, hatte ihre Hände zu Fäusten geballt, drückte sie gegen ihre Kehle, konnte kaum glauben, wen sie dort längst erkannt hatte. Ein chinesisches Vollmondgesicht starrte in die Kamera, versuchte ein Lächeln, lieferte jedoch nur ein schräges, verunsichertes Grinsen.

    »Hallo?«, meldete sich die Stimme des Mannes klar über den Lautsprecher, »mein Name ist Fu Lingpo. Ist Misses Lederer zu Hause?«

    *

    Eine neue Flüchtlingsgruppe aus Syrien traf an diesem Nachmittag in Mor Gabriel ein. Das orthodoxe Kloster, im 3. Jahrhundert nach Christus gegründet, war um einige hundert Jahre älter als der heute hier alles beherrschende Islam. Das Kloster leitete aus diesem Umstand heraus auch besondere Rechte für sich ab, sehr zum Missfallen der örtlichen Behörden und der Mehrheit der Bevölkerung. Mor Gabriel gehörte zu den letzten Bastionen des Christentums im tiefsten Süden der Türkei, wurde noch von zwei Dutzend Nonnen und einer Handvoll Mönche bewohnt.

    Timotheus, der Erzbischof und Metropolit, empfing die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nachbarland persönlich, blickte in viele erwartungsvolle, aber auch in verängstigte oder leere Gesichter, in glücklich angekommene und ratlose vertriebene. Er breitete seine Arme weit aus, empfing die Menschen mit einem warmen »as-salāmu ʿalaikum«, worauf mehrheitlich ein eher schüchtern ausgesprochenes » wa-ʿalaikum us-salām« oder auch nur ernstes Kopfnicken zurückkamen.

    Menschen stiegen von den beiden Lastwagen herunter, trugen Bündel und Koffer mit sich, Taschen und auch zusammengeknüllte Plastiksäcke unter ihren Armen. Das war das Wenige, das ihnen der Bürgerkrieg gelassen hatte, ihre letzte Habe, den Rest ihrer Heimat und womöglich ihrer Würde.

    Die riesige Klosteranlage beherbergte bereits mehr als einhundert syrische Flüchtlinge. Doch der Platz war längst noch nicht erschöpft, eher noch die Arme und Hände der wenigen Mönche und Nonnen, die hier noch lebten, beteten und arbeiteten, ihre Seele und ihre Jahre ihrem Gott weihten und dereinst glücklich, weil erfüllt, sterben durften. Selbstverständlich packten die geflüchteten Syrer auch mit an, halfen bei der Ernte auf den Gemüsefeldern, in der Küche oder bei der Wäsche. Doch alles musste erst organisiert und überwacht sein, angeleitet und entschieden. Und so übernahmen sich vor allem die älteren Brüder und Schwestern regelmäßig, kämpften bis zu ihrer völligen Erschöpfung, sanken mehr tot als lebendig und oft erst tief in der Nacht auf ihre Matratzen, schliefen den kurzen Schlaf der Gerechten, wurden viel zu früh wieder geweckt, wuschen sich behände und warfen sich die Kleider über, stürzten erneut in die Schlacht, in die sie ihr Gott von einem Tag auf den anderen geführt hatte.

    Viele der ankommenden jüngeren Kinder wirkten sehr verschüchtert, ja ängstlich, hatten das Knallen der Schüsse, das Donnern der Bomben, das Schreien der Menschen immer noch in ihren Ohren, sahen Bilder der Zerstörung in ihrem Kopf, wurden vom Anblick toter Menschen auf den Straßen gequält. Sie bedurften der besonderen Fürsorge und viele der Klosterfrauen verbrachten die meisten Stunden mit den Allerjüngsten, trugen sie im Garten herum, zeigten ihnen die Schönheiten der Natur, lenkten sie mit kindlichem Spiel von der schrecklichen Welt der Erwachsenen ab.

    Die syrischen Flüchtlinge waren größtenteils Schiiten, fast ebenso viele jedoch Sunniten. Die wenigen Alawiten unter ihnen fühlten sich von den beiden anderen Gruppen eher bedroht, hielten sich deshalb weitgehend zurück, mieden jeden unnötigen Kontakt zu ihnen und blieben meist unter sich. Timotheus ließ das alles zu. Denn die Zeit der Verständigung lag in weiter Ferne. Und die Zeit der Versöhnung noch sehr viel weiter.

    Ein junges und hübsches Mädchen fiel dem Abt von Mor Gabriel besonders auf. Sie ging mit einem alten Mann, der vorsichtig von der Ladefläche des Lasters geklettert war und nun hinkend und aufgestützt auf das halbwüchsige Kind langsam näherkam. Viele der anderen Flüchtlinge warfen dem Paar recht böse Blicke zu, drängten sich an ihnen vorbei, schienen sogar böse Worte gegen sie auszustoßen, leise zwar, so dass sie nicht bis an die Ohren des Abtes drangen. Doch die hässlichen und bitteren Fratzen, die sie dabei zogen, waren ihm Beweis genug. So trat der Abt den beiden verfluchten Ankömmlingen ein paar Schritte entgegen. Diese hatten ihn längst zwischen den anderen Mönchen und dem Dutzend Nonnen als Hausherrn erahnt, wirkten unter seinem freundlichen Blick ein

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